Ein Tsu­nami der Judenfeindlichkeit

Über den Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus in Deutschland

Als ich am 7. Okto­ber 2023 im Laufe des Vor­mit­tags Dut­zende Emails, SMS, Eil­mel­dun­gen und Anrufe erhielt, erfüllte mich eine fast über­wäl­ti­gende Mischung an Gefüh­len: Schock, Wut, Trauer und Ekel. Es dau­erte noch Monate an, bis ich die Bil­der und Beschrei­bun­gen des bes­tia­li­schen Ter­ror­an­griffs der Hamas und ihrer Mit­tä­ter auf Israel eini­ger­ma­ßen ver­ar­bei­ten konnte. Par­al­lel zu die­sen Gefüh­len setzte aber auch etwas Uner­war­te­tes in mir ein. Ich war dank­bar, zu die­sem Zeit­punkt mein Amt als Beauf­trag­ter der Bun­des­re­gie­rung für jüdi­sches Leben in Deutsch­land und den Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus inne­zu­ha­ben. Denn obwohl mit dem 7. Okto­ber 2023 die bis­lang wohl schwerste Zeit seit mei­nem Amts­an­tritt begon­nen hat, habe ich durch die­ses Amt die Mög­lich­keit, auf beson­dere Weise gegen die Gefähr­dung unse­rer Demo­kra­tie vor­zu­ge­hen. In einer Zeit der gefühl­ten Ohn­macht nach dem Tag mit den meis­ten jüdi­schen Ermor­de­ten seit der Shoah konnte und musste ich han­deln: Ent­ge­gen der nor­ma­len mensch­li­chen Reak­tion nach einem der­art bru­ta­len Ter­ror­akt folgte auf den anti­se­mi­ti­schen Mas­sen­mord nicht etwa Soli­da­ri­tät mit Israel und Jüdin­nen und Juden in Deutsch­land, son­dern ein seit Bestehen der Bun­des­re­pu­blik nicht gekann­ter Tsu­nami der Judenfeindlichkeit.

Als Beauf­trag­ter ist es meine Auf­gabe, den Betrof­fe­nen von Anti­se­mi­tis­mus zuzu­hö­ren und ihrer Per­spek­tive Gehör zu ver­schaf­fen – in der Poli­tik, in den Medien, in der Öffent­lich­keit. Seit dem 7. Okto­ber ist das not­wen­di­ger denn je. Dabei ist nicht nur der große Anstieg anti­se­mi­ti­scher Straf­ta­ten in den Mona­ten nach dem Ter­ror­an­griff und ihre Ver­ste­ti­gung auf einem sehr hohen Niveau bis heute zu bekla­gen, son­dern auch der frap­pie­rende Man­gel an Mit­ge­fühl in der Bevöl­ke­rung für die Situa­tion der jüdi­schen Gemein­schaft. Was ich in Gesprä­chen immer wie­der höre: Jüdin­nen und Juden füh­len sich allein gelas­sen in der öffent­li­chen Debatte, viele auch in ihrem direk­ten Umfeld. Das darf nicht sein und dage­gen rede ich in jedem Forum und zu jeder Gele­gen­heit – im wahrs­ten Sinne des Wor­tes – an.

Mit der uner­träg­li­chen Situa­tion für die jüdi­sche Com­mu­nity sind natür­lich auch ihre Bedarfe gewach­sen. Ob für in der Betrof­fe­nen­be­ra­tung Aktive, für Pro­jekte im Kul­tur­be­reich oder bei kurz­fris­tig ein­be­ru­fe­nen Kon­fe­ren­zen zum Umgang mit dem gras­sie­ren­den Juden­hass: Ich stehe als ers­ter Ansprech­part­ner der Bun­des­re­gie­rung für jüdi­sche und anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Orga­ni­sa­tio­nen und Initia­ti­ven bereit zum Aus­tausch, um zu bera­ten und Mög­lich­kei­ten finan­zi­el­ler För­de­rung zu erörtern.

