Weck­ruf an die Gesellschaft

Eine Stu­die aus Nord­rhein-West­fa­len bringt neue Erkennt­nisse über Antisemitismus

Anti­se­mi­tis­mus ist ein gesamt­ge­sell­schaft­li­ches Pro­blem – ein oft ver­wen­de­ter Satz. Doch was genau mei­nen wir eigent­lich damit? Zum einen beinhal­tet der Satz die Auf­for­de­rung an jede und jeden Ein­zel­nen unse­rer Gesell­schaft, gegen Anti­se­mi­tis­mus auf­zu­ste­hen und aktiv vor­zu­ge­hen. Die Bekämp­fung des Anti­se­mi­tis­mus ist nicht die Auf­gabe von Jüdin­nen und Juden, son­dern von uns allen. Denn Anti­se­mi­tis­mus ist mit unse­ren libe­ra­len demo­kra­ti­schen Wer­ten nicht ver­ein­bar. Er ver­letzt die Men­schen­würde, das höchste Gut unse­res Zusam­men­le­bens. Wenn Men­schen Angst haben, offen auf der Straße reli­giöse Sym­bole zu tra­gen, hebrä­isch zu spre­chen oder ihre Kin­der nicht mehr in Schu­len und Kin­der­gär­ten schi­cken, ist dies im nega­ti­ven Sinne ein Grad­mes­ser des Zustan­des unse­rer Demokratie.

Zum ande­ren beinhal­tet der Satz, dass Anti­se­mi­tis­mus in der gesam­ten Gesell­schaft und nicht nur in spe­zi­el­len Milieus zu fin­den ist. Wurde Anti­se­mi­tis­mus in der Ver­gan­gen­heit schnell als rechts­extre­mes Pro­blem dar­ge­stellt, ist man heute wei­ter und benennt die Viel­fäl­tig­keit des Phä­no­mens kla­rer dahin, dass Anti­se­mi­tis­mus an alle Ideo­lo­gien anschluss­fä­hig ist.

Wie gesamt­ge­sell­schaft­lich das Pro­blem ist, haben nicht zuletzt Ergeb­nisse der Stu­die „Anti­se­mi­tis­mus in der Gesamt­ge­sell­schaft von Nord­rhein-West­fa­len im Jahr 2024“, die das Büro der Anti­se­mi­tis­mus­be­auf­trag­ten des Lan­des Nord­rhein-West­fa­len in Auf­trag gege­ben hat, gezeigt. Im Zuge der Stu­die wur­den 1.300 per Quo­ten­ver­fah­ren aus­ge­wählte Per­so­nen in Nord­rhein-West­fa­len face-to-face befragt. Für die nord­rhein-west­fä­li­sche Bevöl­ke­rung kön­nen die Ergeb­nisse auf Grund der Gewich­tung hin­sicht­lich sozio­de­mo­gra­fi­scher und regio­na­ler Ver­tei­lun­gen mit Bezug auf die Gesamt­be­völ­ke­rung als reprä­sen­ta­tiv ein­ge­schätzt wer­den. Es war die erste grö­ßere durch­ge­führte Stu­die nach dem Ter­ror­an­griff der Hamas auf Israel am 7. Okto­ber 2023 und des­sen anti­se­mi­ti­schen und anti­is­rae­li­schen Auswirkungen.

Die Stu­die baut auf frü­he­ren empi­ri­schen und theo­re­ti­schen Arbei­ten zum Anti­se­mi­tis­mus auf, ins­be­son­dere auf der Theo­rie der „Kom­mu­ni­ka­ti­ons­la­tenz“ von Berg­mann und Erb. Sie argu­men­tie­ren, dass Anti­se­mi­tis­mus in der west­deut­schen Öffent­lich­keit zuneh­mend als öffent­li­ches Tabu galt und in einen Zustand der „Latenz“ ver­setzt wurde: Öffent­li­cher Anti­se­mi­tis­mus wurde ver­drängt und konnte nur in pri­va­ten Kon­sens­grup­pen oder über Umweg- und Tarn­kom­mu­ni­ka­tion arti­ku­liert wer­den. Das heißt, dass anti­se­mi­ti­sche Ein­stel­lun­gen in der Bevöl­ke­rung ver­brei­tet sind, diese aber nicht durch den öffent­li­chen Dis­kurs bestä­tigt wer­den und daher in codier­ter Form zum Aus­druck gebracht wer­den. Daher beschäf­tigt sich die Stu­die sowohl mit offen for­mu­lier­ten Aus­drucks­for­men des Anti­se­mi­tis­mus als auch mit codier­ten und auch tole­rier­ten. Als offe­ner Anti­se­mi­tis­mus wird dabei jene Aus­drucks­form bezeich­net, die sich ohne Umwege direkt gegen „Juden als Juden“ rich­tet. Er wird dabei direkt, mani­fest und expli­zit kom­mu­ni­ziert. Codier­ter Anti­se­mi­tis­mus bedient sich hin­ge­gen der „Umweg­kom­mu­ni­ka­tion“ und deu­tet nega­tive, res­sen­ti­ment­ge­la­dene und ste­reo­type Vor­stel­lun­gen über Jüdin­nen und Juden in Form von Chif­fren an. Tole­rier­ter Anti­se­mi­tis­mus wurde in der Stu­die als neuer Begriff ein­ge­führt. Er bezieht sich hier auf den Anti­se­mi­tis­mus ande­rer: Der tole­rierte Anti­se­mi­tis­mus ver­tei­digt anti­se­mi­ti­sche Aus­sa­gen und Hand­lun­gen ande­rer gegen­über einer als „into­le­rant“ wahr­ge­nom­me­nen Öffentlichkeit.

In der Stu­die stim­men im gewich­te­ten Wert acht Pro­zent der Befrag­ten reli­giös-anti­se­mi­ti­schen Aus­sa­gen zu. Die Aus­sage „Ich würde nie­mals in eine Syn­agoge gehen“ hat eine Zustim­mungs­rate von 21 Pro­zent. Her­vor­zu­he­ben ist dies, da diese grund­le­gende Abwehr­hal­tung nur dazu füh­ren kann, dass Mau­ern auf­ge­baut wer­den und sich Grä­ben vertiefen.

Die Werte zu modern-anti­se­mi­ti­schen Ein­stel­lun­gen sind ungleich höher. Diese Ideo­lo­gie macht „die Juden“ für poli­ti­sche, öko­no­mi­sche und kul­tu­relle Wand­lungs­pro­zesse ver­ant­wort­lich. Rund ein Vier­tel der Befrag­ten stimmt der offe­nen Ver­sion der Ver­schwö­rungs­theo­rie vom über­mä­ßi­gen Ein­fluss „der Juden“ zu. Wer­den diese Aus­sa­gen codiert for­mu­liert und bezie­hen sich auf jüdi­sche Insti­tu­tio­nen oder kon­krete Per­so­nen, steigt der Wert.

Bei 19 Pro­zent der Befrag­ten lie­gen sekun­där-anti­se­mi­ti­sche Ein­stel­lun­gen vor. Dabei wird die Erin­ne­rung an das größte Mensch­heits­ver­bre­chen, den Holo­caust, abge­lehnt. Rund die Hälfte der Befrag­ten stimmt ten­den­zi­ell zu, dass es „in einer Demo­kra­tie [mög­lich sein] sollte (…), den Holo­caust kri­tisch zu hin­ter­fra­gen“. 43 Pro­zent kön­nen „nach­emp­fin­den, dass (…) der Holo­caust viele Men­schen kalt lässt“. 47 Pro­zent for­dern, einen „Schluss­strich unter diese Ver­gan­gen­heit“ zu ziehen.

Es muss uns alar­mie­ren, dass fast jeder Zweite einen „Schluss­strich“ unter den Mord an sechs Mil­lio­nen Jüdin­nen und Juden zie­hen will. Dabei ist in einer Welt, die sich stän­dig und schnell ver­än­dert, die Erin­ne­rungs­kul­tur unver­zicht­bar, um aus der Ver­gan­gen­heit zu ler­nen, his­to­ri­sche Ereig­nisse zu reflek­tie­ren und diese heute ein­zu­ord­nen. Im kom­men­den Jahr ist die Befrei­ung des größ­ten Kon­zen­tra­ti­ons- und Ver­nich­tungs­la­gers Ausch­witz-Bir­kenau 80 Jahre her. Mit dem zeit­li­chen Abstand wird schein­bar auch der emo­tio­nale Abstand grö­ßer. Die Zeit­zeu­gen, die beein­dru­ckend vom men­schen­ver­ach­ten­den Natio­nal­so­zia­lis­mus berich­ten, wer­den alters­be­dingt weni­ger. Ihre per­sön­li­chen Lebens­ge­schich­ten sind von unschätz­ba­rem Wert, da sie Geschichte nicht nur in Fak­ten und Daten, son­dern auch emo­tio­nal leben­dig machen und des­halb häu­fig prä­gend sind. Die Her­aus­for­de­rung besteht darin, die Erin­ne­rungs­kul­tur so zu gestal­ten, dass sie auch ohne die direk­ten Berichte der Zeit­zeu­gen gerade junge Men­schen erreicht, die Inter­esse an Geschichte zei­gen, jedoch oft auf der Suche nach neuen Wegen sind, um sich mit der Ver­gan­gen­heit aus­ein­an­der­zu­set­zen. Tra­di­tio­nelle Ver­mitt­lungs­for­men sind wich­tig, rei­chen aber oft nicht aus, um das Inter­esse nach­hal­tig zu wecken. Um die Erin­ne­rungs­kul­tur leben­dig zu hal­ten, müs­sen digi­tale Medien stär­ker ein­be­zo­gen werden.

In der Stu­die liegt die Zustim­mungs­rate bei israel­be­zo­ge­nen anti­se­mi­ti­schen Ein­stel­lun­gen bei 14 Pro­zent – wobei diese bei ein­zel­nen Fra­gen stark vari­ie­ren. Ins­ge­samt set­zen dem­nach 38 Pro­zent der Befrag­ten die israe­li­sche Poli­tik ten­den­zi­ell mit der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen gleich und stim­men der Aus­sage „Was der Staat Israel heute mit den Paläs­ti­nen­sern macht, ist im Prin­zip auch nichts ande­res als das, was die Nazis im Drit­ten Reich mit den Juden gemacht haben“ voll oder eher zu. Rund 40 Pro­zent der Befrag­ten stim­men zu, dass ihnen „durch die israe­li­sche Poli­tik (…) die Juden immer unsym­pa­thi­scher“ wer­den. Es wird also die israe­li­sche Poli­tik den in Deutsch­land leben­den Jüdin­nen und Juden zugerechnet.

Beson­ders besorgt muss es machen, dass nach der Stu­die die 16- bis 18-Jäh­ri­gen beson­ders isra­el­feind­lich ein­ge­stellt sind. Das heißt nicht auto­ma­tisch, dass sie auch israel­be­zo­ge­nen oder andere For­men des Anti­se­mi­tis­mus ver­tre­ten – der Schritt dahin ist jedoch nicht groß.

Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass ins­be­son­dere die Sozia­len Medien, und hier nament­lich Tik­Tok, einen gro­ßen nega­ti­ven Ein­fluss haben. Denn gerade bei Jugend­li­chen über­neh­men Soziale Medien immer öfter die Funk­tion der pri­mä­ren Mei­nungs­bil­dung. Hier kön­nen sich anti­se­mi­ti­sche Ver­schwö­rungs­nar­ra­tive und Des­in­for­ma­tion in rasen­der Geschwin­dig­keit ver­brei­ten. Die Schnel­lig­keit und virale Natur der Platt­form kön­nen dazu füh­ren, dass anti­se­mi­ti­sche Äuße­run­gen in einem Kon­text prä­sen­tiert wer­den, der sie harm­los erschei­nen lässt. Oft­mals wer­den sie in Form von Memes, Wit­zen oder schein­bar unbe­denk­li­chen Videos ver­brei­tet, was die Gefahr birgt, dass sie von einem brei­ten Publi­kum unkri­tisch kon­su­miert wer­den und zu einer Nor­ma­li­sie­rung anti­se­mi­ti­scher Ste­reo­ty­pen und Ver­schwö­rungs­theo­rien füh­ren kön­nen. Rich­tig­stel­lun­gen sind dabei deut­lich weni­ger viral als „Fakes“, die oft den Boden für die Radi­ka­li­sie­rung jun­ger Men­schen bereiten.

Das alles wird durch die Funk­ti­ons­weise des kom­ple­xen Algo­rith­mus auf Tik­Tok beför­dert, der auf den Vor­lie­ben der Nut­ze­rin­nen und Nut­zer basiert, um Inhalte zu ver­brei­ten. Auch im digi­ta­len Raum wird um Deu­tungs­ho­heit gekämpft. Nach dem 7. Okto­ber machte die Bil­dungs­stätte Anne Frank gar eine „Tik­Tok Inti­fada“ aus. Videos mit offe­nem israel­be­zo­ge­nem Anti­se­mi­tis­mus wur­den tau­send­fach geteilt. Der Algo­rith­mus signa­li­siert dem Nut­zer, dass anti­se­mi­ti­sche oder isra­el­feind­li­che Ein­stel­lun­gen von vie­len ande­ren Nut­zern geteilt wer­den, und es fin­det eine gegen­sei­tige Bestä­ti­gung statt. Wenn Ein­stel­lun­gen nicht mehr als „tabui­siert“ wahr­ge­nom­men wer­den, wer­den diese auch offe­ner kommuniziert.

Wei­ter zeigt die Stu­die, dass der Migra­ti­ons­hin­ter­grund – von die­sem wird in der Stu­die gespro­chen, wenn min­des­tens ein Eltern­teil im Aus­land gebo­ren wurde – keine signi­fi­kan­ten Aus­wir­kun­gen auf anti­se­mi­ti­sche Hal­tun­gen hat. Die Reli­gio­si­tät ist hin­ge­gen ein Fak­tor: Je häu­fi­ger ein Got­tes­haus besucht wird, desto grö­ßere Zustim­mun­gen erge­ben sich beim moder­nen und reli­giö­sen Anti­se­mi­tis­mus – und zwar kon­fes­si­ons­über­grei­fend. Da in der öffent­li­chen Dis­kus­sion die Migra­ti­ons­ge­sell­schaft immer mehr als allei­ni­ges Pro­blem­feld des (israel­be­zo­ge­nen) Anti­se­mi­tis­mus aus­ge­macht wird, ist es wich­tig, die Erkennt­nisse aus der Stu­die dage­gen zu setzen.

Die Stu­die zeigt somit deut­lich, dass „der Anti­se­mi­tis­mus als gesamt­ge­sell­schaft­li­ches Pro­blem“ keine leere Phrase ist, son­dern ein Weck­ruf sein muss. Ein Weck­ruf an die gesamte Gesell­schaft: klar Hal­tung zu zei­gen, wenn die Werte unse­rer Demo­kra­tie ange­grif­fen werden.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2024-1/2025.

Von |2024-11-29T15:14:21+01:00November 29th, 2024|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

Weck­ruf an die Gesellschaft

Eine Stu­die aus Nord­rhein-West­fa­len bringt neue Erkennt­nisse über Antisemitismus

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a. D. und stellvertretende Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Von 2018 bis 2024 war sie erste Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen.