Das Gebot, die Welt zu hei­len – Jüdi­sche Muse­ums­ar­beit in der Gegenwart

Gekürzte Form eines Vor­trags in Frank­furt am 18.11.2024 im Rah­men der Kon­fe­renz „Jüdi­sches Leben in Deutsch­land im Span­nungs­feld zwi­schen Anpas­sung und Autonomie“

Vor zehn Jah­ren, im Mai 2014, stürmte ein Mit­glied der Ter­ror­or­ga­ni­sa­tion Isla­mi­scher Staat mit einem Maschi­nen­ge­wehr in das Jüdi­sche Museum Brüs­sel und erschoss unsere Muse­ums­kol­le­gen Alex­andre Strens und Domi­ni­que Sab­rier sowie Miriam und Emma­nuel Riva, die aus Israel nach Brüs­sel gereist waren und just an die­sem Tag das Museum besu­chen woll­ten. Die Ermor­dung von vier Men­schen hin­ter­ließ nicht nur einen tie­fen Schmerz bei den Ange­hö­ri­gen und ein Trauma bei unse­ren Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen in Brüs­sel. Sie hat auch das Feld der Jüdi­schen Museen in Europa nach­hal­tig ver­än­dert. Obwohl die meis­ten der euro­pa­weit mehr als 50 Jüdi­schen Museen sich in staat­li­cher Trä­ger­schaft befin­den, wis­sen wir seit­her, dass wir in der Wahr­neh­mung von Dschi­ha­dis­ten, Rechts­extre­mis­ten und gewalt­be­rei­ten Anti­se­mi­ten vor allem eines sind: Orga­ni­sa­tio­nen, in denen sie ihren Hass gegen Jüdin­nen und Juden aus­le­ben kön­nen. Das Jüdi­sche Museum Frank­furt war bis zum Anschlag von Brüs­sel ein offe­nes Haus ohne beson­dere Sicher­heits­kon­trol­len. In den letz­ten zehn Jah­ren hat sich dies grund­le­gend geän­dert, und Sie kön­nen sicher sein, dass auch dem heu­ti­gen Tag inten­sive Gefähr­dungs­be­ur­tei­lun­gen vor­aus­ge­hen und er von ent­spre­chend ange­pass­ten Sicher­heits­maß­nah­men beglei­tet wird. Nichts­des­to­trotz spie­len die Idee und die Hal­tung eines offe­nen Hau­ses für unser Museum eine zen­trale Rolle. Als ich Anfang Januar 2016 die Lei­tung die­ses Muse­ums über­nahm, waren unsere bei­den Häu­ser, das Museum Juden­gasse wie auch das Jüdi­sche Museum im Roth­schild-Palais geschlos­sen, weil unser Trä­ger, die Stadt Frank­furt, mit Unter­stüt­zung des Lan­des Hes­sen beschlos­sen hatte, sie einer grund­le­gen­den Sanie­rung, Erwei­te­rung und Erneue­rung zu unter­zie­hen. Als wir etwas mehr als vier Jahre spä­ter die­sen neuen Muse­ums­kom­plex wie­der­eröff­nen durf­ten, stell­ten wir unsere Muse­ums­ar­beit unter das Motto „Wir sind jetzt“ und for­mu­lier­ten die Hal­tung, ein „Museum ohne Mau­ern“ sein zu wol­len: ein­la­dend und freund­lich, zugäng­lich für diverse Men­schen mit diver­sen Hin­ter­grün­den und Bega­bun­gen – beflü­gelt von der Über­zeu­gung, dass die Geschichte von Jüdin­nen und Juden in der Dia­spora wie auch in die­ser Stadt ein­ma­lig und zugleich von uni­ver­sa­len Wer­ten gekenn­zeich­net ist. Die plu­rale jüdi­sche Kul­tur ist von zen­tra­ler Bedeu­tung für den Wer­te­ka­non der euro­päi­schen Gesell­schaft. Sie ist sowohl der Aus­gangs- wie auch der Bezugs­punkt eines euro­päi­schen Selbst­ver­ständ­nis­ses, das vor dem Hin­ter­grund des Zwei­ten Welt­kriegs und mit Blick auf das Mensch­heits­ver­bre­chen der Shoah ent­stand und sich am Umgang mit Jüdin­nen und Juden sowie mit ande­ren gesell­schaft­li­chen Min­der­hei­ten, die von den Natio­nal­so­zia­lis­ten ver­folgt und ermor­det wur­den, behaup­ten und erwei­sen muss: Sinti und Roma, LGBTQ, Men­schen mit Ein­schrän­kun­gen sowie sozia­len Stig­ma­ti­sie­run­gen. Getra­gen von der Über­zeu­gung, dass das Sam­meln, Bewah­ren und Ver­mit­teln jüdi­scher Kul­tur­gü­ter in Frank­furt auch eine Auf­gabe mit genuin euro­päi­schem Cha­rak­ter ist, for­mu­lier­ten wir in Vor­be­rei­tung auf unsere Wie­der­eröff­nung ein Mis­sion State­ment, das für unsere Arbeit nach wie vor maß­geb­lich ist. Es endet mit den Wor­ten: „Die jüdi­sche Erfah­rung von Dis­kri­mi­nie­rung und Gewalt wie auch des Rin­gens um Gleich­be­rech­ti­gung und soziale Teil­habe ist von unver­min­der­ter Aktua­li­tät. Vor die­sem Hin­ter­grund wol­len wir zu inter­kul­tu­rel­ler Ver­stän­di­gung und zur Selbst­re­fle­xion anre­gen. Wir ver­ste­hen unsere Arbeit als ver­netz­tes Han­deln im digi­ta­len und sozia­len Raum und wir­ken dar­auf hin, dass in Europa offene, auf­ge­klärte und zivile Gesell­schaf­ten fort­be­stehen, in deren Mitte Jüdin­nen und Juden wei­ter­hin leben wol­len und können.“

