Nichts ist mehr, wie es war

Jüdi­sches Lebens in Deutsch­land zwi­schen Auto­no­mie, Par­ti­ku­la­ris­mus, Anpas­sung und Widerständigkeit

Das jüdi­sche Leben in Deutsch­land ist in der jüngs­ten Ver­gan­gen­heit von tie­fen Ein­schnit­ten geprägt. Ein sol­cher Ein­schnitt war der Anschlag auf die Syn­agoge in Halle (Saale) am 9.10.2019. Am höchs­ten jüdi­schen Fei­er­tag, Jom Kip­pur, ver­suchte ein rechts­ra­di­ka­ler Atten­tä­ter in die Syn­agoge ein­zu­drin­gen mit dem Plan, die Syn­ago­gen­be­su­che­rin­nen und -besu­cher zu töten. Die schwere Eichen­türe hielt – zum Glück. Vor der Syn­agoge tötete der Atten­tä­ter den­noch zwei Men­schen. Die­ser Anschlag machte ein­mal mehr deut­lich, wie gefähr­det jüdi­sches Leben in Deutsch­land heute ist.

Kul­tur­staats­mi­nis­te­rin Monika Grüt­ters kam nach dem Anschlag auf die Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion zu und regte an, gemein­sam gegen die Gefähr­dung jüdi­schen Lebens in Deutsch­land die Stimme zu erhe­ben. Die Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion war 2016 mit dem Ziel gegrün­det wor­den, Zusam­men­halt in Viel­falt zu zei­gen und zu unter­stüt­zen. Initia­to­ren der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion sind neben dem Deut­schen Kul­tur­rat die Kul­tur­staats­mi­nis­te­rin, das Bun­des­mi­nis­te­rium des Innern und für Hei­mat, das Bun­des­mi­nis­te­rium für Arbeit und Sozia­les sowie die Inte­gra­ti­ons­be­auf­tragte der Bun­des­re­gie­rung. Mit­glie­der sind neben den genann­ten Initia­to­ren die Kul­tur­mi­nis­ter­kon­fe­renz, die kom­mu­na­len Spit­zen­ver­bände, die Sozi­al­part­ner, die Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, die Medien und zivil­ge­sell­schaft­li­che Organisationen.

Der Zen­tral­rat der Juden, der der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion eben­falls ange­hört, konnte als Koope­ra­ti­ons­part­ner für einen „Akti­ons­tag“ zum Geden­ken an den Anschlag in Halle gewon­nen wer­den und ebenso der Beauf­tragte der Bun­des­re­gie­rung für jüdi­sches Leben und den Kampf gegen den Anti­se­mi­tis­mus, Felix Klein. Gemein­sam kamen wir über­ein, dass es kein Gedenk­tag wer­den sollte, der am 9. Okto­ber in Halle (Saale) began­gen wird, son­dern im Gegen­teil die Chance ergrif­fen wer­den sollte, das jüdi­sche Leben in sei­ner Viel­falt zu zei­gen: ortho­dox, libe­ral, migran­tisch, israe­lisch, queer, säku­lar, alt, jung, fami­liär, an Gemein­den gebun­den oder nicht, so viel­fäl­tig und unter­schied­lich, wie das jüdi­sche Leben in Deutsch­land ist.

Als Ers­tes wurde, noch unter den erschwer­ten Bedin­gun­gen der Coro­na­pan­de­mie, ein Foto­wett­be­werb gestar­tet. Jede und jeder konnte sich daran betei­li­gen, jede und jeder war auf­ge­ru­fen mit­zu­ma­chen – egal, ob jüdisch oder nicht. Über 600 Fotos wur­den ein­ge­reicht, und es wurde genau das ein­ge­löst, was inten­diert war: Die Viel­falt jüdi­schen Lebens wurde sicht­bar. Der Jury fiel es schwer, die zehn Sie­ger­bil­der aus­zu­wäh­len. Beson­ders schön war es, dass die zehn aus­ge­zeich­ne­ten Bil­der im Nach­gang in einer Wan­der­aus­stel­lung an 30 ver­schie­de­nen Orten in Deutsch­land zu sehen waren. In einer Poli­zei­aka­de­mie, in Volks­hoch­schu­len, in Schu­len, in Kir­chen usw. Über­all dort und in der Online-Aus­stel­lung konnte ein Ein­druck von der Viel­falt jüdi­schen Lebens gewon­nen werden.

