Das Vorsatzblatt von Ronya Othmanns zweitem Roman „Vierundsiebzig“ zeigt eine Landkarte. In violetter Schrift sind die Worte Türkei, Iran, Irak und Syrien zu lesen. An kleinen Punkten vermerkt sind Worte wie Bagdad, Mossul, Shingal. Worte, die ich kenne. Orte, die mir fern sind. Bilder, die ich gesehen habe. Grauen, das für mich unvorstellbar ist. Ronya Othmann reist in jene Gebiete, die nach dem 3. August 2014 zu Tatorten geworden sind. Zum 74. Mal wurde die jesidische Bevölkerung nach eigener Zählung dort Opfer eines Genozids. In ihren Dörfern und Städten im Nordirak sind Kämpfer der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) eingefallen. Das Ziel war die systematische Vernichtung der Jesidinnen und Jesiden. Die Autorin sucht auf ihrer Reise und in ihrem Buch nach Zeugnissen für die Verbrechen und nach Formen, die es ermöglichen, diese zu artikulieren. Ihre Perspektive ist dabei eine subjektive, in der die Verortung des Schmerzes und die Begrifflichkeit des Unbegreiflichen nicht nur zu einer Möglichkeit, sondern zu einer Notwendigkeit werden. Als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-jesidischen Vaters reist sie auch an Schauplätze ihrer eigenen Geschichte und lässt damit diese fernen Orte ganz nah wirken. Die Camps der Geflüchteten, die Häuser ihrer Familie, ein verlassenes jesidisches Dorf in der Türkei, ein jesidischer Tempel in Armenien: Sie legen Zeugnis ab von der andauernden Not der Überlebenden, von dem Versuch, eine Alltäglichkeit zurückzuerobern und von der jahrhundertelangen Verfolgungsgeschichte ihrer Bevölkerung. „Vierundsiebzig“ ist ein wichtiges Buch. Ein Buch, das in seiner radikalen Konkretion keinen Raum mehr für Distanz lässt.
Anna Göbel