Unsicht­bar blei­ben, um der Über­macht zu entkommen

Anti­se­mi­tis­mus vor und nach dem 7. Oktober

 

„Wir, die Fol­ge­ge­nera­tio­nen, haben lange Zeit glau­ben wol­len, die abscheu­li­chen Ver­bre­chen an Juden lägen in der Ver­gan­gen­heit, weit vor der eige­nen Geburt. Dass sie sich wie­der ereig­nen kön­nen, haben die abscheu­li­chen Ver­bre­chen der Hamas im Jahr 2023, in der Gegen­wart, gezeigt. Wir haben uns getäuscht.“

Kurt Grün­berg, 17.11.2023

Die­ses Zitat aus einem Inter­view mit dem Psy­cho­ana­ly­ti­ker Kurt Grün­berg erscheint mir ein Jahr nach sei­ner Ver­öf­fent­li­chung immer noch als das pas­sendste, um den Bogen zwi­schen Davor und Danach zu schla­gen. Wir – damit meint Grün­berg uns als Juden, die nach der Shoah gebo­ren sind, – haben uns getäuscht. Wir haben geglaubt, in Sicher­heit zu sein, dass pogrom­ar­tige Mas­sa­ker mit geno­zi­da­len Zügen nicht mehr Teil unse­rer Lebens­wel­ten sind. Oder auch, dass die Exis­tenz des Staa­tes Israel nicht mehr kon­kret bedroht sein würde, oder dass wir uns in Deutsch­land, aber auch in ande­ren Län­dern der Dia­spora, keine Gedan­ken dar­über machen wür­den, als Juden sicht­bar zu sein. Damit meine ich nicht die Ecken in Groß­städ­ten, denen viele Juden ohne­hin fern­blei­ben, oder Län­der und Regio­nen, die seit 1948 keine oder so gut wie keine jüdi­sche Bevöl­ke­rung mehr haben, oder auch Natio­nal­staa­ten, die mit israe­li­schen Rei­se­päs­sen nicht betre­ten wer­den kön­nen. Ich spre­che von einem viel grö­ße­ren Phä­no­men, näm­lich davon, dass jüdi­sche Stu­die­rende sich über­le­gen, ihren David­stern-Anhän­ger in der Uni zu ver­ste­cken, oder ein Kind sei­nen Pull­over nicht aus­zie­hen möchte, weil es dar­un­ter ein Mak­kabi-T-Shirt trägt. Oder dass Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen nicht als Juden geoutet wer­den wollen.

Dies sind nur einige Beob­ach­tun­gen, die ich seit dem 7. Okto­ber 2023 notiert habe. Anthro­po­lo­gen machen fort­wäh­rend Feld­no­ti­zen. Wir, als Anthro­po­lo­gen, sind Daten­op­por­tu­nis­ten; für uns ist zunächst ein­mal alles inter­es­sant, was sich um uns her­um­be­wegt. Mein Daten­ma­te­rial beginnt 2002. Ich habe das Daten­kon­vo­lut durch­sucht, nach­dem zwei Kol­le­gen mich gefragt hat­ten, ob ich über Anti­se­mi­tis­mus in der aka­de­mi­schen Welt schrei­ben könne. Nach einer ers­ten, kur­zen Durch­sicht war klar, dass Anti­se­mi­tis­mus sich über­all in mei­nen Daten ver­steckt. Bei nähe­rer Betrach­tung zeigte sich, dass neben tra­di­tio­nel­lem bio­lo­gi­schem Anti­se­mi­tis­mus mit direk­tem oder indi­rek­tem christ­li­chen Anti­ju­da­is­mus auch lin­ker anti­im­pe­ria­lis­ti­scher Anti­se­mi­tis­mus – vor allem in Bezug auf Israel – sowie mus­li­mi­scher Anti­ju­da­is­mus, Populär­an­ti­se­mi­tis­mus aus mus­li­mi­schen Mehr­heits­ge­sell­schaf­ten und isla­mis­ti­scher Anti­se­mi­tis­mus fest­zu­stel­len war. Ich habe nie gezielt nach Anti­se­mi­tis­mus gesucht. Ich bin eine For­sche­rin der jüdi­schen Gegen­wart – und Anti­se­mi­tis­mus war in aller Deut­lich­keit vor mei­nen Augen ver­bor­gen. Oder wollte ich mich irren?

Diese Frage beschäf­tigt mich nach wie vor, ins­be­son­dere im Hin­blick auf die Ereig­nisse des 7. Okto­ber 2023 und die dar­auf­fol­gen­den Ent­wick­lun­gen. So sus­pen­dierte meine gast­ge­bende Uni­ver­si­tät, das Cole­gio de México in Mexiko-Stadt, am 7. Novem­ber 2024 ihr Memo­ran­dum of Under­stan­ding mit der Hebräi­schen Uni­ver­si­tät in Jeru­sa­lem. Am Mor­gen des fol­gen­den Tages, dem 8. Novem­ber 2024, erreich­ten mich Nach­rich­ten aus Europa, dass in Ams­ter­dam eine Hetz­jagd auf israe­li­sche Fuß­ball­fans, Israe­lis und Juden statt­ge­fun­den hatte.

