Würde und Bürde der jüdi­schen Differenz

Gekürzte Form eines Vor­trags in Frank­furt am 18.11.2024 im Rah­men der Kon­fe­renz „Jüdi­sches Leben in Deutsch­land im Span­nungs­feld zwi­schen Anpas­sung und Autonomie“

 

„Jude­s­ein gehört für mich zu den unbe­zwei­fel­ba­ren Gege­ben­hei­ten mei­nes Lebens und ich habe an sol­chen Fak­ti­zi­tä­ten nie­mals etwas ändern wol­len. Eine sol­che Gesin­nung grund­sätz­li­cher Dank­bar­keit für das, was ist, wie es ist, gege­ben und nicht gemacht, physei und nicht nomoi ist präpolitisch …“

Han­nah Arendt

Ich spre­che hier von Israel aus nach Deutsch­land. Mein Vor­trag geht aus die­sen Bruch­li­nien her­vor. Es sind auch die Bruch­li­nien des Bür­gers eines Staa­tes, der die Moderne aus einer ande­ren Per­spek­tive betrach­tet als die­je­ni­gen, die hier in Deutsch­land leben. Die­ses Den­ken zeigt die Bruch­li­nien zwi­schen Israel und Deutsch­land, aber auch die Bruch­li­nien zwi­schen dem Jüdi­schen und Nicht­jü­di­schen. Mein Blick ist ein jüdi­scher Blick aus Israel. Israel hat sich nie als uni­ver­sa­les Pro­jekt ver­stan­den. Israel ist die par­ti­ku­lare jüdi­sche Lösung für ein par­ti­ku­la­res jüdi­sches Pro­blem. Diese Span­nung der Moderne, die Span­nung zwi­schen dem All­ge­mei­nen und dem Spe­zi­fi­schen, macht sich an der Gegen­wart der Juden fest. Anti­se­mi­tis­mus, ob ein Gefühl, ein Res­sen­ti­ment, eine Hal­tung, ein Gerücht oder gar nur ein Ste­reo­typ oder Vor­ur­teil über eine bestimmte soziale und kul­tu­relle Gruppe, die Juden genannt wird, ist Teil der glo­ba­len Moderne. Anti­se­mi­tis­mus ist keine Unstim­mig­keit der Moderne, die durch Auf­klä­rung beho­ben wer­den kann. Anti­se­mi­tis­mus ist Teil der Auf­klä­rung. Und ich will des Wei­te­ren erör­tern, warum das so ist. Wer sind diese Juden und Jüdin­nen, denen so vie­les übel genom­men wird? Sind es kon­krete Men­schen, die als Juden oder Jüdin­nen gebo­ren wur­den? Oder sind Juden und Jüdin­nen Meta­phern und ste­hen für etwas anderes?

Ich möchte das durch ein Bild erläu­tern. „Die unbe­kannte Welt nebenan.“ So titelt der Spie­gel im April 2019 sein Son­der­heft über jüdi­sches Leben in Deutsch­land. Zwei Her­ren im bes­ten Alter, in ein Gespräch ver­tieft, schauen sich an und reden, die Welt um sie herum scheint sie nicht zu inter­es­sie­ren. Eine gewöhn­li­che All­tags­szene? Ganz im Gegen­teil. Die bei­den sind nicht Teil der Welt. Sie schei­nen die Wirk­lich­keit zu igno­rie­ren und sind ganz auf sich selbst bezo­gen. Sie tra­gen abge­wetzte Klei­dung und Schuhe, Äußer­lich­kei­ten inter­es­sie­ren sie offen­bar nicht. Im Hin­ter­grund ist der Haus­ein­gang ver­mut­lich einer Ber­li­ner Straße zu erken­nen, dar­über geblen­det ein gro­ßer David­stern. Das Foto macht sie sicht­bar. Darum geht es. Die bei­den sind unver­kenn­bar Juden, soge­nannte „Ost­ju­den“, Juden also, die aus Ost­eu­ropa nach Deutsch­land ein­ge­wan­dert sind, um dort zu blei­ben, was dann auch ein Pro­blem für andere, weni­ger sicht­bare Juden wird. Denn diese Juden waren in der Tat erkenn­bar anders. Mit dem Begriff „Ost­jude“ im Gegen­satz zu den unsicht­ba­ren „West­ju­den“, die geglaubt hat­ten, in eine neue Welt auf­ge­bro­chen zu sein, ver­bin­det sich Sicht­bar­keit, Tra­di­tion, Rück­schritt, Par­ti­ku­la­ris­mus. Das mag auch der Blick des Foto­gra­fen gewe­sen sein. Sie sind deut­lich anders als die­je­ni­gen Juden und Jüdin­nen, die Teil wer­den wol­len, die bekannt wer­den wol­len. Damals wie heute müs­sen sie sich von Nicht­ju­den und Juden anhö­ren, dass sie in Spra­che, Klei­dung sowie Riten und Gebräu­chen par­ti­ku­lar blei­ben wol­len, dass sie rück­stän­dig sind, anders als viel­leicht der weise Nathan oder sein bekann­tes Vor­bild Moses Men­dels­sohn. Sie sind in einem Stam­mes­den­ken gefan­gen, aus dem man sich eigent­lich befreien sollte. Und nach Maß­stä­ben der auf­ge­klär­ten Moderne sind sie tat­säch­lich rück­stän­dig. In den Augen derer, die sie als Fremde sehen, sind sie keine Euro­päer, son­dern ori­en­ta­li­sche Fremd­linge, Semi­ten, die man nicht nur ableh­nen kann, son­dern zurück­wei­sen muss. Ihre Sicht­bar­keit macht sie ver­letz­lich. Ihre offen prak­ti­zierte Reli­gio­si­tät, ihre tra­di­tio­nelle Klei­dung, ihre Wohn­ver­hält­nisse ver­wei­sen auf wei­tere Unter­schei­dun­gen des Fort- und Rück­schritt­li­chen. Die Sicht­bar­keit die­ser Merk­male löst bei ande­ren, unsicht­ba­ren Juden, den Nach­fol­gern des wei­sen Moses Men­dels­sohn, der selbst noch ein sicht­ba­rer Jude war, fast Panik aus. Diese glau­ben, im öffent­li­chen Raum ihren Par­ti­ku­la­ris­mus beherr­schen und kon­trol­lie­ren zu kön­nen. Diese Juden und Jüdin­nen sind stolz auf ihre Assi­mi­la­tion, sie füh­len sich ange­kom­men, spre­chen ein kla­res Deutsch, füh­ren Geschäfte, gehen auf Uni­ver­si­tä­ten, schrei­ben Bücher und Zei­tungs­ar­ti­kel, haben Lieb­schaf­ten mit nicht­jü­di­schen Men­schen, fei­ern Weih­nach­ten und fal­len für das deut­sche Vater­land. Man­che kon­ver­tie­ren zum Chris­ten­tum, um auch reli­giös uni­ver­sell zu sein. Sie glau­ben fest an ihre Unsicht­bar­keit als Juden und Jüdin­nen. Sie kön­nen sich auf der Straße bewe­gen, ohne als Juden oder Jüdin­nen erkannt zu wer­den. Sie wol­len mit den Juden auf dem Bild mög­lichst wenig zu tun haben, denn sie ver­ste­hen sich als fort­schritt­lich und auf­ge­klärt. Diese Unsicht­bar­keit aber erweist sich als Illu­sion, die auf dem Irr­glau­ben beruht, unsicht­bare Juden seien sicher vor den Angrif­fen der Nicht­ju­den. Sie glau­ben, dass man, geschützt von einer Tarn­kappe, weni­ger angreif­bar sei.

Viele der Reak­tio­nen auf das Foto sind typisch für den Anti-Anti­se­mi­tis­mus, vor allen die ent­rüs­tete Zurück­wei­sung vie­ler Juden und Jüdin­nen selbst. Juden sähen nicht so aus, heißt das mehr als ver­ständ­li­che Argu­ment. Aber es ist auch ein Punkt, bei dem es sich lohnt, etwas zu ver­wei­len. Juden und Jüdin­nen sol­len so aus­se­hen, wie alle ande­ren Men­schen. Und es stellt sich damit die Frage, warum es so viel Ent­rüs­tung von jüdi­scher Seite über die­ses Foto gab. Warum sind sicht­bar erkenn­bare Juden Kli­schee­vor­stel­lun­gen? Heißt das, dass „unsicht­bare“ Juden dem­nach das Gegen­teil von Kli­schee oder Vor­ur­teil bedie­nen, also „wahre“ und „authen­ti­sche“ Juden sind? Diese Frage geht ins Herz der Auf­klä­rung und der Rolle, die die Juden darin spiel­ten. Natür­lich ver­stehe ich die Ver­su­chung, uni­ver­sell, euro­pä­isch, pro­gres­siv, inklu­die­rend zu den­ken und zu füh­len. Sie ist auch mir nicht fremd. Sie ist aber auch eine Ver­lo­ckung, die in ihrem eige­nen Fort­schritts­ge­dan­ken gefan­gen bleibt.

