Jüdi­sche Akademie

Zwi­schen Ver­ge­wis­se­rung und Positionierung

Die Jüdi­sche Aka­de­mie in Frank­furt am Main, deren Eröff­nung für das kom­mende Jahr geplant ist, steht erst recht nach dem 7. Okto­ber 2023 vor gewal­ti­gen Auf­ga­ben. Sie ver­steht sich zum einen als ein Ort inner­jü­di­scher Dis­kurse, Kon­tro­ver­sen und Suche nach Ori­en­tie­rung und zum ande­ren als eine Quelle der Inspi­ra­tion und Ver­mitt­lung jüdi­schen Den­kens und Wis­sens in die nicht-jüdi­sche Welt. Die Bedro­hungs­lage hat sich für Juden und Jüdin­nen im ver­gan­ge­nen Jahr dras­tisch ver­schärft, sodass die Jüdi­sche Aka­de­mie den Mit­glie­dern jüdi­scher Gemein­den als Rück­zugs­ort die­nen möchte, an dem exis­ten­zi­elle Fra­gen erör­tert und wech­sel­sei­tige Unter­stüt­zung gewährt wer­den können.

Die meis­ten der in Deutsch­land leben­den Juden und Jüdin­nen gin­gen davon aus, dass jüdi­sches Leben in Deutsch­land nach 1945 nicht mehr in Frage gestellt wer­den kann, da die poli­ti­sche Kul­tur libe­ral, demo­kra­tisch und plu­ral ver­an­kert und die rechts­staat­li­che Ord­nung ver­bürgt ist. Die umfas­sende Aus­ein­an­der­set­zung mit der Shoah schien dar­über hin­aus gleich­sam einem Schutz­ver­spre­chen zu entsprechen.

Die öffent­li­chen und pri­va­ten Reak­tio­nen auf das Mas­sa­ker der Ter­ror­or­ga­ni­sa­tion der Hamas auf den Süden Isra­els haben jedoch ein ande­res Bild zutage gebracht. Die weit­ge­hend unbe­kannte kom­plexe Geschichte des Nah­ost­kon­flikts, ver­knüpft mit einem wie­der­auf­le­ben­den Res­sen­ti­ment gegen Juden und den jüdi­schen Staat, haben die jüdi­sche Gemein­schaft in Deutsch­land nach­hal­tig erschüt­tert und Zwei­fel auf­kom­men las­sen, ob die Melange aus rech­tem, links-akti­vis­ti­schem und isla­mis­ti­schem Anti­se­mi­tis­mus die Grund­lage und die Vor­aus­set­zung jüdi­schen Lebens in Deutsch­land nicht grund­sätz­lich beeinträchtigt.

Die Jüdi­sche Aka­de­mie wird sich mit die­sen Ent­wick­lun­gen aus­ein­an­der­set­zen und jüdi­sche Stim­men, jüdi­sche Erfah­run­gen und Posi­tio­nen in unter­schied­li­che gesell­schaft­li­che Berei­che hin­ein­tra­gen. Exem­pla­risch an die­ser Stelle sei der unlängst mit der Goe­the-Uni­ver­si­tät Frank­furt am Main abge­schlos­sene Koope­ra­ti­ons­ver­trag erwähnt und vor­ge­stellt, der ver­deut­licht, wie sich im aka­de­mi­schen Feld eine enge Ver­zah­nung nie­der­schla­gen kann, deren Ziel es ist, beson­ders Stu­die­rende päd­ago­gi­scher Stu­di­en­gänge dar­auf vor­zu­be­rei­ten, sich mit ihren zukünf­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen im Kon­text der Bil­dung – wie Anti­se­mi­tis­mus in Geschichte und Gegen­wart, israel­be­zo­ge­ner Anti­se­mi­tis­mus, Zio­nis­mus, Nah­ost-Kon­flikt – auseinanderzusetzen.

Auf­ga­ben der Jüdi­schen Akademie

Mit ihrem Sitz in der Main­me­tro­pole Frank­furt am Main steht die Jüdi­sche Aka­de­mie in der Tra­di­tion des Freien Jüdi­schen Lehr­hau­ses und wirkt als intel­lek­tu­el­ler Mit­tel- und Anzie­hungs­punkt sowohl für Juden aus Deutsch­land und Europa als auch für Mit­glie­der ande­rer Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, die an jüdi­schen, inter­kul­tu­rel­len, inter­re­li­giö­sen oder uni­ver­sel­len Fra­ge­stel­lun­gen inter­es­siert sind. Sie wird als eigen­stän­dige Insti­tu­tion im Rah­men des Zen­tral­rats der Juden in Deutsch­land öffent­li­che Dis­kurse auf­grei­fen, initi­ie­ren oder pro­ble­ma­ti­sie­ren und somit der jüdi­schen Stimme in Deutsch­land ein erkenn­ba­res Pro­fil verleihen.

