In wenigen Tagen werden wir vor einem Wahlergebnis in Thüringen und Sachsen stehen, das uns entweder entsetzt oder vielleicht noch einmal aufatmen lässt. Die Wahrscheinlichkeit für Ersteres ist groß, aber das Spekulieren darüber längst müßig. Es geht natürlich um die AfD. Aber es geht eben nicht allein nur um sie. Unser Parteiensystem ist insgesamt äußerst brüchig geworden. Den etablierten Parteien laufen die Wähler weg; und ein Retortenprodukt wie das BSW bekommt auf Anhieb zweistellige Werte. Der Parteipop hält Einzug in die Politik.
Das Merkwürdige an dieser AfD ist ihre Doppelgesichtigkeit, dass sie zwar von der Wut und Enttäuschung der Ostdeutschen getriggert wird, aber zugleich die Stabilität und Ordnung der ganzen Republik bedroht. Man kann das an ihren Wahlkampfthemen sehen. Es geht ihr weniger um die regionalen Belange im Osten als um die großen Fragen der deutschen Politik: die Zuwanderung, die dramatischen Folgen der Energiewende und – immer erregter – die Frage nach Krieg oder Frieden.
Wenn man die harten Bruchkanten auf der Landkarte sieht, dann könnte man sogar meinen, die deutsche Teilung komme wieder; weshalb wir Westdeutschen immer noch dazu neigen, das Problem in die ehemalige „Ostzone“ zu verlagern. „Vorsicht“, warnt mittlerweile einer meiner publizistischen Kollegen: „Hinter Bad Hersfeld verlassen Sie (wieder) den demokratischen Sektor!“ Man wundert sich fast, dass man den typischen Nachkriegsjargon nicht auch wieder ausgegraben hat. Das „Spalterregime“ gehört zu diesen schrecklichen Vokabeln. Aber auch andere Erbstücke fallen mir ein: der Anspruch der früheren DDR etwa, das bessere Deutschland zu sein. Kaum jemand wird sich heute daran noch erinnern. Aber solche Ideen führen ein untergründiges Leben. Man habe den Westdeutschen die Erfahrung des Systembruchs voraus, hört man jetzt immer wieder, was einen auf den absurden Gedanken bringt, dass es womöglich doch einen Zwillingsbruder zum Besserwessi gibt: den politisch wesentlich schlaueren Ossi.
Nun sollte man sich nicht an jeder dieser Ungereimtheiten stoßen. Aber eine gravierende politische Achsenverschiebung fällt bei der AfD auf. Während die PDS sich vor allem als die Partei des Ostens und der Wendeverlierer sah, hat sich die AfD von Anfang an als Alternative für ganz Deutschland empfunden. Ihr eigentliches Angriffsziel waren immer die liberalen Traditionen des Westens. Man versteht die frühen Warnungen heute viel besser, dass das vereinte Land womöglich reaktionärer werden könnte, jedenfalls deutlich östlicher. Die AfD denkt die Einheit auf eine andere Art, als sie mit dem Beitritt zur Bundesrepublik vollzogen wurde. Ihr ist die postnationale Nachkriegsentwicklung im Westen ein Graus. Das erklärt auch die Nähe zu den nationalistischen Regimen im Osten. Die Bürgerrechtsbewegung in der DDR formulierte sich damals im Kontext der Befreiungsbewegungen Osteuropas. Dort ging es um Selbstbestimmung, um Eigenständigkeit und Identität. Die eigene Nation war der Raum für die Freiheit. Die Bundesrepublik dagegen hat man – zumindest in Teilen – nie als eigene Heimat empfunden. Weshalb auf dem Gebiet der einstigen DDR so etwas wie eine Parallelsphäre entstanden ist, ein virtuelles Zuhause im eigenen Land. Man war das Rollenspiel schließlich gewohnt, draußen anders zu reden als drinnen. Die neuen Länder haben sehr schnell etwas Fassadenhaftes bekommen, an das nur die Westdeutschen glaubten. Auch darin sind diese Bundesländer der alten DDR immer noch ähnlich. Es gebe sie tatsächlich, diese blühenden Landschaften, aber in Wahrheit, so bekommt man immer wieder zu hören, gehören sie denen, die nach der Wende gekommen sind.
Die AfD will partout keine Verliererpartei sein, die Rückzugsinteressen verteidigt. Sie versteht sich als Antwort auf den globalen Transformationsprozess, den sie auf ihre Weise deutet. Plötzlich tritt dieser Teil der Ostdeutschen als Vorreiter auf und stellt den liberalen Westen infrage. Es ist wie eine Verkehrung des Mauerfalls. Die freiheitliche Welt muss plötzlich um ihre Akzeptanz bangen. Wem das eine Hausnummer zu groß erscheint, der sollte die Veränderungen im Kleinen betrachten. Immer häufiger wird der freiheitliche Rechtsstaat zum Agenten der Beschränkung; er schließt die zivilen Räume. Denn der liberalen Politik gehen allmählich die Argumente aus. Restriktionen klingen inzwischen plausibler. Es gibt schon gar keine universal gültigen Antworten mehr auf die globalen Krisen von heute. Selbst die Klimadebatte wirkt wie ein Rückzugsgefecht. Die Machtpolitik bekommt das Heft in die Hand. Es entsteht, wir erleben es überall, inzwischen ein neues Grenzregime. Das beeinflusst den freien Warenverkehr genauso, wie die Durchlässigkeit vieler Ideen.
Natürlich entscheidet sich bei den kommenden Wahlen in Thüringen und Sachsen nicht die Welt. Auch wenn die meisten Kommentare das insinuieren. Aber der Humus auf dem solche Art zu denken gedeihen kann, ist viel verbreiteter als man glaubt. Der Zeitgeist weht heute tatsächlich andersherum. Sonst wäre der enorme Zulauf für das rechte Spektrum kaum denkbar. Am Wahlabend werden das zwar fast alle wieder bestreiten. Aber womöglich behalten die warnenden Stimmen recht, die die westliche Kultur bedroht sehen, von außen genauso wie inzwischen von innen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2024.