Nach der Besetzung stand auf einer Säule: „Beim Linkssein geht es nicht um Theorie, sondern Aktion“. Lässt sich damit vielleicht auch erklären, warum gerade einige linke Gruppierungen mit positiven Bezugnahmen auf palästinensische Terrorgruppierungen auffallen? Weil diese sich nicht im theoretischen Elfenbeinturm verkriechen, sondern mit der Waffe in der Hand ein angeblich kolonialistisches Apartheidsregime bekämpfen? So schrieb die linke Politikwissenschaftlerin Jodi Dean, dass die „Bilder vom 7. Oktober, als die Gleitschirmflieger der israelischen Luftabwehr entkamen“, für viele „berauschend“ gewesen seien. Dean meinte, „Momente der Freiheit“ erkennen zu können. Ich halte es für nahezu ausgeschlossen, dass Jodi Dean zur Waffe greift, um den Kampf, von dem sie so berauscht ist, selbst zu führen. Das macht solche Jubelarien allerdings nicht ungefährlich. Sie sind verflochten mit roten Dreiecken, Hamas-Jubelgesängen, Dämonisierungen Israels, mit Bezügen auf die islamistische Terrororganisation Hamas oder die marxistisch-leninistische Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP). Gemeinsam schaffen diese ein diskursives Umfeld, in dem Gewalt gegen unliebsame Jüdinnen und Juden legitim erscheint. Immer wieder behaupten beteiligte Aktivisten, dass sie – trotz der bedrohlichen Performance – nicht aus Antisemitismus handeln. Der israelische Historiker Tom Segev sagte in einem WELT-Interview, dass die Studierenden „dumme Fehler“ machen und „zuweilen auch antisemitischen Stereotypen“ folgen. Sie seien „jung und radikal“. Es gebe unter ihnen auch „Judenhass. Aber eben nicht nur“. Obwohl Aktionen sowohl in den USA als auch in Deutschland nur an einer kleinen Zahl von Campi stattfanden, gab es überproportional viel Aufmerksamkeit. Großen Anteil daran hatte die Performance der Gewaltbereitschaft. Mit dieser zu spielen hat sich als nützliches Instrument erwiesen, um einen falschen Eindruck zu erzeugen, nämlich den, dass es sich um eine Massenbewegung handeln würde. Ihre Performance ist eng verbunden mit der Revolte der 1968er. Damals wie heute spielt man mit dem Image palästinensischer Terrororganisationen. Damals wie heute belassen es einige nicht bei der Performance. Wer eine Performance betreibt, in der antisemitische und systematische sexualisierte Gewalt nicht nur relativiert, sondern als bewusste Provokation ikonisiert wird, ermutigt diejenigen, denen ein solches „Spiel“ nicht genug ist. Wer Wind sät, wird Sturm ernten.
Boykott der Demokraten
Bei ihrer Übernahme von amerikanischen Konzepten scheinen hiesige Aktivisten allerdings eines auszublenden, nämlich auf was für einer „Selbstzerstörungsmission“ ihre progressiven Vorbilder unterwegs sind: Während die US-Administration unter Präsident Joe Biden eine Kehrtwende vollzog und zunehmend die extrem rechte Regierung Benjamin Netanyahus unter Druck setzte, drohen die palästinasolidarischen Aktivisten weiter mit dem Boykott der Demokratischen Partei. Sollten sie am 5. November Ernst machen, könnten sie statt der ersten schwarzen Frau zum Präsidentenamt dem verurteilten republikanischen Ex-Präsidenten Donald Trump zu einer neuen Amtszeit verhelfen. Sie würden ein Zeichen setzen – zu dem Preis, dass das Rad gesellschaftlicher Liberalisierung weiter zurückgedreht wird. Damit musste sich auch Kamala Harris kurz vorm Nominierungsparteitag auseinandersetzen.
Relativierungen und ihre Folgen
All das führt uns zu der Leidenschaft, die in radikalen Performances mündet. Seit Jahr(zehnt)en erleben wir die Verehrung der PFLP-Flugzeugentführerin Leila Khaled. Seit Jahren wurde – z. B. auch im Kontext der antisemitischen Vereinnahmung des Gedenkens an den rechtsterroristischen Anschlag in Hanau mit dem Slogan „Von Hanau bis nach Gaza – Yallah Intifada“ – in manchen Gruppierungen positiv Bezug auf die Intifada genommen. Dabei ist man davon überzeugt, dass diese Performance weder antisemitisch sei noch eine bedrohliche Atmosphäre für Jüdinnen und Juden hervorbringt. Denn es gibt jüdische Aktivisten, die diese Forderungen mittragen und an der radikalen Performance teilhaben. Doch die Grenzen zwischen Performance und Wirklichkeit sind kaum noch zu erkennen. Die Gewalt, der sie huldigen, ist nicht fiktiv. Und ihre Relativierung bestärkt Antisemiten darin, nun etwas gegen die vermeintlich „jüdische“ Bedrohung zu unternehmen.
Das ist der „terrorist chic“. Diese Aktivisten wollen an der radikalen Aura teilhaben. Sie fühlen sich von linken Bewegungen und Parteien, selbst wenn diese sich sehr kritisch zur Politik Israels äußern, im Stich gelassen. Weil sie zu moderat seien, werden sie als Teil des „(pro-)zionistischen“ Blocks gesehen. Ohnehin sehen sie sich in einem ständigen Kampf gegen eine zionistische Übermacht. Dabei vergleichen sie die Bundesrepublik mit Vladimir Putins autoritärem Regime. Ohne den Widerspruch zu erkennen, berufen sie sich auch auf russische Staatsmedien und nutzen die Privilegien, die ihnen durch das Grundgesetz trotz allem zugesichert werden, weil sie eben nicht in einem undemokratischen Staat leben. Wenn ich in diesem Zusammenhang von Privilegien spreche, dann meine ich nicht, dass Menschen, die sich an diesen Performances beteiligen, keine Diskriminierungserfahrungen machen, sondern dass sie demokratisch zugesicherte Grundrechte nutzen können. Und dass sie sich bei Vergleichen zwischen Deutschland und autoritären Regimen offenbar nicht bewusst sind, unter welchen Repressionen die letzten russischen Oppositionellen ihre Kämpfe führen. Dass es auch in Deutschland zu tendenziöser Berichterstattung kam oder Demonstrationen teilweise unter nicht wasserdichter Argumentation verboten wurden, muss selbstverständlich kritisiert werden. Doch tut sich ein Hiatus zwischen diesen Einschränkungen und dem auf, wofür das Grab des russischen Oppositionspolitikers Alexey Navalnys steht.
Terrorverherrlichende Parolen
Ich würde nicht in Abrede stellen, dass es im Rahmen der polizeilichen Maßnahmen gegen die Camps und Besetzungen auch zu unverhältnismäßiger Polizeigewalt kam, die nicht zu rechtfertigen ist. Genauso wenig würde ich abstreiten, dass Politiker Maßnahmen im Umgang mit den Protesten fordern, die im Konflikt mit den verfassungsmäßig zugesicherten Grundrechten wie Meinungs- und Demonstrationsfreiheit stehen. Und ich halte es für unbedingt notwendig, in aller Klarheit zu widersprechen, wenn versucht wird, die Kritik am Antisemitismus rassistisch zu instrumentalisieren. Und genau das geschieht: Dem Unterfangen der Rechten, sich als „Garant jüdischen Lebens“ zu inszenieren, wird offen und hart widersprochen. Und mehr noch: Den Demonstranten wird viel Verständnis entgegengebracht. Dozierende stellen sich in offenen Briefen vor sie, und ihnen wird Raum gegeben, um ihre Positionen zu artikulieren. Dies, obwohl sie, wie an der Humboldt-Universität, Dutzende Räume mit terrorverherrlichenden Parolen wie beispielsweise „Lang lebe der bewaffnete Widerstand“ oder „Ein Herz für al-Qassam“, den bewaffneten Flügel der Hamas, beschmiert haben und obwohl zwei Drittel der Besetzer von FU und HU unifremd sind.
Moralische Bekräftigung
Der „terrorist chic“ ist ein Mittel, sich innerhalb der Aufmerksamkeitsökonomie durchzusetzen. Doch er bedarf einer moralischen Bekräftigung: Deshalb sieht man sich selbst als mutige Kämpfer gegen angebliche „Meinungsverbote“ und die vermeintlich hinter jeder Ecke lauernden Repressionen. Außerdem muss ausgeblendet werden, was diese Performance für Jüdinnen und Juden bedeutet. Denn ohnehin haben, das beschreibt Marina Chernivsky von der Beratungsstelle Ofek, Terror und Krieg massive Auswirkungen „auf die Psyche, auf den Körper und das soziale Leben“. Die „genozidale Botschaft“ (Dan Diner), die von den Massakern der Hamas ausging, hat Jüdinnen und Juden weltweit erreicht. Chernivsky erklärt, dass viele „von gestörtem Zeitempfinden, bedrückter Stimmung, Anzeichen einer Retraumatisierung und Antizipation weiterer Gewalt“ berichten.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2024.