Als wir uns auf den Wort­laut die­ses State­ments einig­ten, ahn­ten wir nicht, dass der Anschlag von Halle am 9. Okto­ber 2019, die Pan­de­mie in den Jah­ren 2020/21, der rus­si­sche Angriffs­krieg auf die Ukraine seit Februar 2022, das Mas­sa­ker von Hamas am 7. Okto­ber 2023 und der dar­auf­fol­gende Krieg in Israel, Gaza und Liba­non unsere Gegen­wart in kur­zer Zeit so dras­tisch ver­än­dern sollte. Seit mehr als einem Jahr befin­den wir uns nun in einer Art Abwehr­kampf gegen Hass, Hetze, Des­in­for­ma­tion und Gewalt­be­reit­schaft und spü­ren, was das Sprich­wort „Jews are the Canary in the Coal Mine“ impli­ziert: Der Sau­er­stoff der demo­kra­ti­schen Werte, auf wel­chen die euro­päi­sche Union begrün­det ist, wird dün­ner. Wir haben es uns daher zur Auf­gabe gemacht, die­ses Porös­wer­den demo­kra­ti­scher Werte in unse­rer Muse­ums­ar­beit zu the­ma­ti­sie­ren, indem wir etwa über die zuneh­mende Pola­ri­sie­rung des deut­schen Feuil­le­ton-Dis­kur­ses ent­lang der Linien Wis­sen­schafts-, Kunst- und Mei­nungs­frei­heit auf der einen und Recht von gesell­schaft­li­chen Min­der­hei­ten auf Schutz vor Dis­kri­mi­nie­rung und Ver­leum­dung auf der ande­ren Seite dis­ku­tie­ren. Auch machen wir seit eini­ger Zeit immer wie­der öffent­lich auf den Van­da­lis­mus an den bei­den von uns betreu­ten Erin­ne­rungs­stät­ten an die Shoah auf­merk­sam, ebenso wie auf die Ero­sion des Ver­trau­ens von Jüdin­nen und Juden, in die­sem Land sicher und in Würde leben zu kön­nen. Im Rah­men einer kon­zen­trier­ten Bil­dungs­of­fen­sive ver­su­chen wir seit dem 7. Okto­ber des ver­gan­ge­nen Jah­res nicht nur, dem gestie­ge­nen Bera­tungs­be­darf von Leh­re­rin­nen und Leh­rern im Umgang mit anti­se­mi­ti­schen Äuße­run­gen und Aggres­sio­nen an Schu­len nach­zu­kom­men, son­dern auch das Ver­ständ­nis und die Sen­si­bi­li­tät in der brei­ten Gesell­schaft für Anti­se­mi­tis­mus zu erhö­hen. Inmit­ten all unse­rer Bemü­hun­gen, auf die rasan­ten Ver­än­de­run­gen unse­rer Gegen­wart zu reagie­ren, wid­men wir uns aber wei­ter­hin der Auf­gabe zu erfor­schen und zu ver­deut­li­chen, dass Jüdin­nen und Juden mit­ten „im Her­zen von Europa“ – wie das Motto von Ein­tracht Frank­furt lau­tet – seit mehr als 850 Jah­ren leben. Keine andere Stadt in Deutsch­land kann auf eine der­ar­tige longue durée jüdi­scher Exis­tenz zurück­bli­cken. Und kaum eine