Ein grund­sätz­li­ches Sicher­heits­ge­fühl ist erodiert

Jüdi­sches Leben in Deutsch­land nach dem 7. Oktober

Die Nach­rich­ten zur Lage der Juden auf der Welt tref­fen in Israel von über­all her ein. Seit dem 7. Okto­ber 2023 sind es sprung­haft mehr gewor­den. Über anti­se­mi­ti­sche und anti-israe­li­sche Vor­fälle im Aus­land wird im Fern­se­hen berich­tet, in den Zei­tun­gen, sozia­len Medien und in grenz­über­grei­fen­den Fami­lien-Whats­app-Grup­pen. Manch­mal hört man schon davon, bevor so etwas – wenn über­haupt – vor Ort in den Schlag­zei­len auftaucht.

So wie im Novem­ber in Ams­ter­dam, als israe­li­sche Fuß­ball­fans offen­bar vor­sätz­lich von pro­pa­läs­ti­nen­si­schen Schlä­ger­trupps ange­grif­fen wur­den. Seit­her gibt es War­nun­gen vor ähn­li­chen Sze­na­rios auch anderswo in Europa. Lie­ber gar nicht erst hin­fah­ren, heißt es, und wenn, dann sollte man die eigene Her­kunft so weit wie mög­lich ver­ber­gen. „Gibt es ein ande­res Land auf der Welt“, fragte jüngst ein israe­li­scher Rund­funk­mo­de­ra­tor, „deren Bewoh­ner nicht sagen dür­fen, woher sie kommen?“.

Jetzt ließe sich argu­men­tie­ren, dass es in sol­chen Fäl­len ja „nur“ der Nah­ost-Kon­flikt ist, der da expor­tiert wird, dass die Gewalt der Angrei­fer also nicht unbe­dingt anti­se­mi­tisch moti­viert wäre. Das würde die Straf­ta­ten zwar nicht legi­ti­mie­ren, die Täter aber vom Vor­wurf des blan­ken Juden­has­ses befreien, der nun mal in Europa und beson­ders in Deutsch­land so schwer wiegt.

Die anti­se­mi­ti­sche Kom­po­nente aber lässt sich schwer ver­drän­gen. Denn warum waren die israe­li­schen Fuß­ball­fans nachts von ihren mus­li­mi­schen Ver­fol­gern in Ams­ter­dam vor­sorg­lich gefragt wor­den, ob sie „Juden“ seien? Und aus wel­chem Grund sonst wur­den am Tag danach in Ber­lin Spie­ler des jüdi­schen Fuß­ball­clubs Mac­cabi belei­digt und bespuckt?

Für beide Grup­pen, Israe­lis wie ansäs­sige Juden, ist das heu­tige Europa vie­ler­orts wie­der mit Angst besetzt. Deutsch­land bleibt dabei ein beson­de­res Ter­ri­to­rium. Dass es dort nach dem Holo­caust erneut jüdi­sches Leben gab, galt dort als ein wich­ti­ger Grad­mes­ser für den eige­nen demo­kra­ti­schen Wan­del. Für Israe­lis aber blieb die Prä­senz von Juden in Deutsch­land lange Zeit unver­ständ­lich und oft­mals auch ver­ach­tens­wert. Wie bloß könne man nur im Land der Täter leben! Dass sich das änderte, hat damit zu tun, dass die Bun­des­re­pu­blik die Ver­gan­gen­heit nicht län­ger unter den Tisch kehrte.

In einer Umfrage der Hebräi­schen Uni­ver­si­tät vom März 2024 beschrei­ben 70 Pro­zent der jüdi­schen Israe­lis die Bezie­hun­gen zu Deutsch­land als nor­mal, das ist ein höhe­rer Pro­zent­satz, als wenn es um die Bezie­hun­gen zu Frank­reich oder Groß­bri­tan­nien geht. „Nor­mal“ lässt sich hier womög­lich mit „gut“ gleich­set­zen, und Deutsch­land gilt als enger poli­ti­scher Ver­bün­de­ter – gleich nach den Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Deutsch­land beher­bergt heute die dritt­größte jüdi­sche Gemeinde in Europa, nach Frank­reich und Groß­bri­tan­nien. Im Ver­gleich mit die­sen ande­ren Län­dern kommt Deutsch­land immer noch eher glimpf­lich weg, was Vor­fälle und Umgang mit Anti­se­mi­tis­mus betrifft.

Doch hat sich auch in Deutsch­land seit dem 7. Okto­ber etwas ver­än­dert. Ein grund­sätz­li­ches Sicher­heits­ge­fühl ist ero­diert. Das gilt für deut­sche Juden ebenso wie für zehn­tau­sende Israe­lis, die in Ber­lin leben. In der Ver­gan­gen­heit taten sich viele die­ser vor allem säku­la­ren Israe­lis, auf­ge­wach­sen als Teil einer Mehr­heits­ge­sell­schaft, schwer, das Min­der­hei­ten­da­sein von Juden in der Dia­spora zu ver­ste­hen. Was alle jetzt eint, ist die Angst vor der eige­nen Sichtbarkeit.