Glei­ches galt für den Schreib­wett­be­werb, der 2022 aus­ge­lobt wurde. Auch hier hatte die hoch­ka­rä­tig besetzte Jury die Qual der Wahl, aus den zahl­rei­chen sehr unter­schied­li­chen Ein­rei­chun­gen die zehn Gewin­ner­texte aus­zu­wäh­len. Den ers­ten Preis erhielt im Übri­gen Dana Vowin­ckel, die im Jahr 2023 mit ihrem Roman „Gewäs­ser im Ziplock“ reüs­sierte. Lesun­gen aus den Tex­ten fan­den beim Deut­schen Evan­ge­li­schen Kir­chen­tag in Nürn­berg sowie bei ver­schie­de­nen ande­ren Ver­an­stal­tun­gen statt.

Im Jahr 2023 wurde ein Poetry-Slam-Wett­be­werb aus­ge­schrie­ben. Und erneut wur­den sehr unter­schied­li­che Arbei­ten ein­ge­reicht, die vom inner­jü­di­schen Dis­kurs, von Fra­gen, wo und was Hei­mat ist, von Freund­schaf­ten und ande­rem mehr han­del­ten. Zehn Sie­ger­texte wur­den aus­ge­wählt und der 9. Okto­ber wurde als Tag der fei­er­li­chen Prä­mie­rung aus­ge­wählt. Alle freu­ten sich auf eine fröh­li­che und zugleich fei­er­li­che Prämierung.

Dann der Ein­schnitt: Am 7. Okto­ber 2023 über­fiel die Ter­ror­or­ga­ni­sa­tion Hamas den Süden Isra­els mit der Absicht, bis nach Tel Aviv vor­zu­drin­gen. Über tau­send Men­schen wur­den, teils bes­tia­lisch, getö­tet. Über 250 Men­schen wur­den als Gei­seln in den Gaza-Strei­fen ver­schleppt. In Deutsch­land, spe­zi­ell in Ber­lin-Neu­kölln, tanz­ten Men­schen auf der Straße und fei­er­ten die Hamas. Unfassbar!

In Abspra­che mit dem Zen­tral­rat der Juden fand die Prä­mie­rung den­noch am 9. Okto­ber statt. Gleich­wohl: Die Leich­tig­keit war dahin und jeder spürte, das ist ein Ein­schnitt, der für das jüdi­sche Leben in Deutsch­land tief­grei­fend ist.

Seit­her ist vie­les pas­siert: Woh­nun­gen von Jüdin­nen und Juden wur­den mar­kiert, jüdi­sche Stu­die­rende wur­den zusam­men­ge­schla­gen, Boy­kotte gegen­über israe­li­schen Künst­le­rin­nen und Künst­lern haben stark zuge­nom­men, die Sicher­heits­maß­nah­men für jüdi­sche Ein­rich­tun­gen und Per­sön­lich­kei­ten des jüdi­schen Lebens muss­ten noch­mals deut­lich ver­stärkt wer­den. Nichts ist mehr, wie es war.

Und ich will es hier ganz deut­lich schrei­ben: Ich schäme mich für die Boy­kotte gegen israe­li­sche Künst­le­rin­nen und Künst­ler und gegen israe­li­sche Kul­tur­ein­rich­tun­gen von deut­schen Kul­tur­ver­ant­wort­li­chen. Haben wir denn über­haupt nichts aus unse­rer Geschichte gelernt?

Die Fei­er­lich­kei­ten zu 1700 Jahre jüdi­schen Lebens in Deutsch­land, die im Jahr 2021 began­gen wur­den, schei­nen Äonen ent­fernt zu sein, obwohl gerade sie die Chance boten, die Ver­gan­gen­heit, aber vor allem die Gegen­wart des viel­fäl­ti­gen jüdi­schen Lebens ken­nen­zu­ler­nen und zu erleben.

Im Kul­tur­be­reich wird seit­her darum gerun­gen, wie mit laten­tem oder auch offen­sicht­li­chem Anti­se­mi­tis­mus umge­gan­gen wer­den kann. Ob es staat­li­cher Regu­la­rien bedarf oder ob Selbst­ver­pflich­tun­gen der bes­sere Weg sind? Ob Künst­le­rin­nen und Künst­lern, die mit der BDS-Bewe­gung (Boy­kott, Des­in­ves­ti­tio­nen und Sank­tio­nen gegen Israel) sym­pa­thi­sie­ren, ein Podium gebo­ten wer­den sollte? Wie mit Pro­tes­ten bei Aus­stel­lungs­er­öff­nun­gen oder ande­ren Ver­an­stal­tun­gen umge­gan­gen wer­den soll? Wie ein Dia­log mög­lich sein kann? Die Fron­ten sind viel­fach verhärtet.

Vor die­sem Hin­ter­grund wurde gemein­sam die bewusste Ent­schei­dung getrof­fen, zum 5. Jah­res­tag des Anschlags auf die Syn­agoge in Halle kei­nen Wett­be­werb durch­zu­füh­ren. Es wurde viel­mehr eine gemein­same Tagung am 18. Novem­ber im Jüdi­schen Museum Frank­furt ver­an­stal­tet, die Raum für Refle­xio­nen und Dis­kus­sion bot: Gedan­ken zu Auto­no­mie, Par­ti­ku­la­ris­mus, Anpas­sung und Wider­stän­dig­keit jüdi­schen Lebens in Deutsch­land. Der 7. Okto­ber 2023 und alles, was danach geschah, stand greif­bar im Raum. Es wurde sich inten­siv mit der Frage aus­ein­an­der­ge­setzt, wie jüdi­sches Leben in Deutsch­land aktu­ell gelin­gen kann. Hanna Vei­ler, Prä­si­den­tin der Jüdi­schen Stu­die­ren­den­union, brachte auf den Punkt, was die Debatte so schwer macht. Sie sagte, dass es nicht mehr gelinge, die Viel­falt jüdi­schen Lebens sicht­bar zu machen. Jüdin­nen und Juden wür­den homo­ge­ni­siert, sie wür­den zu einer Gruppe, Unter­schiede wür­den nicht wahr­ge­nom­men. Allen­falls wer­den ein­zelne jüdi­sche Per­sön­lich­kei­ten dazu genutzt, so Vei­ler, sie der ver­meint­lich homo­ge­nen Gruppe an Juden und Jüdin­nen gegenüberzustellen.

Homo­ge­ni­sie­rung von Grup­pen ist ein Ein­falls­tor für Dis­kri­mi­nie­rung und Aus­gren­zung. Einer sol­chen Dis­kri­mi­nie­rung tritt die Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion ent­schie­den ent­ge­gen. Sie steht für den Ein­satz gegen Anti­se­mi­tis­mus, Ras­sis­mus und andere For­men grup­pen­be­zo­ge­ner Men­schen­feind­lich­keit. Gemein­sam ist viel zu tun, um den Zusam­men­halt in Viel­falt zu stärken.

Der Schwer­punkt in die­ser Aus­gabe von Poli­tik & Kul­tur nimmt ein­zelne Aspekte unse­rer Tagung im Jüdi­schen Museum Frank­furt auf und führt sie weiter.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2024-1/2025.

Von |2024-11-29T12:33:37+01:00November 29th, 2024|Antisemitismus, Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

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Jüdi­sches Lebens in Deutsch­land zwi­schen Auto­no­mie, Par­ti­ku­la­ris­mus, Anpas­sung und Widerständigkeit

Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber von Politik & Kultur.