zweite Stadt kann von sich behaup­ten, so ent­schei­dend von ihrer jüdi­schen Bevöl­ke­rung geprägt wor­den zu sein. In den letz­ten 850 Jah­ren wirk­ten Jüdin­nen und Juden in Frank­furt kon­ti­nu­ier­lich dar­auf hin, die Lebens­be­din­gun­gen nicht nur der eige­nen Gemein­schaft, son­dern seit der Auf­klä­rung auch der Gesell­schaft ins­ge­samt zu ver­bes­sern – dies gilt nicht nur für das Pro­fil Frank­furts als inter­na­tio­na­lem Han­dels- und Finanz­platz, son­dern auch für den sozia­len Zusam­men­halt inner­halb der Stadt: die Gesund­heits- und Sozi­al­für­sorge, die Bil­dung, Wis­sen­schaft und Kul­tur. Das Leben von Jüdin­nen und Juden in Frank­furt war und ist von dem geprägt, was in der jüdi­schen Tra­di­tion Tik­kun Olam heißt, das Gebot für jeden, die Welt zu einem bes­se­ren Ort zu machen. Die euro­pä­isch-jüdi­sche Geschichte, die wir in unse­ren bei­den Museen erzäh­len, ist daher von einem kon­ti­nu­ier­li­chen Kampf um die Ver­bes­se­rung der all­ge­mei­nen Lebens­um­stände gekenn­zeich­net. Sie ist eine Geschichte von Rück­schlä­gen und erkämpf­ten Frei­hei­ten, von Ver­trauen in die Mehr­heits­ge­sell­schaft und bit­te­rem Ver­rat, von Gewalt und Enga­ge­ment, von Wider­stän­dig­keit, Mut und Ent­täu­schung. Diese Geschichte, die Jüdin­nen und Juden in die­ser Stadt, in Deutsch­land und Europa sowohl schrei­ben, gestal­ten wie auch erle­ben und erdul­den, wird andau­ern – wenn­gleich sich ihre Vor­zei­chen bestän­dig ändern. Der heu­tige Tag nimmt eine Refle­xion über diese Vor­zei­chen jüdi­scher Exis­tenz in der Gegen­wart vor. Es gilt sie im Sinne von Tik­kun Olam, dem Gebot der Hei­lung, zu ändern – und eben dafür braucht es viele Insti­tu­tio­nen, eine enga­gierte Zivil­ge­sell­schaft wie auch mutige Personen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2024-1/2025.

Von |2024-11-29T12:13:24+01:00November 29th, 2024|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

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Gekürzte Form eines Vor­trags in Frank­furt am 18.11.2024 im Rah­men der Kon­fe­renz „Jüdi­sches Leben in Deutsch­land im Span­nungs­feld zwi­schen Anpas­sung und Autonomie“

Mirjam Wenzel ist Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, Honorarprofessorin für Jüdische Studien an der Goethe-Universität Frankfurt und Vorstandsvorsitzende der Association of European Jewish Museums.