Jung, jüdisch und im Widerstand

Text aus „Slammt Tache­les! – Poetry Slam zum jüdi­schen Leben in Deutschland“

Es hat lange gedau­ert, bis ich die­sen Text schrei­ben konnte. Viel län­ger, als ich übli­cher­weise für einen Text brau­che. Woran dies lie­gen könnte, ist schwer zu sagen. Viel­leicht daran, dass sich nach dem 7. Okto­ber 2023 über jüdi­sches Leben zu schrei­ben anfühlt wie über Nie­der­la­gen zu schrei­ben. Viel­leicht auch daran, dass es unmög­lich scheint zu ver­ste­hen, wo man anfan­gen sollte. Und sicher­lich daran, dass es immenser kogni­ti­ver Anstren­gung bedarf, all die Wider­sprü­che und Ambi­va­len­zen auf Papier zu brin­gen, in denen sich junge jüdi­sche Rea­li­tät aktu­ell abspielt.

Fragt man eine jüdi­sche Per­son, wo und wie sie am Mor­gen des 7. Okto­bers auf­wachte, wird sie diese Frage ent­we­der viel zu detail­liert oder gar nicht beant­wor­ten kön­nen. Es gibt kein Dazwi­schen. Es gibt kei­nen jüdi­schen Raum mehr, in dem die­ser Tag keine Rolle spielt. Es muss nicht aus­ge­spro­chen wer­den, nicht benannt, es ist spür­bar. Zwi­schen den Gesprä­chen, in den Bli­cken und Kör­per­hal­tun­gen. Zum 7. Okto­ber und sei­nen Fol­gen für jüdi­sche Com­mu­ni­tys welt­weit wer­den noch viele Texte geschrie­ben wer­den. Diese Texte wer­den über das trans­ge­ne­ra­tio­nale Trauma spre­chen, auf das die Bil­der und Berichte des Schwar­zen Shab­bats tra­fen. Wir wer­den noch lange über den Anti­se­mi­tis­mus-Tsu­nami spre­chen müs­sen, der in den fol­gen­den Tagen, Wochen und Mona­ten über uns her­ein­brach. Wenn ich die­ser Tage an meine Anfänge im jüdi­schen Stu­die­ren­den­ak­ti­vis­mus nach­denke, fällt es mir schwer, zu glau­ben, dass wir heute an die­sem Punkt ange­kom­men sind. Denn lange wehte ein ande­rer Wind.

Seit Jahr­zehn­ten haben jüdi­sche Orga­ni­sa­tio­nen wie der Zen­tral­rat der Juden in Deutsch­land oder die Zen­tral­wohl­fahrts­stelle auf unter­schied­li­che Weise dazu bei­getra­gen, jüdi­sches Leben in der Mitte der deut­schen Gesell­schaft zu ver­an­kern. Auf der Asche der Shoah erblüh­ten wie­der jüdi­sche Gemein­den. Mit jedem Jahr­zehnt nach der Shoah wur­den jüdi­sche Stim­men lau­ter und selbst­ver­ständ­li­cher. Schließ­lich war es die Immi­gra­tion der soge­nann­ten jüdi­schen Kon­tin­gent­flücht­linge in den 1990ern und frü­hen 2000er Jah­ren, die die jüdi­schen Gemein­den in Deutsch­land erneut auf­blü­hen ließ. Mit die­ser Ein­wan­de­rung gelangte auch eine neue Gene­ra­tion Jüdin­nen und Juden nach Deutsch­land, meine Gene­ra­tion. Jene, die in Deutsch­land gebo­ren wur­den oder auf­wuch­sen. Jene, die wir mit den Geschich­ten über den Anti­se­mi­tis­mus, den unsere Eltern und Groß­el­tern in der Sowjet­union erlebt haben, groß wur­den. Die häu­fig nicht nur eine jüdi­sche, son­dern auch eine migran­ti­sche Iden­ti­tät mit­brach­ten. Viele von uns haben sich alles über das Juden­tum selbst bei­gebracht oder es dank jüdi­scher Orga­ni­sa­tio­nen gelernt. Wir wur­den schließ­lich zu jenen, die das Juden­tum von Feri­en­la­gern oder Jugend­zen­tren nach Hause brach­ten und unsere Eltern, denen jeg­li­che reli­giöse Pra­xis durch den Sozia­lis­mus ver­wehrt blieb, zwan­gen, mit uns Shab­bat zu fei­ern. So ist es kein Zufall, dass seit zirka zehn Jah­ren die Welt des jüdi­schen Stu­die­ren­den­ak­ti­vis­mus einen Boom erlebt. Zahl­rei­che Orga­ni­sa­tio­nen wie die Jüdi­sche Stu­die­ren­den­union Deutsch­land oder Kes­het Deutsch­land grün­de­ten sich in die­sem Zeit­raum. Ich erin­nere mich noch gut an viele Dis­kurse, die wir vor eini­gen Jah­ren führ­ten. Wir woll­ten ein posi­ti­ves Nar­ra­tiv jüdi­schen Lebens prä­gen, woll­ten end­lich als Teil die­ser Gesell­schaft, als Teil Deutsch­lands aner­kannt wer­den. Wir woll­ten über andere The­men als Holo­caust, Anti­se­mi­tis­mus und Nah­ost­kon­flikt spre­chen – es ging darum, die Viel­falt unse­rer Her­künfte und Tra­di­tio­nen zu beleuch­ten und uns für Demo­kra­tie und eine freie Gesell­schaft zu enga­gie­ren. Dabei war die Spann­breite der Pro­gramme, Aktio­nen und Akti­vi­tä­ten, die geschaf­fen wurde, kaum zu über­tref­fen. Alles, um deut­lich zu machen: „We are here to stay.“

Einige Jahre spä­ter hat sich der Schat­ten des rechts­ter­ro­ris­ti­schen Anschlags in Halle, des Skan­dals rund um die docu­menta und nicht zuletzt des 7. Okto­bers über den opti­mis­ti­schen Taten­drang mei­ner Gene­ra­tion gelegt. Aus „We are here to stay“ wurde „Wo sol­len wir hin?“. In jüdi­schen Freun­des­krei­sen wird seit eini­ger Zeit dis­ku­tiert, wel­che Fähig­kei­ten man jetzt erler­nen müsse, um im Aus­land arbei­ten zu kön­nen. Es wer­den Selbst­ver­tei­di­gungs­kurse absol­viert und psy­cho­lo­gi­sche Unter­stüt­zung orga­ni­siert. Jüdi­sches Leben in Deutsch­land fühlt sich an man­chen Tagen wie Über­le­bens­kampf an. Doch trotz allem kämpft gerade die junge jüdi­sche Gene­ra­tion uner­müd­lich wei­ter. Sie kämpft für ein siche­res und selbst­be­stimm­tes Leben in Deutsch­land, kämpft gegen Hass und Gewalt und für Aner­ken­nung. Dies tut sie auf vie­len unter­schied­li­chen Wegen. Junge Jüdin­nen und Juden prä­gen die­ses Land durch poli­ti­sches Enga­ge­ment in Par­teien oder jüdi­schen Orga­ni­sa­tio­nen. Sie ste­hen in der Öffent­lich­keit und stel­len sich in den Sozia­len Medien anti­se­mi­ti­schen Nar­ra­ti­ven durch die Pro­duk­tion von Kon­ter­n­ar­ra­ti­ven. Sie enga­gie­ren sich regio­nal oder bun­des­weit, schaf­fen Öffent­lich­keit und Com­mu­nity-Gefühl zugleich. Sie rufen Bil­dungs­pro­jekte und Begeg­nungs­räume ins Leben, um am Ende ihre Geschich­ten und Per­spek­ti­ven selbst erzäh­len zu können.

Eines der Pro­jekte, das sinn­bild­lich für den Kampf um Sicht­bar­keit steht und das ich her­vor­he­ben möchte, ist die jüdi­sche Cam­pus­wo­che. Dabei geht es darum, an Uni­ver­si­tä­ten im gan­zen Land jüdi­sches Leben in diver­sen Ver­an­stal­tun­gen und Aktio­nen all jenen näher­zu­brin­gen, die mit dem Juden­tum nur reli­giöse Sym­bo­li­ken oder Schwarz-Weiß-Bil­der asso­zi­ie­ren. Es ist bezeich­nend, dass aus­ge­rech­net die­ses Pro­jekt, das zur Sicht­bar­ma­chung bei­tra­gen soll, in den kom­men­den Jah­ren nur unter erhöh­ten Sicher­heits­maß­nah­men durch­führ­bar sein wird, da vor allem Uni­ver­si­tä­ten sich zu Orten ent­wi­ckelt haben, an denen junge Jüdin­nen und Juden nicht sicht­bar und sicher zugleich sein kön­nen. Doch trotz getrof­fe­ner Sicher­heits­vor­keh­run­gen, trotz Exis­tenz­angst, die uns in jeden Raum beglei­tet, bleibt klar, dass wir wei­ter­ma­chen. Weil wir nach wie vor daran glau­ben, dass wir ein Recht auf einen Platz in die­sem Land haben. Wir wol­len mit­ge­stal­ten und aktiv an einer bes­se­ren Zukunft arbei­ten. Wir wol­len uns Gehör ver­schaf­fen und unsere Geschich­ten erzählen.

Immer wie­der kommt mir dabei die Meta­pher des Tisches in den Kopf. Diese wird gerne benutzt, um auf gesell­schaft­li­che Macht- und Aus­schluss­me­cha­nis­men zu ver­wei­sen. Es gibt eine lange Tafel mit zuge­ord­ne­ten Sitz­plät­zen. Viele der Gäste haben ihren Platz von Gene­ra­tion zu Gene­ra­tion ver­erbt bekom­men. Doch dann gibt es auch jene, die neu an die­sem Tisch sind. Die sich die­sen Platz über viele Jahre erkämp­fen muss­ten. Jüdin­nen und Juden kämp­fen jeden Tag für die­sen Platz und erhe­ben ihre Stim­men wie in die­sem Buch. Wir wol­len keine Flos­keln mehr hören, wol­len nicht mehr ver­han­deln müs­sen, ob er uns zusteht. Ob mit Ein­la­dung oder nicht: Wir wer­den an die­sem Tisch sitzen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2024-1/2025.

Von |2024-11-29T14:47:56+01:00November 29th, 2024|Antisemitismus, Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

Jung, jüdisch und im Widerstand

Text aus „Slammt Tache­les! – Poetry Slam zum jüdi­schen Leben in Deutschland“

Hanna Esther Veiler ist eine deutsche Aktivistin und Publizistin. 2019 gehörte sie zu den Gründern der Jüdischen Studierendenunion Württembergs. Seit dem 14. Mai 2023 ist sie Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD).