Theatermacherin Liora Hilb entwickelt für Kinder und Jugendliche Stücke über die Shoah. Barbara Haack sprach mit ihr über ihre Erfahrungen.
Barbara Haack: Sie sind als 7-Jährige aus Tel Aviv nach Deutschland gekommen. Wie haben Sie damals das Leben als Jüdin in Deutschland wahrgenommen?
Liora Hilb: Meine Mutter wurde 1927 in Palästina geboren. Mein Vater war deutscher Jude aus Ulm, der 1939 noch fliehen konnte. Mein Vater war ein Deutscher, wie man sich eine deutsche Eiche vorstellen kann. Er hat 25 Jahre in Tel Aviv gelebt und kein Hebräisch gelernt. Ich weiß gar nicht genau, wie meine Eltern sich unterhalten haben. Meine Mutter sprach sehr gut Englisch, aber das konnte mein Vater auch nicht. Meine Mutter wiederum konnte kein Deutsch. Ich denke, dass meine Mutter ein bisschen Jiddisch verstanden hat und sie sich irgendwie verständigt haben.
Ich selbst habe nur Erinnerungen an Deutschland. Als wir nach Deutschland ausgewandert sind, war es nicht so wie heute, dass Eltern die Kinder auf die Emigration vorbereiten. Wir waren einfach hier. Für meine Mutter war das ein absolutes Trauma. In der Schule sagte meine Lehrerin, es wäre besser, wenn meine Mutter kein Hebräisch mehr mit mir sprechen würde. So habe ich sehr schnell Deutsch gelernt, aber leider meine Muttersprache verloren. Ich habe immer wieder versucht, meine Muttersprache neu zu erlernen, aber das ist mir bisher nicht gelungen.
In meinen ersten Tagen sah ich Kinder auf der Straße, ich wollte unbedingt zu ihnen. Ein großer Junge kam auf mich zu und hat mir eine geknallt. Einfach so. Ich habe überhaupt nicht verstanden, warum. Das war mein erster Moment …
Hatte das etwas mit Ihrem Jüdischsein zu tun?
Ich glaube eher damit, dass ich die Sprache nicht verstand und dass ich auch ein bisschen anders ausgesehen habe mit meinen schwarzen Locken. Es lag wohl eher daran, dass ich fremd war. Ich habe dann schnell Freunde gefunden. Aber der erste Moment war eine Fremdheitserfahrung. Als Kind habe ich das dann ziemlich schnell weggedrückt und schließlich alles akzeptiert.
Wie sind Sie zum Theater gekommen?
Mein Vater war unfassbar konservativ. Als ich Abitur gemacht habe, habe ich mich gar nicht getraut zu sagen, was ich machen möchte. Theater wäre gar nicht in Frage gekommen. Eigentlich konnte ich mit der Kunst erst anfangen, als mein Vater gestorben war. Dann habe ich eine Ausbildung an einer Schauspielschule in Italien gemacht. Danach war es klar, dass das mein Beruf werden wird.
Heute machen Sie Theater für Kinder und Jugendliche und beschäftigen sich mit Themen, die mit der Judenverfolgung und der Geschichte der Shoah, auch mit dem aktuellen Antisemitismus zu tun haben. Wie erleben Sie die Reaktion von Kindern und Jugendlichen auf diese Geschichten?
Das ist unterschiedlich. Ich habe zwei Stücke, die sich damit beschäftigen. „rememberRING“ ist die Geschichte über den Ring meiner Großmutter. Sie war zuerst in Theresienstadt, danach in Auschwitz, und dort wurde sie umgebracht. Diesen Ring hatte sie mitgenommen. Er ist auf wundersame Weise bei meinem Vater in Palästina gelandet. Kein Mensch weiß, wie das passiert ist. Ich habe immer gefragt, aber nie Antworten bekommen.
Dieses Schweigen bezog sich nicht nur auf den Ring, sondern auf die ganze Familiengeschichte?
Ja, ich habe immer wieder gefragt, wie es gewesen ist. Mein Vater hat nie ein Wort darüber verloren, er konnte nicht darüber sprechen. Diesen Ring bekam dann meine Mutter, und sie hat ihn mir geschenkt. Damals dachte ich schon: Die Geschichte dieses Ringes muss ich irgendwann auf die Bühne bringen. Aber ich habe mich nicht getraut, solange meine Mutter gelebt hat. Ich konnte mich erst künstlerisch damit auseinandersetzen, als meine Mutter gestorben war.