Neben die­sen kurz­fris­tig wirk­sa­men Maß­nah­men ist auch ein Blick in die nahe und mit­tel­fris­tige Zukunft not­wen­dig, um Juden­hass nach­hal­tig bekämp­fen zu kön­nen. Daher habe ich Ergän­zun­gen im Straf­ge­setz­buch vor­ge­schla­gen, die die Straf­ver­fol­gung anti­se­mi­ti­scher Straf­tä­ter erleich­tern würde: Ers­tens sollte bei Fäl­len von Volks­ver­het­zung die Not­wen­dig­keit eines Inlands­be­zugs gestri­chen wer­den. Zwei­tens sollte die Bil­li­gung und Beloh­nung von Straf­ta­ten von Ter­ror­or­ga­ni­sa­tio­nen im Aus­land, z. B. der Hamas oder der His­bol­lah, sank­tio­niert wer­den kön­nen. Außer­dem darf es nicht sein, dass der Staat anti­se­mi­ti­sche Nar­ra­tive und andere For­men der grup­pen­be­zo­ge­nen Men­schen­feind­lich­keit in Kul­tur und Zivil­ge­sell­schaft finan­zi­ell för­dert. Bereits jetzt ist es grund­sätz­lich mög­lich, dass schon geflos­sene Mit­tel zurück­ge­for­dert wer­den kön­nen, wenn im Nach­hin­ein bekannt wird, dass damit anti­se­mi­ti­sche Ideen geför­dert wur­den. Dies ist in Bezug auf die infame docu­menta fif­teen und den dort zu Hauf aus­ge­stell­ten Juden­hass bis heute nicht geschehen.

Bei allem bestehen­den Ver­bes­se­rungs­be­darf im Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus sind wir in Deutsch­land im inter­na­tio­na­len Ver­gleich gut auf­ge­stellt. Beson­ders die Arbeit unse­rer Sicher­heits­be­hör­den ist geprägt von einem tief­ge­hen­den Ver­ständ­nis der Pro­ble­ma­tik und der Not­wen­dig­keit, Juden­feind­lich­keit im Inter­esse der direkt Betrof­fe­nen, aber auch zur gene­rel­len Ver­tei­di­gung unse­rer frei­heit­li­chen Demo­kra­tie zu bekämp­fen. Mit dem Pro­gramm „Demo­kra­tie leben!“ des Bun­des­fa­mi­li­en­mi­nis­te­ri­ums wer­den zahl­rei­che Initia­ti­ven gegen Juden­hass geför­dert, das Bun­des­mi­nis­te­rium für Bil­dung und For­schung för­dert ein Dut­zend For­schungs­pro­jekte zu Anti­se­mi­tis­mus in unter­schied­li­chen Berei­chen, um nur zwei Bei­spiele von vie­len wei­te­ren Initia­ti­ven bei der Prä­ven­tion von Anti­se­mi­tis­mus zu nennen.

Nichts­des­to­trotz befürchte ich, dass es in die­sem Feld auch in Zukunft Gründe für Schock, Wut, Trauer und Ekel geben wird. Anti­se­mi­tis­mus ist die älteste Form grup­pen­be­zo­ge­ner Men­schen­feind­lich­keit in Europa. Er wird trotz größ­ter Anstren­gun­gen nicht von heute auf mor­gen ver­schwin­den. Wir wis­sen aber auch, dass wir etwas dage­gen unter­neh­men kön­nen, dass wir ihn zurück­drän­gen kön­nen und dass die­je­ni­gen, die ihn aus­le­ben, bei uns nicht mit Nach­sicht rech­nen können.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2024-1/2025.

Von |2024-11-29T12:09:29+01:00November 29th, 2024|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

Ein Tsu­nami der Judenfeindlichkeit

Über den Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus in Deutschland

Felix Klein ist Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.