Das Juden­tum ist eine der geis­ti­gen Säu­len Euro­pas: Als wesent­li­cher Gegen­part des Chris­ten­tums prägte es die kul­tu­relle, poli­ti­sche und öko­no­mi­sche Geschichte vom Mit­tel­al­ter bis in die frühe Neu­zeit. Für die Auf­klä­rung war die Betei­li­gung von Juden und die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Juden­tum von her­aus­ra­gen­der Bedeu­tung. Das jüdi­sche Bil­dungs­ver­ständ­nis sieht sich beson­ders dem Pos­tu­lat einer akti­ven Tole­ranz und eines gleich­be­rech­tig­ten Mit­ein­an­ders von Kul­tu­ren ver­pflich­tet. Die Jüdi­sche Aka­de­mie will gerade im Zeit­al­ter der Glo­ba­li­sie­rung ihren Bei­trag dazu leis­ten, dass die deut­sche Gesell­schaft, in der sie wirkt, kul­tu­relle und reli­giöse Plu­ra­li­tät akzep­tiert. Wei­ter­hin sieht die Jüdi­sche Aka­de­mie ihre Auf­gabe – nach dem in der Shoah erfah­re­nen Zivi­li­sa­ti­ons­bruch – in der krea­ti­ven und kri­ti­schen Aneig­nung des reli­giö­sen und kul­tu­rel­len Erbes des euro­päi­schen und beson­ders des deut­schen Juden­tums. Sie ist bestrebt, die­ses Erbe in der Zukunfts­de­batte sowohl in den Jüdi­schen Gemein­den als auch in der deut­schen wie der euro­päi­schen Gesell­schaft ein­zu­brin­gen. Zugleich möchte sie die Tra­di­tio­nen des in der ehe­ma­li­gen Sowjet­union gewach­se­nen Juden­tums, die durch die Zuwan­de­rung der rus­sisch­spra­chi­gen Juden in den Jüdi­schen Gemein­den zur Gel­tung kom­men, wür­di­gen und aufnehmen.

Die Jüdi­sche Aka­de­mie ist vor dem Hin­ter­grund der kul­tu­rel­len und reli­giö­sen Viel­falt der in Deutsch­land leben­den jüdi­schen Gemein­schaft vor die Auf­gabe gestellt, unter­schied­li­chen Bil­dungs­ver­ständ­nis­sen und -hori­zon­ten gerecht zu wer­den: So ste­hen reli­giös begrün­dete Zugänge zu Bil­dung und Erzie­hung neben bil­dungs­bür­ger­lich, säku­lar gepräg­ten oder reli­gi­ons­fer­nen Ansät­zen. Die Ver­mitt­lung eines auf­ge­klär­ten Juden­tums, in dem diese unter­schied­li­chen Tra­di­tio­nen ihren begrün­de­ten Platz haben und zugleich darum rin­gen, Juden unter­schied­li­cher Alters­grup­pen über­zeu­gende Ori­en­tie­rungs­an­ge­bote zu unter­brei­ten, fällt in den Auf­ga­ben­be­reich der Jüdi­schen Aka­de­mie. Sie ist bestrebt, im Rah­men ihrer päd­ago­gi­schen Pra­xis die Her­aus­bil­dung jüdi­scher Iden­ti­tä­ten in der Moderne zu vertiefen.

Koope­ra­tion und Innovation

Die Goe­the-Uni­ver­si­tät Frank­furt und die Jüdi­sche Aka­de­mie haben sich ent­schie­den, einen Koope­ra­ti­ons­ver­trag zu unter­zeich­nen, der ihr Inter­esse an gemein­sa­men the­ma­ti­schen Schwer­punk­ten in For­schung, Lehre und Ver­mitt­lung zum Aus­druck bringt. Die­ser Wunsch resul­tiert aus der tie­fen Über­zeu­gung, dass die Aus­ein­an­der­set­zung um wis­sen­schaft­li­che, poli­ti­sche, päd­ago­gi­sche sowie ethi­sche Stand­punkte und Ori­en­tie­rung wesent­lich zur Stär­kung einer libe­ra­len und plu­ra­len Gesell­schaft bei­trägt. Die Jüdi­sche Aka­de­mie soll ein Zen­trum der Aus­ein­an­der­set­zung mit jüdi­scher Geschichte und Reli­gion wer­den sowie aktu­elle Debat­ten auf­grei­fen und berei­chern – in For­schung, aka­de­mi­scher Lehre und Inter­ak­tion mit der Gesell­schaft. Des­halb haben die Goe­the-Uni­ver­si­tät und die Jüdi­sche Aka­de­mie eine „insti­tu­tio­nelle Koope­ra­tion im Sinn einer dau­er­haf­ten und regel­mä­ßi­gen wis­sen­schaft­li­chen Zusam­men­ar­beit“ ver­ein­bart, wie es im Ver­trag heißt.

Mit ihrem Sitz in der Metro­pole Frank­furt am Main wirkt die Jüdi­sche Aka­de­mie als intel­lek­tu­el­ler Mit­tel- und Anzie­hungs­punkt sowohl für Juden aus Deutsch­land und Europa als auch für Mit­glie­der ande­rer Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, die an jüdi­schen, inter­kul­tu­rel­len, inter­re­li­giö­sen oder uni­ver­sel­len Fra­ge­stel­lun­gen inter­es­siert sind. Die Aka­de­mie will der jüdi­schen Stimme in Deutsch­land ein erkenn­ba­res Pro­fil geben.

Wis­sen­schaft­li­che Impulse

Der in Frank­furt unter­zeich­nete Ver­trag nennt als „stra­te­gi­sche Ziele und Hand­lungs­fel­der“ die Fort­set­zung bestehen­der sowie die Anbah­nung wei­te­rer Koope­ra­tio­nen, um neue For­schungs­fra­gen und -per­spek­ti­ven auch aus trans­dis­zi­pli­nä­rer Sicht bear­bei­ten und Dis­kurse berei­chern zu kön­nen. Zudem sol­len durch Ver­bund­for­schung und Koope­ra­tio­nen mit Ori­en­tie­rung an der inter­na­tio­na­len Spit­zen­for­schung das gemein­same Ein­wer­ben von För­der­mit­teln und die gegen­sei­tige Unter­stüt­zung bei der Gewin­nung von Part­nern gestärkt wer­den. Die Jüdi­sche Aka­de­mie wird wis­sen­schaft­li­che, gesell­schafts­po­li­ti­sche und kul­tu­relle Dis­kurse auf­grei­fen, initi­ie­ren oder pro­ble­ma­ti­sie­ren und damit der jüdi­schen Stimme in Deutsch­land ein erkenn­ba­res Pro­fil geben.

Abge­lei­tet aus der Geschichte und den Her­aus­for­de­run­gen der Gegen­wart erge­ben sich weg­wei­sende wis­sen­schaft­li­che Per­spek­ti­ven. Neues Wis­sen, das durch Syn­er­gien des reli­giö­sen, bür­ger­li­chen und aka­de­mi­schen Mit­ein­an­ders zustande kommt und auf die Gesell­schaft aus­strahlt, bedarf ver­läss­li­cher Struk­tu­ren – auch im Sinn von exzel­len­ter und inter­na­tio­nal anschluss­fä­hi­ger For­schung. Gerade im Zeit­al­ter der Glo­ba­li­sie­rung geht es darum, kul­tu­relle und reli­giöse Plu­ra­li­tät als Chance wahr­zu­neh­men, die die Zukunfts­de­batte berei­chert. Die wis­sen­schaft­li­che Koope­ra­tion zwi­schen der Goe­the-Uni­ver­si­tät und der Jüdi­schen Aka­de­mie des Zen­tral­rats der Juden in Deutsch­land bie­tet dafür einen sehr guten Raum, den der Frank­fur­ter Kon­text in beson­de­rer Weise ermög­licht, da zahl­rei­che Insti­tu­tio­nen in der Stadt die jüdi­sche Geschichte erfor­schen und erin­nern bzw. ihren Bei­trag zur jüdi­schen Gegen­wart leis­ten. Die Zusam­men­ar­beit soll dar­über hin­aus ein Mei­len­stein für ein inter­dis­zi­pli­nä­res For­schungs­netz­werk sein, das Wis­sen für die gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung, Nach­hal­tig­keit und Gerech­tig­keit im 21. Jahr­hun­dert gene­riert und damit Zukunfts­fä­hig­keit schafft.