Die Geschichte, die ich erzähle, ist die Geschichte meiner Großmutter. Ich bin damit auf einer Spurensuche und weiß selbst nicht, wo ich lande. Ich versuche, die Jugendlichen mitzunehmen. Es ist aber eine komplizierte Geschichte, wie jede Geschichte der Shoah kompliziert ist. Wenn die Jugendlichen nicht auf das Stück vorbereitet werden, d. h., wenn sie nichts wissen – und leider ist es oft so, dass nur ganz wenige wissen, was Shoah bedeutet, was die Nazi-Zeit bedeutet, wie es für eine jüdische Familie war – dann sehe ich ratlose Blicke. Sie verstehen gar nicht, was ich da erzähle.
Da gibt es tatsächlich ein Nicht-Wissen auch bei Jugendlichen?
Ja, das ist manchmal sehr erschütternd. Da frage ich mich dann selbst: Macht es eigentlich Sinn? Ich habe auch Materialhefte für beide Stücke entwickelt. Aber die Lehrerinnen und Lehrer müssen sich mit dem Thema auseinandersetzen. Wenn das Stück vorbereitet ist, wenn die Jugendlichen wissen, worüber ich rede, dann macht es Sinn, dann gibt es danach einen Dialog. Es gibt magische Momente, dann entsteht Empathie. Aber nur dann.
Sie sagen, Sie begeben sich auf Spurensuche. Das Theaterstück ist also ein Prozess. Ist das auch für Sie selbst ein Prozess, mit dem Sie versuchen, die Leerstellen, von denen Sie sprechen, zu ergründen?
Auf jeden Fall, jedes Mal – obwohl ich „remembeRING“ schon seit 2016 spiele. In manchen Momenten merke ich: Ich weiß ja gar nichts. Oder ich frage mich: Wie war das denn? Wie hätte es sein können? Ich bin immer wieder selbst mit dieser Spurensuche beschäftigt.
Es ist gleichzeitig ganz wichtig, beim Spielen – gerade, weil es die Geschichte meiner Großmutter ist – künstlerisch die Distanz zu halten, damit alles, was ich erzähle, nicht zu gefühlig wird. Wenn mir das gelingt, ist es eine starke Aufführung.
Sie erzählen und spielen auch in diesem Stück?
Ja. Ich habe eine Tochter, Stella, die auch Schauspielerin ist. Mir war es wichtig, dass ich ein Stück Familiengeschichte an meine Tochter weitergebe. Sie kommt in dem Stück auch vor. Ich war in verschiedenen Hotspot-Schulen, habe mit den Jugendlichen an den Themen gearbeitet: Rassismus, Antisemitismus, Islamphobie. Die Haltungen und Meinungen dieser Jugendlichen trägt meine Tochter vor.
In den Workshops sind die Jugendlichen z. B. auf die Straße gegangen; ihre Aufgabe war es, in Zusammenhang mit den Stolpersteinen in Frankfurt-Höchst die Passanten zu fragen: Ist das denn überhaupt nötig? Was denken Sie über diese Erinnerungskultur? Deren Antworten haben wir aufgenommen, und Stella erzählt einige Antworten. Das ist dann ein Ansatzpunkt für die Jugendlichen – wenn sie denn überhaupt wissen, was Stolpersteine sind. Wenn sie es nicht wissen, und es wissen viele nicht, dann ist es mühselig.
Sie haben noch ein zweites Stück über die Shoah im Repertoire.
Ich wollte unbedingt ein Stück über die Shoah machen, das leichter zu verstehen ist, das linearer ist, mit einer Geschichte, die einen Anfang und ein Ende hat. Also habe ich das Stück „All that matters“ über die Kindertransporte von Prag nach London inszeniert. Diese Geschichte versteht jeder, Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Senioren. Der Link zur Gegenwart mit Vertreibung und Flucht kommt darin vor. Es sind in jeder Klasse so viele Kinder, die das selbst erlebt haben. Die kommen dann z. B. hinterher und sagen: Bei mir war das genauso. Und sie trauen sich dann auch, das öffentlich zu sagen. Das bewirkt etwas.
Neulich hat ein Mädchen gesagt: „Ach so, die Nazis waren ja so wie die AfD heute.“ Dann ist genau das eingelöst, was ich mir vorstelle.
Wie geht es Ihnen heute als jüdische Theatermacherin? Wie geht es Ihnen in Deutschland – gerade auch nach dem 7. Oktober 2023?
Der 7. Oktober war eine Zäsur, obwohl ich sagen muss, dass auch in den Jahren zuvor der Antisemitismus in meinen Theateraufführungen in Schulen zu spüren war. Die Lehrerinnen und Lehrer waren oft nicht in der Lage in der anschließenden Nachbesprechung eine Moderation zu führen.
Aus antisemitischen Gründen oder eher aus Unkenntnis oder Unlust?
Ich glaube, weil es sie total überfordert hat. Die Lehrerinnen und Lehrer waren nicht in der Lage, sich in diesem Konflikt zu positionieren. Nach dem 7. Oktober hat sich alles verändert. Die Haltung mir gegenüber war wenig zugewandt – eher vorsichtig und manchmal auch gegen mich. Auf der Bühne ist es ganz klar, dass ich Jüdin bin und dass ich aus Israel komme. In „remembeRING“ gibt es eine Szene, in der meine Tochter mich fragt, ob ich den Davidstern trage. Dann sage ich: Natürlich trage ich ihn, aber in manchen Situationen stecke ich ihn unter das Kleid, damit man ihn nicht sieht.
Ich habe für beide Stücke jeweils den Karfunkelpreis der Stadt Frankfurt bekommen, 2017 und 2024. In meiner Rede habe ich erzählt, was mich berührt, welche Antworten ich manchmal bekomme, wenn ich den Schulen meine Stücke anbiete. Z. B. dass wir zuerst mit den Eltern der muslimischen Kinder sprechen müssen, ob wir über die Shoah reden dürfen. Das sind harte Momente.
Es ist sehr heftig, dass so wenige Menschen, Freunde oder Kollegen ihre Empathie gezeigt haben, mich angerufen oder gefragt haben. Das hat mich sehr verunsichert.
Dem Kulturbereich wurde nach dem 7. Oktober vorgeworfen, sich nicht deutlich und laut genug gegen den Überfall der Hamas, gegen jede Form des Antisemitismus positioniert zu haben. Wie erleben Sie das?
Ich erlebe oft eine „Zurück-Haltung“, also gar keine Haltung. Es gibt Momente, die mir Hoffnung geben. Aber ich habe diese Zurückhaltung und die fehlende Empathie im Kulturbereich stark empfunden. Durch den schrecklichen Krieg, den Netanjahu führt, hat sich das noch einmal verstärkt.
Nach dem 7. Oktober wurden mir auch Veranstaltungen von „remembeRING“ abgesagt mit der Begründung, dass Randale entstehen könnte, dass die muslimische Schülerschaft das nicht akzeptieren könnte. Ich finde es nicht gut, wenn man da einknickt. Viele sind jetzt sehr verunsichert. Lehrerinnen und Lehrer, die sich engagieren wollen, werden oft von Kolleginnen, Kollegen oder Schulleitungen nicht unterstützt. Dann wird es schwer, etwas durchzuziehen.
Sie machen aber weiter: Wie weit kann aus Ihrer Sicht Theater oder Kultur dazu beitragen, dass es das „Nie wieder“ tatsächlich nicht wieder gibt?
Ich gebe nicht auf. In den Schulen muss etwas passieren. Dass die Schüler in der neunten Klasse erstmals etwas über die Shoah erfahren, ist erbärmlich. Wenn ich etwas spiele und sie die Geschichte verstehen, bewirkt es etwas. Es ist mein großes Anliegen Kinder und Jugendliche mit meinen Stücken emotional zu erreichen. Dafür brenne ich, jedes Mal aufs Neue.
Mit zunehmendem zeitlichem Abstand wird die Erinnerung an die Shoah umso mehr zu einer drängenden politischen, pädagogischen und auch künstlerischen Aufgabe. Die Kunst kann wesentlicher Bestandteil einer lebendigen Erinnerungs-kultur sein. Sie kann mit kritischem Bewusstsein „in die Resonanzräume der Geschichte lauschen“, und von ihnen lernen. Erinnerung ist die wesentliche Kategorie im Umgang mit der Vergangenheit und weist stets den Weg in die Gegenwart.
James Baldwin sagte einmal: „Geschichte ist nicht die Vergangenheit. Sie ist die Gegenwart. Wir tragen unsere Geschichte mit uns. Wir sind unsere Geschichte.“
Zur Bewahrung dieser Geschichten kann das Theater ein Vermittlungsmedium sein. Davon bin ich überzeugt. Und man muss gerade heute den Mut haben, sich mit dieser Geschichte zu beschäftigen.
Vielen Dank.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2024-1/2025.