Judäo­pho­ber Hass über­schlägt sich: Anti­se­mi­tis­mus ist mehr als ein Res­sen­ti­ment, er ist eine Struk­tur. Ange­sichts des Aus­ma­ßes an Hass seit dem 7. Okto­ber 2023 wird die Kon­ti­nui­tät zum Davor deut­lich. Ich bin mir sicher, dass nicht nur Anthro­po­lo­gen, die über Juden for­schen, son­dern Juden gene­rell diese Kon­ti­nui­tät wahr­neh­men – und wir uns nicht mehr irren kön­nen. Wie lebt man mit die­ser Erkennt­nis? Junge Juden über­le­gen aus­zu­wan­dern. Doch wohin? Nach Israel, wo immer noch Krieg herrscht? In die USA oder nach Groß­bri­tan­nien, in Län­der, in die nach 1945 viele junge Juden zum Stu­die­ren gin­gen und dort ver­blie­ben? Beide Län­der, die zwar grö­ßere jüdi­sche Com­mu­ni­tys haben, sind nicht mehr die jüdi­schen Para­diese, die sie ein­mal waren. In Deutsch­land blei­ben und sich gesell­schafts­po­li­tisch ein­set­zen oder unsicht­bar wer­den? Auch diese Über­le­gung wurde laut geäu­ßert. Ältere Juden, also die Eltern die­ser jun­gen Juden, erleb­ten mit Schmerz diese an Ver­zweif­lung gren­zen­den Über­le­gun­gen ihrer Kin­der. Ans Aus­wan­dern dach­ten nur wenige der Eltern­ge­nera­tion: „Man muss Geld ver­die­nen“, war eine nicht sel­tene Fest­stel­lung. Diese mag sich im ers­ten Moment banal anhö­ren, ist jedoch von fun­da­men­ta­ler Bedeu­tung. Der Sozio­de­mo­graph Ser­gio Del­la­Per­gola betont immer wie­der, dass Immi­gra­tion nach Israel stär­ker mit der öko­no­mi­schen Situa­tion in den Emi­gra­ti­ons­län­dern kor­re­liert als mit Anti­se­mi­tis­mus in eben diesen.

Diese öko­no­mi­schen Beden­ken füh­ren oft­mals zu Prag­ma­tis­mus: Wir, als Juden, haben bis­her irgend­wie über­lebt – zumin­dest teil­weise. Nur die tra­dierte Erin­ne­rung an Gewalt hat sich tief in unse­rem kol­lek­ti­ven Gedächt­nis und in unse­ren Bio­gra­phien fest­ge­schrie­ben. Am direk­tes­ten ist dies bei den weni­gen Über­le­ben­den und der ganz frü­hen Zwei­ten Gene­ra­tion spür­bar, also den Kin­dern der Über­le­ben­den. Diese Juden haben es über Jahr­zehnte hin­weg per­fek­tio­niert unsicht­bar zu blei­ben, nicht auf­zu­fal­len, um der Über­macht zu entkommen.

Diese Über­macht der Ande­ren – Anti­se­mi­tis­mus in sei­nen ver­schie­de­nen For­men, man­gelnde Empa­thie und auch bes­ser­wis­se­ri­sches Gut­men­schen­tum – setzt sich fort. So erzählte eine jüdi­sche Kol­le­gin, dass ihr direkt nach dem 7. Okto­ber 2023 eine Frage in größ­ter Sorge gestellt wurde. Nein, es wurde nicht gefragt, wie es ihr oder ihrer Fami­lie gehe, oder ob bei ihrer Fami­lie und ihren Freun­den in Israel alles in Ord­nung sei. Es wurde besorgt gefragt, wie man in die­ser Situa­tion noch Israel kri­ti­sie­ren könne, ohne als Anti­se­mit zu gel­ten. Ob sie die Gegen­frage gestellt hat, was genau an Israel kri­ti­siert wer­den solle, erschloss sich aus unse­rer Unter­hal­tung nicht. Ich denke, nein. Sie schien ein­fach nur sprach­los, fas­sungs­los und gren­zen­los ent­täuscht – und sie ist nicht die Einzige.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2024-1/2025.

Von |2024-11-29T14:20:36+01:00November 29th, 2024|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

Unsicht­bar blei­ben, um der Über­macht zu entkommen

Anti­se­mi­tis­mus vor und nach dem 7. Oktober

Dani Kranz hat den DAAD Humboldt Lehrstuhl am Colegio de Mexico, Mexico City, inne. Sie ist die erste Vorsitzende von Präsenzen – Netzwerk jüdische Gegenwartsforschung e. V. und arbeitet als angewandte Anthropologin und Direktorin von Two Foxes Consulting, Deutschland. In ihrer angewandten Arbeit ist sie u. a. Mitglied im Beratungskreis des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und der Bekämpfung von Antisemitismus.