Kunst kommt auch von Kämpfen

Ein Por­trät der Regis­seu­rin, Dreh­buch­au­to­rin und Fil­me­ma­che­rin Soleen Yusef

„Sie­ger sein“, der erste Kin­der­film der kur­disch-deut­schen Regis­seu­rin Soleen Yusef, fei­erte bei der 74. Ber­li­nale Anfang 2024 seine Welt­pre­miere. Auch wenn er beim Wett­be­werb für her­aus­ra­gende Kin­der- und Jugend­filme nicht Sie­ger wurde, sind die Kri­ti­ker voll des Lobes über die mit­rei­ßend erzählte Geschichte eines kur­di­schen Mäd­chens an einer Gemein­schafts­schule im Ber­li­ner Wed­ding. Seit dem 11. April ist „Sie­ger sein“ in den Kinos, aller­dings erst lang­sam flä­chen­de­ckend auf der deut­schen Kino­land­karte prä­sent. Der Film ist viel­leicht kein Stra­ßen­fe­ger, hat aber das Zeug zum Lang­stre­cken­läu­fer – auch in die­ser Dis­zi­plin kann man Sie­ger sein.

Über­höht, fik­tio­na­li­siert und für Kin­der erzäh­lens­wert gestal­tet, ist „Sie­ger sein“ auch die Geschichte sei­ner Mache­rin Soleen Yusef. Bei­nahe zwei Jahr­zehnte nach ihrer Schul­zeit hatte sie ihren Grund­schul­leh­rer über­ra­schend bei einem Bene­fiz­kon­zert für die Frauen in Rojava, die gegen den Isla­mi­schen Staat kämpf­ten, wie­der getrof­fen. „Dort stand er vor mir als alter Sozial-Anar­chist und ich schaute ihn an und habe ihn gefragt, ob er mich wie­der­erkennt. Wir unter­hiel­ten uns den gan­zen Abend über die Frauen-Revo­lu­tion, über die Schule und wo es mit mir hin­geht. Diese Begeg­nung hat mich nicht los­ge­las­sen und ich dachte, ich muss das irgend­wie aus­pa­cken. Ich habe ‚Sie­ger sein‘ auch als Hom­mage an mei­nen Leh­rer geschrieben.“

Soleen Yusef wurde 1987 in der nord­ira­ki­schen Stadt Dohuk in der Auto­no­men Region Kur­di­stan gebo­ren. Der Vater floh Mitte der neun­zi­ger Jahre über die Mit­tel­meer­route nach Deutsch­land, die Fami­lie holte er ein Jahr spä­ter nach. Seine Toch­ter Soleen war damals neun Jahre alt. Schule in Deutsch­land, das war ein Kul­tur­schock für das Mäd­chen aus dem Irak. Sie kannte ein ande­res, viel auto­ri­tä­rer gepräg­tes Sys­tem Schule. Wäh­rend ihre Ber­li­ner Mit­schü­ler über Tische und Bänke spran­gen, blieb sie respekt­voll gegen­über den Leh­ren­den. Auch im Film steht die Prot­ago­nis­tin Mona immer auf, wenn eine Lehr­per­son das Klas­sen­zim­mer betritt. Sowohl der fik­ti­ven Mona als auch der rea­len Soleen schlug nicht nur Sym­pa­thie ent­ge­gen: Mob­bing durch Mit­schü­le­rin­nen und Mit­schü­ler war im ers­ten Jahr an der Tagesordnung.

Die Rolle der Mona spielt die 14-jäh­rige Schü­le­rin Dileyla Agir­man, die erst vor Kur­zem den New Faces Award der Zeit­schrift „Die Bunte“ für diese Rolle zuge­spro­chen bekom­men hat. Pri­vat liebt Dileyla Kung Fu und Thai­bo­xen, ihr Traum­be­ruf ist Schau­spie­le­rin. Ihre erste große Rolle hat sie schon in „Sie­ger sein“: ein geflüch­te­tes Mäd­chen, das die Spra­che ihrer neuen Hei­mat noch nicht beherrscht, von den Mit­schü­le­rin­nen gemobbt wird und sich trotz aller Wider­stände durch­beißt. Die Wende kommt, als ihr Klas­sen­leh­rer, der auch der Fuß­ball­trai­ner an die­ser Schule ist, sie als Tor­hü­te­rin in der Mäd­chen­mann­schaft aufstellt.

Die Par­al­le­len zwi­schen der Film­rolle und der Vita von Soleen Yusef sind nicht zufäl­lig. Wie Mona im Film ließ auch Yusef ihr frü­he­res Leben zurück. Nach ihrem Real­schul­ab­schluss wech­selte sie auf das Ober­stu­fen­zen­trum Beklei­dung und Mode in Ber­lin und legte 2005 dort ihr Fach­ab­itur ab. Danach folgte eine zwei­jäh­rige Gesang- und Schau­spiel­aus­bil­dung an der Aca­demy Büh­nen­kunst­schule in Kreuz­berg und mehr oder weni­ger par­al­lel dazu eine Aus­bil­dung zur Modenä­he­rin. Von Film­busi­ness war noch nicht die Rede.

„Ich wollte gar nicht Filme machen, ich wollte immer Künst­le­rin wer­den. Ich habe einen Onkel, der Maler ist, und eine Tante, die sehr lange Kunst­do­zen­tin in Dohuk gewe­sen ist. Die hat­ten ihr ‚Käm­mer­lein‘, das war ein rie­si­ges Ate­lier, das mich immer fas­zi­niert hat, mit gro­ßen Lein­wän­den und dem Geruch von Öl und Ziga­ret­ten­rauch. Das hat mich total ange­zo­gen. Ich wollte immer so viel. Ich habe gemalt, geschrie­ben, ich habe Musik gemacht, gesun­gen, ich habe gespielt. Ich habe aber auch her­aus­ge­fun­den, dass ich nicht für das Ram­pen­licht gemacht bin.“ Yusef ist eine Frau mit vie­len Talen­ten, vor allem aber vol­ler Tat­kraft. Im Rück­blick scheint ihr Weg zur erfolg­rei­chen Dreh­buch­au­to­rin und Regis­seu­rin trotz eini­ger krea­ti­ver Umwege vor­ge­zeich­net. Noch wäh­rend ihrer Aus­bil­dungs­zeit arbei­tete sie als Pro­duk­ti­ons-, Regie- und Ver­triebs­as­sis­ten­tin in der Ber­li­ner Film­pro­duk­ti­ons- und Ver­leih­firma mîtos­film, mit der sie seit 2008 Filme realisiert.

Ein wich­ti­ger Men­tor war damals der Mitos-Chef Meh­met Aktaş. Und er ist es bis heute geblie­ben: „Ich arbeite gerade an einem Dreh­buch mit ihm zusam­men. Das Pro­jekt ist ein BKM-geför­der­ter Kino­film, den ich mit Meh­met Aktaş in Koau­toren­schaft und Kopro­duk­tion mache. Das Pro­jekt heißt ‚Jin, Jiyan, Azadî‘, also ‚Woman, Life, Free­dom‘. Wir wol­len zei­gen, woher diese Bewe­gung kommt, die die Men­schen im Iran, aber auch auf der gan­zen Welt inspi­riert, und sie geschicht­lich authen­tisch auf­ar­bei­ten. Wir wol­len damit die Frauen, die diese Revo­lu­tion in den 1970ern in Kur­di­stan ins Leben geru­fen haben, würdigen.“

Ab 2008 stu­dierte Yusef in Lud­wigs­burg an der Film­aka­de­mie Baden-Würt­tem­berg sze­ni­sche Regie. Auf­grund ihrer Stu­di­en­leis­tun­gen wurde sie mit dem Deutsch­land­sti­pen­dium für das Jahr 2012/2013 aus­ge­zeich­net. Der Lang­film „Haus ohne Dach“ war Yusefs Debüt und gleich­zei­tig ihr Diplom­film an der Film­aka­de­mie und wurde im Früh­jahr 2015 in ihrer Hei­mat­stadt Duhok und Umge­bung gedreht. Drei junge deutsch-kur­di­sche Geschwis­ter keh­ren nach Kur­di­stan zurück, um den letz­ten Wunsch ihrer Mut­ter zu erfül­len, näm­lich ihre Beer­di­gung neben ihrem im Krieg gefal­le­nen Mann. Her­aus­ge­kom­men ist ein melan­cho­lisch-warm­her­zi­ges Road-Movie vor aktu­ell poli­ti­schem Hintergrund.

Soleen Yusef lebt und arbei­tet in Ber­lin. Zuletzt reiste Soleen Yusef wie­der regel­mä­ßig in den Irak, manch­mal berich­tet sie für deut­sche Medien aus der Kri­sen­re­gion. Alle ihre Filme kön­nen, obwohl sie meist auf der Folie eines poli­ti­schen Kon­flikts oder poli­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zung statt­fin­den, Betrof­fen­heit schaf­fen, man iden­ti­fi­ziert sich, man lebt mit.

„Poli­tik und poli­ti­scher Wider­stand, aber auch unsere Iden­ti­tät als Kur­den, als kur­di­sche Min­der­heit, das hat mich mein Leben lang beglei­tet. Mir ist es aber immer sehr wich­tig, Geschich­ten von und über Men­schen zu erzäh­len. Das war sowohl bei ‚Haus ohne Dach‘ so als auch bei allen ande­ren Stof­fen, die ich gemacht habe, dass ich zu den poli­ti­schen Ober­be­grif­fen noch Men­schen zei­gen wollte, die ganze Wel­ten, Emo­tio­nen, Freunde, Ver­wandte, Lebens­er­fah­run­gen, Erin­ne­run­gen mit­brin­gen und damit eben auch dem Thema ‚Geflüch­tete‘ oder ‚Flücht­ling‘ eine viel grö­ßere Welt schen­ken. Meine Eltern haben uns Kin­der so erzo­gen, dass wir nicht nur an Kar­riere den­ken sol­len, son­dern auch etwas für die All­ge­mein­heit, für Poli­tik und Gesell­schaft und für unser sozia­les Umfeld tun müs­sen. Alle meine Geschwis­ter sind in der sozia­len Arbeit tätig oder sind Poli­zis­ten oder Inte­gra­ti­ons-Coachs oder Erzie­her. Meine Mut­ter und meine Tan­ten spiel­ten eine große Rolle in der Erzie­hung mit ihren Grund­wer­ten und ihrer Lebens­en­er­gie. Ins­be­son­dere ihnen widme ich mei­nen Film ‚Sie­ger sein‘“.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 6/2024.

Von |2024-06-13T16:08:45+02:00Juni 13th, 2024|Medien|Kommentare deaktiviert für

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Ein Por­trät der Regis­seu­rin, Dreh­buch­au­to­rin und Fil­me­ma­che­rin Soleen Yusef

Andreas Kolb ist Redakteur von Politik & Kultur.