Konnte man noch vor mehr als einem Jahr in den Ber­li­ner öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln viel Hebrä­isch hören, ist diese Lärm­ku­lisse ver­stummt. Israe­lis reden nicht mehr laut mit­ein­an­der, so wie viele deut­sche Juden längst ihren David­stern unter dem Pull­over ver­ste­cken und ihre Cha­nukka-Leuch­ten nicht mehr ins Fens­ter stel­len. Jüdi­sche Stu­den­ten haben ihre Vor­na­men geän­dert, um auf dem Cam­pus nicht iden­ti­fi­ziert zu werden.

Das Bild von Men­schen, die das Mas­sa­ker der Hamas auf der Ber­li­ner Son­nen­al­lee mit dem Ver­tei­len von Bak­lava fei­er­ten, habe sich in die jüdi­sche Kol­lek­ti­v­er­in­ne­rung ein­ge­brannt, schrieb die israe­li­sche „Haa­retz“. Das sei ernüch­ternd gewe­sen, auch für man­che selbst­er­klär­ten anti­zio­nis­ti­schen Israe­lis, die sich aus lau­ter Kri­tik an ihrem Land sogar ihrer Pässe ent­le­digt hat­ten. Zum ers­ten Mal in sei­nem Leben habe er ver­stan­den, „was es heißt, ein Jude zu sein“, wurde einer von ihnen zitiert.

Viele erzäh­len von der feh­len­den Empa­thie in ihrem deut­schen Umfeld direkt nach dem 7. Okto­ber, von zer­bro­che­nen Freund­schaf­ten. Dass die deut­sche Regie­rung klare Worte gefun­den hat, steht offen­bar im Kon­trast zu einer ande­ren Ten­denz: dass man sich mit den Paläs­ti­nen­sern in Gaza soli­da­ri­sie­ren möchte, sich aber schwer­tut, Worte für die Mas­sa­ker in Israel finden.

In inner­deut­schen Debat­ten rin­gen Poli­tik und Gesell­schaft nun schon län­ger über den „rich­ti­gen“ Umgang mit Anti­se­mi­tis­mus. Die Frage danach, wo Kri­tik an Israel auf­hört und die Linie zur juden­feind­li­chen Hetze über­schrit­ten wird, steht dabei im Zen­trum. Oft geht es dabei aller­dings auch darum, wer die Kri­tik äußert und ob in man­chen Fäl­len nicht mehr „Spiel­raum“ ange­bracht wäre, wie im Fall der indo­ne­si­schen Künst­ler auf der documenta.

Unum­strit­ten ist, dass es Anti­se­mi­tis­mus im rech­ten, im links­extre­men und im mus­li­misch-migran­ti­schen Milieu gibt. Von außen betrach­tet fin­det aber in Deutsch­land heute eine Art Lager­kampf statt, bei dem es darum geht, das oder die jeweils ande­ren Lager als den/die grö­ße­ren Urhe­ber von Anti­se­mi­tis­mus anzu­pran­gern. Der Vor­wurf wird innen­po­li­tisch instrumentalisiert.

Für die poten­zi­el­len Opfer ist das wenig hilf­reich. Kon­kre­ter Schutz ist gefragt. Man will sich im Ernst­fall auf die Poli­zei ver­las­sen kön­nen, egal von wo die Gefahr droht. Hol­län­di­schen Sicher­heits­kräf­ten soll es aus ideo­lo­gi­schen Grün­den frei­ge­stellt gewe­sen sein, sich am Schutz von jüdi­schen und israe­li­schen Insti­tu­tio­nen zu betei­li­gen. Wie macht das die Poli­zei in Deutsch­land, fragt man sich seither.

Zugleich geht man in Israel womög­lich ent­spann­ter mit Kri­tik um, als es die oft­mals reflex­haf­ten Äuße­run­gen israe­li­scher Medien und Regie­rungs­ver­tre­ter sug­ge­rie­ren. Dass Kri­tik an Israel mit Anti­se­mi­tis­mus gleich­zu­set­zen sei, fin­den nach der oben genann­ten Umfrage nur 29 Pro­zent der jüdi­schen Israe­lis. Eine Mehr­heit betrach­tet Kri­tik an Israel nicht unbe­dingt als eine Form von Anti­se­mi­tis­mus, sieht aber, zumin­dest manch­mal, durch­aus eine Ver­bin­dung zwi­schen beidem.

Was viele Juden in Deutsch­land, genauso wie jüdi­sche Israe­lis – hier und dort – gemein­sam haben, ist das Nach­den­ken über das Weg­ge­hen. Die einen über­le­gen, nach Israel ein­zu­wan­dern, weil sie sich nicht mehr sicher füh­len, wo sie sind, oder sie den­ken daran wie­der dort­hin zurück­zu­keh­ren; andere wol­len Israel ver­las­sen, weil sie sich für ihre Nach­kom­men eine bes­sere Zukunft wün­schen. Es bleibt nur die Frage nach dem Wohin.

Wei­tere Infor­ma­tio­nen online unter: hu-ef-barometer.huji.ac.il/

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2024-1/2025.

Von |2024-11-29T13:12:10+01:00November 29th, 2024|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

Ein grund­sätz­li­ches Sicher­heits­ge­fühl ist erodiert

Jüdi­sches Leben in Deutsch­land nach dem 7. Oktober

Gisela Dachs ist Professorin am Europäischen Forum der Hebräischen Universität in Jerusalem und Publizistin.