Bedarf nach poli­ti­scher, kul­tu­rel­ler oder reli­giö­ser Orientierung

Mit der Ein­wan­de­rung von über 200.000 Juden aus der ehe­ma­li­gen Sowjet­union nach Deutsch­land seit Ende der 1980er Jahre des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts gehört die jüdi­sche Gemein­schaft in Deutsch­land zu den zah­len­mä­ßig größ­ten in Europa. Mit der gewal­ti­gen Her­aus­for­de­rung für die jüdi­schen Zuwan­de­rer, sich in die Gesell­schaft und in den jüdi­schen Gemein­den zu inte­grie­ren, wächst auch deren Bedarf nach poli­ti­scher, kul­tu­rel­ler oder reli­giö­ser Orientierung.

Aka­de­mien die­nen grund­sätz­lich dem Ziel der öffent­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung mit unter­schied­li­chen welt­an­schau­li­chen oder reli­giö­sen Per­spek­ti­ven, mit Ver­tre­tern und Ver­tre­te­rin­nen der Wis­sen­schaft, Poli­tik, Kunst und der Kul­tur. Dabei haben Aka­de­mien zugleich die Auf­gabe, Fra­gen und Pro­bleme, die in Ver­bän­den, Insti­tu­tio­nen oder Par­teien auf­grund ihrer Bri­sanz noch nicht ent­schei­dungs­reif sind, im Vor­feld zu dis­ku­tie­ren bzw. einen Raum für kon­tro­verse Debat­ten zur Ver­fü­gung zu stellen.

Die Goe­the-Uni­ver­si­tät Frank­furt und der Zen­tral­rat der Juden in Deutsch­land haben vor die­sem Hin­ter­grund bereits am 17. Mai 2022 ein Memo­ran­dum of Under­stan­ding unter­zeich­net, auf des­sen Grund­lage seit­her eine Reihe von gemein­sa­men Akti­vi­tä­ten unter­nom­men wur­den und ein umfas­sen­der Aus­tausch statt­ge­fun­den hat.

An Tra­di­tio­nen anknüpfen

Mit der Koope­ra­tion knüp­fen wir an eine rei­che Tra­di­tion der Uni­ver­si­täts­ge­schichte ebenso an wie an zahl­rei­che Koope­ra­tio­nen der Gegen­wart. Als Grün­dung aus der Stadt­ge­sell­schaft für die Stadt und die dar­über­hin­aus­ge­hende Gesell­schaft ver­dankt die Uni­ver­si­tät ihre Exis­tenz auch und gerade den jüdi­schen Bür­gern, die 1914 zu den Grün­dern der Stif­tungs­uni­ver­si­tät zähl­ten. Auch heute rich­tet die Uni einen star­ken Fokus auf die jüdi­sche Religionswissenschaft.

Franz Rosen­zweig grün­dete Anfang der 1920er Jahre das Freie Jüdi­sche Lehr­haus, das viele Berüh­rungs­punkte mit der Frank­fur­ter Uni­ver­si­tät hatte. Auch heute rich­tet die Uni­ver­si­tät einen star­ken Fokus auf die jüdi­sche Reli­gi­ons­wis­sen­schaft, -phi­lo­so­phie und Juda­is­tik, aber auch auf über die Gren­zen der Reli­gion hin­aus­ge­hende The­men wie Dyna­mi­ken des Reli­giö­sen, Erin­ne­rungs­kul­tu­ren oder „Erzie­hung nach Ausch­witz“, um nur einige Bei­spiele zu nennen.

In die­sem und dem vor­an­ge­gan­ge­nen Semes­ter haben die Jüdi­sche Aka­de­mie und die Uni­ver­si­tät eine Ring­vor­le­sung „Anti­se­mi­tis­mus. Erin­ne­rungs­kul­tur. Demo­kra­tie.“ ver­an­stal­tet – auch mit Blick auf die seit dem Über­fall der Hamas auf Israel am 7. Okto­ber 2023 sicht­bar gewor­dene Geschichtsvergessenheit.

Mit Zuver­sicht und Enga­ge­ment bli­cken die Ver­trags­part­ner auf eine Fülle von Mög­lich­kei­ten einer inten­si­ven wis­sen­schaft­li­chen Zusam­men­ar­beit, die gene­ra­tio­nen­über­grei­fende Spu­ren hin­ter­las­sen und für die jüdi­sche Exis­tenz in Deutsch­land nach­hal­tige und erkenn­bare Zei­chen set­zen wird.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2024-1/2025.

Von |2024-11-29T12:18:34+01:00November 29th, 2024|Antisemitismus, Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

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Zwi­schen Ver­ge­wis­se­rung und Positionierung

Doron Kiesel ist Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland.