Die große Frei­heit der Kunst

Über die Aus­le­gung von Arti­kel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes

Die Kunst­frei­heit des Art. 5 Abs. 3 GG ist ein schö­ner Indi­ka­tor für das große Maß an Frei­heit, das heute in Deutsch­land unter dem Regime des Grund­ge­set­zes herrscht. Nach­dem die Frei­heit der Kunst 1919 in der Wei­ma­rer Ver­fas­sung über­haupt das erste Mal in der deut­schen Ver­fas­sungs­ge­schichte gewähr­leis­tet wurde, weil „frü­her unfreie Zustände“ geherrscht hat­ten, hat der Par­la­men­ta­ri­sche Rat 1949 die Kunst­frei­heit nicht nur über­nom­men, son­dern auch noch ver­stärkt: Zum einen gel­ten alle Grund­rechte nicht nur als Pro­gramm­sätze, son­dern „bin­den Gesetz­ge­bung, voll­zie­hende Gewalt und Recht­spre­chung als unmit­tel­bar gel­ten­des Recht“. Zum andern ist die Kunst­frei­heit ohne eine Ermäch­ti­gung zu ein­schrän­ken­den Geset­zen, also „vor­be­halt­los“ gewährleistet.

 

Zwar ist der Wort­laut des Art. 5 Abs. 3 GG seit­her unver­än­dert geblie­ben. Aber Ver­fas­sungs­recht ändert sich nicht allein durch die Ände­run­gen des Ver­fas­sungs­tex­tes. Die Ver­än­de­run­gen der geschicht­lich-sozia­len Wirk­lich­keit las­sen das Ver­fas­sungs­recht nicht unbe­rührt. Die­ser Ver­fas­sungs­wan­del rea­li­siert sich vor allem in der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts, das letzt­in­stanz­lich über das Ver­ständ­nis des gel­ten­den Ver­fas­sungs­rechts ent­schei­det und des­sen Ent­schei­dun­gen nicht nur die Exe­ku­tive und Judi­ka­tive bin­den, son­dern in bestimm­ten Fäl­len sogar Geset­zes­kraft haben. Und das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat die Wirk­kraft und Bedeu­tung der Kunst­frei­heit wei­ter ausgebaut.

 

Dabei hat die Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts zur Kunst­frei­heit teil an den zusätz­li­chen Funk­tio­nen oder Dimen­sio­nen der Grund­rechte: Ers­tens gel­ten die Grund­rechte nicht nur im Ver­hält­nis zwi­schen dem Ein­zel­nen und dem Staat, son­dern grund­sätz­lich, wenn auch abge­schwächt, im Ver­hält­nis zwi­schen den Ein­zel­nen unter­ein­an­der; man spricht von mit­tel­ba­rer Dritt­wir­kung oder Aus­strah­lung der Grund­rechte. Damit wird dar­auf reagiert, dass Gefah­ren für die Frei­heit und Gleich­heit der Men­schen im moder­nen hoch­kom­ple­xen, indus­tria­li­sier­ten, glo­ba­li­sier­ten und digi­ta­li­sier­ten Staat nicht nur von die­sem, son­dern auch von pri­va­ter wirt­schaft­li­cher und sozia­ler Macht aus­ge­hen. Zwei­tens wir­ken die Grund­rechte auf die Aus­le­gung und Anwen­dung des ein­fa­chen Rechts in der Weise ein, dass die Spiel­räume der Aus­le­gung zur Erzie­lung eines ver­fas­sungs­ge­mä­ßen Ergeb­nis­ses genutzt wer­den müs­sen; das nennt man ver­fas­sungs- oder grund­rechts­kon­forme Aus­le­gung. Zuguns­ten der Frei­heit wirkt sich hier­bei häu­fig der Grund­satz der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit aus. Drit­tens gebie­ten die Grund­rechte grund­sätz­lich, dass der Staat nicht nur Ein­griffe unter­lässt, son­dern auch bei bestimm­ten Gefah­ren zum Schutz der Grund­rechte tätig wird; das begrün­det Teil­habe-, Leis­tungs- und Schutz­rechte des Ein­zel­nen gegen den Staat.

 

Das bedeu­tet für die Kunst­frei­heit: Ers­tens wird der Schutz­be­reich sach­lich sehr weit ver­stan­den. Nach dem soge­nann­ten offe­nen Kunst­be­griff han­delt es sich um ein Werk der Kunst, wenn „es wegen der Man­nig­fal­tig­keit ihres Aus­sa­ge­ge­halts mög­lich ist, der Dar­stel­lung im Wege einer fort­ge­setz­ten Inter­pre­ta­tion immer wei­ter rei­chende Bedeu­tun­gen zu ent­neh­men, sodass sich eine prak­tisch uner­schöpf­li­che, viel­stu­fige Infor­ma­ti­ons­ver­mitt­lung ergibt“. Kunst ist also nicht auf über­kom­mene Werk­ty­pen wie Malen, Bild­hauen, Dich­ten, Thea­ter­spie­len usw. beschränkt, son­dern umfasst auch neue, unge­wöhn­li­che und über­ra­schende Aus­drucks­for­men wie Hap­pe­ning, Akti­ons­kunst, Live Per­for­mance, Stra­ßen­thea­ter, Graf­fiti, sati­ri­sche Auf­kle­ber und Pos­ter usw. Erst recht kommt es nicht auf eine hohe Qua­li­tät des Kunst­werks an und ist die „enga­gierte“ Kunst von der Frei­heits­ga­ran­tie nicht aus­ge­nom­men. Weit wird der Schutz­be­reich auch in per­sön­li­cher Hin­sicht ver­stan­den: Sowohl der Werk­be­reich wie der Wirk­be­reich sind geschützt, außer dem Künst­ler also auch die­je­ni­gen, die eine „unent­behr­li­che Mitt­ler­funk­tion“ zwi­schen Künst­ler und Publi­kum aus­üben wie der Verleger.

 

Zwei­tens dür­fen die Schran­ken ande­rer Grund­rechte, wie der Mei­nungs- oder der all­ge­mei­nen Hand­lungs­frei­heit nicht auf die Kunst­frei­heit über­tra­gen wer­den. Gren­zen hat die Kunst­frei­heit nur im soge­nann­ten kol­li­die­ren­den Ver­fas­sungs­recht: Es bedarf eines gleich­ran­gi­gen Ver­fas­sungs­guts, das gegen die Kunst­frei­heit abzu­wä­gen ist, wobei bei­den die größte Ver­wirk­li­chung zu ermög­li­chen ist; das nennt man auch prak­ti­sche Kon­kor­danz. Ein ein­fa­ches Bei­spiel: Der grund­recht­li­che Schutz des Lebens ver­bie­tet den Mord auf der Bühne. Die gericht­li­che Pra­xis hat es mit kom­ple­xe­ren Kol­li­si­ons­la­gen zu tun. Häu­fig geht es um die Abwä­gung zwi­schen Kunst­frei­heit und All­ge­mei­nem Persönlichkeitsrecht.

 

Die ein­zi­gen bei­den Male, in denen das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ein Bücher­ver­bot aus­ge­spro­chen hat, betra­fen Schlüs­sel­ro­mane, die das All­ge­meine Per­sön­lich­keits­recht Drit­ter so schwer beein­träch­tigt haben, dass die Kunst­frei­heit des Autors bzw. Ver­le­gers dahin­ter zurück­tre­ten musste, näm­lich „Mephisto“ von Klaus Mann und „Esra“ von Maxim Bil­ler. Als Ver­stoß gegen die Men­schen­würde hat das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt die Kari­ka­tur von Rai­ner Hach­feld in der Zeit­schrift „kon­kret“ gewer­tet, die den Baye­ri­schen Minis­ter­prä­si­den­ten Franz Josef Strauß als Schwein dar­stellte, das sich an einem ande­ren Schwein in rich­ter­li­cher Amts­tracht sexu­ell betä­tigte. Im Übri­gen hat das Gericht poli­tisch oppo­si­tio­nelle Kunst immer wie­der geschützt, indem es straf­recht­li­che Ver­ur­tei­lun­gen wegen Äuße­rungs­de­lik­ten auf­ge­ho­ben hat. Auch por­no­gra­phi­sche Kunst­werke fal­len unter die Frei­heits­ga­ran­tie; aller­dings kann hier der grund­ge­setz­li­che Kin­der- und Jugend­schutz die Ver­brei­tung ein­schrän­ken. Drit­tens hat das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt auch die Inter­pre­ta­tion der Grund­rechte als Teil­habe-, Leis­tungs- und Schutz­rechte des Ein­zel­nen gegen den Staat auf die Kunst­frei­heit ange­wen­det, aller­dings mit weni­ger weit­tra­gen­den Fol­gen als bei den bis­her betrach­te­ten Wei­te­run­gen. Aus der objek­ti­ven Wert­ent­schei­dung für die Frei­heit der Kunst folgt zwei­er­lei: Eine staat­li­che För­de­rung ist zwar grund­sätz­lich zuläs­sig, aber nur sehr begrenzt ver­pflich­tend. Der Pflicht­ge­halt hat sodann eine nega­tive und eine posi­tive Dimen­sion: Es gibt einer­seits keine Pflicht zur finan­zi­el­len För­de­rung ein­zel­ner Künst­ler, und diese haben kei­nen Anspruch auf finan­zi­elle Leis­tun­gen aus der Kunst­frei­heits­ga­ran­tie, mög­li­cher­weise aber aus dem all­ge­mei­nen Gleich­heits­satz. Ande­rer­seits hat die grund­sätz­li­che staat­li­che Pflicht zur För­de­rung freier Kunst nor­ma­tive Wir­kun­gen für die Orga­ni­sa­tion und das Ver­fah­ren der För­de­rung. So muss die För­de­rung neu­tral erfol­gen, d. h. der Staat darf sich nicht mit einer Kunst­rich­tung iden­ti­fi­zie­ren, und er darf bestimmte Kunst­rich­tun­gen nicht dis­kri­mi­nie­ren, d. h. er muss für plu­ra­lis­ti­sche Viel­falt sor­gen; das kann vor allem durch die Ein­schal­tung unab­hän­gi­ger sach­ver­stän­di­ger Gre­mien geschehen.

 

Aktu­ell ist viel von einem neuen Kul­tur­kampf und „can­cel cul­ture“ als Folge von „poli­ti­cal cor­rect­ness“ die Rede. Ange­sichts des in die­sen Dis­kus­sio­nen schnell anstei­gen­den Erre­gungs­pe­gels tut nüch­terne juris­ti­sche Betrach­tung not, die zual­ler­erst sorg­fäl­tige Dif­fe­ren­zie­rung ver­langt. Ich nehme als Bei­spiel Aus­stel­lun­gen und Museen. Bei ihnen kommt „can­cel cul­ture“ nur dann über­haupt in Betracht, wenn sie staat­lich ver­an­stal­tet oder getra­gen wer­den; Pri­vate haben die Frei­heit zu ent­schei­den, ob sie etwas zei­gen wol­len oder nicht. Sodann ist die Kunst­frei­heit nicht beein­träch­tigt, wenn Warn­hin­weise neben den Kunst­wer­ken dar­auf auf­merk­sam machen, dass einige Betrach­ter das Werk anstö­ßig oder ver­stö­rend fin­den kön­nen. Man nimmt auf gewisse Befind­lich­kei­ten des Publi­kums Rück­sicht, ohne das Kunst­werk selbst zu beein­träch­ti­gen. Kom­men­tie­rende Ein­ord­nun­gen sind in Aus­stel­lun­gen und Museen seit je her üblich und regel­mä­ßig hilfreich.

 

Die Ent­schei­dung über Anschaf­fung und Prä­sen­ta­tion von Kunst­wer­ken muss kunst­spe­zi­fisch, d. h. allein nach künst­le­ri­schen Maß­stä­ben, neu­tral und nicht-dis­kri­mi­nie­rend getrof­fen wer­den. Sons­ti­gem öffent­li­chen, heute digi­tal ver­stärk­ten Druck, der soziale, poli­ti­sche oder mora­li­sche Inter­es­sen ver­folgt, darf sich die öffent­li­che Hand grund­sätz­lich nicht beu­gen. Erst wenn sie es tut, kann von „can­cel cul­ture“ gespro­chen wer­den. Ein­schrän­kend ist dar­auf hin­zu­wei­sen, dass die staat­li­chen Gale­rien und Museen zur Auf­recht­erhal­tung der Funk­ti­ons­fä­hig­keit der öffent­li­chen Ein­rich­tung das Haus­recht und die Ord­nungs­ge­walt haben, die bei­spiels­weise grei­fen, wenn die Gefahr besteht, dass Kunst­werke beschä­digt oder zer­stört wer­den. Diese Befug­nisse haben noch grö­ße­res Gewicht bei einer öffent­li­chen Ein­rich­tung, die eine andere Auf­gabe als die Pflege und Ver­mitt­lung der Kunst hat und für die die Kunst nur schmü­cken­des Bei­werk ist, wie etwa an Gebäu­den der Ver­wal­tung. In die­sen Fäl­len liegt in der Ent­fer­nung eines Kunst­werks keine Ver­let­zung der Kunst­frei­heit und kein Fall von „can­cel cul­ture“ vor.

 

Die ver­fas­sungs­recht­li­che Kunst­frei­heit ist in der Debatte um „poli­ti­cal cor­rect­ness“ häu­fig ein rhe­to­ri­sches Kampf­mit­tel, wenn eine Rechts­ver­let­zung behaup­tet wird, die nicht besteht. Gefähr­li­cher ist der umge­kehrte Fall, dass eine Rechts­ver­let­zung in Abrede gestellt wird, wo sie tat­säch­lich exis­tiert. Hierzu rechne ich die theo­re­tisch ver­brämte For­de­rung, Kunst­werke zu zer­stö­ren, zu ver­nich­ten oder Künst­lern bestimmte Sujets zu ver­bie­ten. Denn auch wenn die Kunst und die Gesell­schaft sich wei­ter wan­deln wer­den und es dem­entspre­chend auch in Zukunft Ver­fas­sungs­wan­del geben wird, setzt die Ver­fas­sung einem Abbau von Frei­heit defi­ni­tiv Wider­stand entgegen.

 

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 05/2024.

Von |2024-05-23T11:25:29+02:00März 26th, 2024|Grundgesetz, Sprache|Kommentare deaktiviert für

Die große Frei­heit der Kunst

Über die Aus­le­gung von Arti­kel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes

Bodo Pieroth war bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand 2013 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Politik an der Universität Münster