Das Bemühen um ein friedvolles Zusammenleben der Religionen und Kulturen, um Verständigung und gegenseitigen Respekt ist heute stärker denn je gefordert. Der Dialog ist elementar für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in jeder Demokratie. Die Festigung der jüdischen Kultur im heutigen Deutschland kann wichtige Impulse zu diesem Dialog geben. Speziell die jüdische Musikkultur, die sich durch eine bemerkenswerte stilistische Offenheit auszeichnet, kann zum Erhalt verbindender geistiger Werte unserer Gesellschaft beitragen.
Eine der denkwürdigsten Aufführungen in diesem Kontext fand vor 30 Jahren statt, am 7. April 1994. Es war der jüdische Holocaust-Gedenktag Yom HaShoa; an diesem Tag wurde im Vatikan zum ersten Mal offiziell der sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden gedacht. Die Gedenkveranstaltung fand in Form eines Konzerts statt. Das Programm schloss neben der Musik von Leonard Bernstein und Ludwig van Beethoven zwei Kompositionen ein, die den christlich-jüdischen Dialog auf dem musikalischen Gebiet veranschaulichten: Das war zum einen „Kol nidrei“ von Max Bruch für Violoncello und Orchester (1880), ein Werk, das auf Grundlage einer der wichtigsten jüdischen liturgischen Melodien komponiert wurde. Das andere Stück war Franz Schuberts Vertonung des „Psalm 92“ in hebräischer Sprache, die 1828, im letzten Lebensjahr des Komponisten, im Auftrag des Wiener Synagogenkantors Salomon Sulzer (1804–1890) geschrieben wurde. Als junger Musiker war Sulzer mit Franz Schubert befreundet. Schubert schätzte Sulzers Qualitäten als Sänger, er bezeichnete ihn sogar als einen der besten Interpreten seiner Lieder. Schuberts hebräischer Psalm und seine Zusammenarbeit mit dem jüdischen Kantor Salomon Sulzer gelten geradezu als Verkörperung eines idealen – auch idealisierten – Bilds von produktiven und gleichberechtigten christlich-jüdischen Beziehungen.
Als der deutsche Dirigent und Nazigegner Fritz Busch (1890-1951) in seinem New Yorker Exil an einem jüdischen Chorfestival teilnahm, knüpfte er sein Engagement an die von Franz Schubert begründete Tradition an: „Ich trete in die Fußstapfen eines sehr großen und sehr liebenswerten deutschen Musikers, Franz Schubert. Vor hundert Jahren (…) hat Schubert, deutsch und christlich, wie er nur sein konnte, ein Chorwerk zu hebräischen Worten für den synagogalen Gottesdienst seines Freundes, des berühmten Kantors Salomon Sulzer aus Wien, komponiert. Es ist in Sulzers Sammlung veröffentlicht und wird vom jüdischen Volk in der ganzen Welt als sein eigenes verwendet.“
Es sind schöne, harmonische Worte und auch Schuberts Psalm-Vertonung ist schön und harmonisch, man hört diesem Klang des Dialogs gern zu. Unsere Zeit ist aber alles andere als harmonisch, sie ist voll mit Dissonanzen, die zum Teil extrem schmerzlich sind.
Mehr als ein Jahr ist inzwischen seit dem Alptraum des 7. Oktober 2023 vergangen, dem Tag, der in die jüdische Geschichte als eine neuerliche tragische Zäsur eingehen wird. Seitdem ist auch im Musikbereich vieles geschehen, was dem Klang des Dialogs entgegengesetzt ist. Die Ablehnung des jüdischen Staats gehört heute in der Kulturszene zu einem „progressiven“ ideologischen Paket neben der Gender- und Klimaideologie, der Critical Race Theory, Intersektionalität und einigen anderen Bestandteilen. Diese Ideen dürfen nicht hinterfragt werden, sie werden wie Glaubensgrundsätze behandelt und sind von Hypermoralismus geprägt. Es finden weder Diskussionen statt, noch sind halbwegs differenzierte Darstellungen möglich.
Das gilt insbesondere für diejenigen Teile der Musikszene, die nach 1945 unter den Bedingungen des Kalten Kriegs geformt wurden und seitdem stark ideologisch beeinflusst sind: die Neue Musik und die populäre Musik. Es ist wichtig zu betonen: Die juden- und israelfeindlichen Ressentiments sind speziell in denjenigen Bereichen des Musiklebens zu beobachten, in denen es nicht nur um Musik als Musik geht, sondern in denen die Musik als Vehikel zur Vermittlung ideologischer Botschaften, als Mittel zur „Verbesserung“ der Welt dient. So wird von Musikern erwartet, dass sie in den sozialen Netzwerken zum sogenannten Nahostkonflikt ein Bekenntnis abgeben. Dort wird nicht erst seit dem 7. Oktober fleißig gepostet, gelikt und geteilt. Jeder muss zeigen, dass er auf der „richtigen“ Seite steht. Was man nur selten findet, sind die abweichenden Meinungen. Die wenigsten Musiker – es sind fast ausschließlich Israelis –, die noch versuchen, das herrschende Narrativ in Frage zu stellen, werden mit wüsten Beschimpfungen überzogen und aus der „Glaubensgemeinschaft“ exkommuniziert.
Auch für die jüdischen Musikfestivals stellt die Situation nach dem 7. Oktober eine neue Herausforderung dar. Das gilt auch für die beiden Festivals, in die ich als wissenschaftlicher Leiter bzw. als Musikberater involviert bin: die ACHAVA Festspiele Thüringen und das Festival Shalom-Musik.KOELN.
„Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken“ – diese Friedensvision aus dem biblischen Propheten-Buch Micha hatten der Intendant der ACHAVA Festspiele Martin Kranz und ich vor zehn Jahren als Leitspruch des Festivals gewählt. „Wir dürfen nicht zulassen, dass das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Abstammung, religiöser oder weltanschaulicher Überzeugung und Tradition in Europa und in unserem Land von Misstrauen, Angst und Hass, von religiösem Fundamentalismus und Fremdenfeindlichkeit bestimmt wird“, schrieben wir damals in unserer Ankündigung der Festival-Premiere. „Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, ja lebensnotwendig, die Gedanken von Menschlichkeit und Frieden, von Toleranz und Dialog verstärkt zum Ausdruck zu bringen.“ Der Kernpunkt des Festivals wurde der interreligiöse und interkulturelle Dialog: „Jüdische Kultur wird dabei als eine Kraft verstanden, die Völker verbinden und Frieden stiften kann.“ Seitdem haben sich die ACHAVA Festspiele tatsächlich als wichtiger und international renommierter Ort der kulturellen Begegnung etabliert, dessen positive öffentliche Ausstrahlung weit über die Grenzen Thüringens hinausgeht.
Gleiches gilt auch für das erst 2022 gegründete Festival Shalom-Musik.KOELN. Die Festivalmacherinnen Claudia Hessel, Ulrike Neukamm und Thomas Höft entwickelten ein höchst erfolgreiches Konzept, das auf ein lebendiges Miteinander in der Musik statt auf vordergründige Politisierung setzt. Die zweite Ausgabe des Festivals im August 2024 unter dem Motto „Together Now“ ließ das interessierte Publikum in zahlreichen fast ausnahmslos ausverkauften Veranstaltungen die außergewöhnliche Vielfalt jüdischer Musik und Kultur erleben. „Wie schön ist es, wenn Menschen wieder einmal für etwas zusammenkommen und nicht gegen etwas“, äußerte dazu eine Besucherin – die Worte, die Anlass zur Hoffnung und Zuversicht geben.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2024-1/2025.