Und trotz­dem: In die­ser Falle der Auf­klä­rung, der Gleich­heit, ver­langt man von Juden die Unsicht­bar­keit. Sie sol­len sein wie alle ande­ren Men­schen auch. Das ist sehr deut­lich, wenn es um unser jüdi­sches Aus­se­hen geht. Wir sol­len keine Käpp­chen tra­gen. Wir sol­len die Schlä­fen­lo­cken und den Bart rasie­ren. Wir sol­len so reden wie die Gojim, aus­se­hen wie die Gojim, uns bewe­gen wie die Gojim. Das heißt, unsicht­bar wer­den als Juden, mit der Hoff­nung, dass damit auch der Anti­se­mi­tis­mus unsicht­bar wird. Aber das ist ja nicht gesche­hen. Der Anti­se­mi­tis­mus ist nicht unsicht­bar gewor­den, aber die Juden. Und des­we­gen, glaube ich, muss man als ein Gegen­gift wie­der als Jude sicht­bar wer­den. Wie Are­ndt sagte, „wenn man als Jude ange­grif­fen wird, muss man sich als Jude weh­ren“. Darum geht es. Wir müs­sen da etwas tun und mit dem Fin­ger drauf­zei­gen und sagen: Schaut euch das alle an! Man kann Anti­se­mi­tis­mus als Ein­stel­lung nicht ein­fach ver­bie­ten. Da hel­fen auch keine Reso­lu­tio­nen. Dass man anders ist, aber gleich ist, dass man sicht­bar ist und unsicht­bar ist, ist bedro­hend. Und damit muss man leben, glaube ich. Es ist Würde und Bürde zugleich. Man kann als Jude nicht in irgend­ei­ner illu­so­ri­schen Welt leben, in der es kei­nen Anti­se­mi­tis­mus mehr gibt.

Ich glaube, dass Juden in Deutsch­land und nicht nur dort eine ganz klare jüdi­sche Posi­tion ent­wi­ckeln müs­sen, die auto­nom ist. Auto­nom vom poli­ti­schen Dis­kurs um sie herum und auch auto­nom von den pro-paläs­ti­nen­si­schen Demons­tra­tio­nen, auto­nom von pro­gres­si­ven Krei­sen, aber auch auto­nom von rech­ten Natio­na­lis­ten. Als man Juden vor­warf, eine Nation inner­halb einer Nation zu sein, waren sie nicht imstande, sich die­sem Dilemma zu ent­zie­hen. Je mehr sich Juden assi­mi­lier­ten, desto „weni­ger“ waren sie Juden. Aber wenn man sich wei­ter­hin als Jude fühlt und das trotz assi­mi­lier­ter Lebens­weise, dann ist es ein Zei­chen dafür, dass man doch nicht völ­lig assi­mi­liert ist. So ver­hält es sich dann auch mit dem Staat Israel. In Israel ist das Juden­tum nicht mehr eine „raum­lose“ Reli­gion, son­dern ein Volk mit einem Land und Raum, das poli­tisch han­deln muss. Juden in Israel besit­zen poli­ti­sche Frei­heit, die das Dia­spo­ra­ju­den­tum für sich nicht bean­spru­chen kann, das daher oft auf inter­na­tio­nale Schutz­maß­nah­men setzte. Das ist wider­sprüch­lich, denn gleich­zei­tig kann Israel nicht auf­hö­ren, ein Staat der Juden zu sein. Das Rück­kehr­recht erlaubt jedem Juden auf der Welt zu wäh­len, ob er oder sie zu dem israe­li­schen poli­ti­schen Kol­lek­tiv gehö­ren will. Das heißt dann auch, dass der sou­ve­räne Staat Israel sei­nen eth­ni­schen Cha­rak­ter nicht auf­ge­ben kann und sollte, der doch die Grund­lage des Lan­des ist. Ich ver­stehe diese Wider­sprü­che hier sehr gut, denn es sind die mei­nen. Aber die israe­li­sche Wunde ist eine andere Bürde und auch eine andere Würde.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2024-1/2025.

Von |2024-11-29T12:26:54+01:00November 29th, 2024|Antisemitismus, Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

Würde und Bürde der jüdi­schen Differenz

Gekürzte Form eines Vor­trags in Frank­furt am 18.11.2024 im Rah­men der Kon­fe­renz „Jüdi­sches Leben in Deutsch­land im Span­nungs­feld zwi­schen Anpas­sung und Autonomie“

Natan Sznaider ist Professor für Soziologie am Academic College in Tel Aviv-Yaffo.