„Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen“, schrieb Audre Lorde 1977 in ihrem Essay „Die Verwandlung von Schweigen in Sprache und Handeln“. In einer Zeit, in der wir in den Feuilletons erbitterte Debatten über angebliche Identitätspolitik, Cancel Culture oder um Gendersterne führen, lohnt es sich, sich mit diesem sehr einprägsamen Satz von Lorde auseinanderzusetzen – weil er direkt in den bürgerrechtlichen Kern von Diskriminierung und vor allem von Antidiskriminierung vordringt: Wie offen und ehrlich wollen wir miteinander leben? Ohne das Sprechen über Diskriminierung lässt sich das nämlich in unserer vielfältigen Gesellschaft gar nicht beantworten.
In Deutschland galt Diskriminierung lange als Randthema. In der Breite fand es kaum Beachtung – auch im Kulturbetrieb nicht. Dabei sollte doch gerade die Kultur der Ausdruck von Zivilisation schlechthin sein. Erst nachdem George Floyd brutal von Polizisten getötet wurde, sich das Video der Tat und der Hashtag #BlackLivesMatter viral verbreiteten und weltweit Proteste gegen Rassismus entfachten, wurde auch in Deutschland zum ersten Mal wirklich lang und breit über Rassismus und Diskriminierung gesprochen. Die Debatte schaffte ein Bewusstsein für Diskriminierung als großes gesellschaftliches Thema unserer Zeit.
Dass dieses Bewusstsein in unserer Gesellschaft gewachsen ist, ist auch der Befund einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus diesem Jahr. In der repräsentativen Umfrage gab eine überwältigende Mehrheit von 88 Prozent an, dass sie Antidiskriminierungspolitik wichtig findet. Über 70 Prozent der Befragten wollen, dass mehr getan wird für Menschen, die Diskriminierung erleben. Viele Menschen haben längst erkannt, wie wichtig Antidiskriminierung ist und wollen Fortschritte im Schutz vor Diskriminierung sehen. Das Problem zu erkennen, ist ein wichtiger Schritt hin zu einer gerechteren Gesellschaft für alle. Er kann aber nur der erste sein, dem weitere Schritte folgen müssen.
Die Beratungsanfragen bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes haben einen Rekordwert erreicht. Über 8.800 Beratungsanfragen sind im Jahr 2022 bei uns eingegangen, 14 Prozent mehr als im Vorjahr. Im Vergleich zu 2019 – dem Jahr vor der Pandemie – haben sich die Anfragen sogar verdoppelt. Als Antidiskriminierungsbeauftragte betrachte ich das zwar mit großer Sorge. Die Zahlen zeigen aber auch, dass immer mehr Menschen ihre Rechte kennen, sich Diskriminierung nicht mehr gefallen lassen und dagegen vorgehen wollen. Und das ist ein Fortschritt.
Leider steckt die Antidiskriminierungspolitik in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Das hat die jetzige Bundesregierung erkannt und im Jahr 2022 ein neues Kapitel in der deutschen Antidiskriminierungspolitik aufgeschlagen. Seit etwas mehr als einem Jahr bin ich als Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung im Amt. Das ist etwas ganz Besonderes, nicht nur für mich persönlich. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gibt es eine Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung. Die Bundesregierung hat die Position neu geschaffen und damit ein Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt.
Als Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung leite ich die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die durch die neue Position politisch aufgewertet und gestärkt ist. Ich bin kein Teil der Bundesregierung. Ich bin unabhängig. Um das deutlich zu machen, beträgt meine Amtszeit fünf Jahre und ist bewusst nicht an die Legislaturperiode von vier Jahren gekoppelt. Mein Job ist es also nicht, die Arbeit der Regierung zu vertreten, sondern mich für Menschen einzusetzen, die von Diskriminierung betroffen sind. Für diese Menschen braucht es Veränderungen.
Denn obwohl das Bewusstsein für Diskriminierung gesellschaftlich gewachsen ist, werden Menschen in Deutschland weiterhin ungleich behandelt, ausgeschlossen und benachteiligt – wegen ihres Alters, einer Behinderung, des Geschlechts, wegen ihrer sexuellen Identität, der Religion oder Weltanschauung oder aus rassistischen und antisemitischen Gründen. Dagegen müssen sich Betroffene besser wehren können.
Das Gesetz, das Diskriminierung verbietet – das Antidiskriminierungsgesetz (AGG) – bietet zu wenig Schutz und macht es Betroffenen schwer, ihre Rechte auch vor Gericht einzuklagen. Schon bei der Einführung 2006 war das deutsche Antidiskriminierungsgesetz eines der schwächsten in der EU. Es wurde bisher nicht inhaltlich reformiert. Das muss sich ändern. Das ist auch eine Frage der Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Denn wir stehen im internationalen Wettbewerb nicht nur um die klügsten oder kreativsten Köpfe, sondern auch, wenn es um unseren Ruf als Einwanderungsland geht oder als menschenrechtlich stabile Demokratie.
Ich sehe eines der wichtigsten Ziele meiner Amtszeit darin, die Reform des AGG voranzubringen. Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, Schutzlücken zu schließen, den Rechtsschutz zu verbessern und den Anwendungsbereich des AGG auszuweiten.
Ich habe vor wenigen Wochen ein Papier mit wichtigen Grundlagen und Vorschlägen für die Reform vorgelegt. Mir ist wichtig, dass wir künftig auch Menschen schützen, die wegen ihrer Staatsangehörigkeit, wegen des sozialen Status diskriminiert werden oder einfach, weil sie Eltern sind oder für andere Angehörige Fürsorgeverantwortung übernehmen. Wer Diskriminierung erlebt, muss es künftig einfacher haben, dagegen vorzugehen. Bisher trauen sich Menschen kaum vor Gericht zu ziehen, auch weil die emotionalen und finanziellen Hürden für einzelne Personen zu hoch sind. Deshalb brauchen wir ein Verbandsklagerecht und eine sogenannte Prozessstandschaft. Dann könnten etablierte Antidiskriminierungsverbände Betroffene entlasten und z. B. für sie klagen. Außerdem soll das AGG künftig auch dann gelten, wenn staatliche Stellen diskriminieren, also Ämter, Behörden, Polizei, Justiz. Bisher regelt das AGG nur Diskriminierungen bei sogenannten Massengeschäften in der Privatwirtschaft, also wenn jemand beim Friseur- oder Restaurantbesuch diskriminiert wird.
Außerdem gilt der gesetzliche Antidiskriminierungsschutz bislang nur für angestellte Mitarbeitende. Ich möchte den Schutz auch auf freie Mitarbeitende ausweiten. Wie wichtig das ist, sehen wir im Kunst- und Kulturbereich. Hier arbeiten viele Menschen als Freischaffende. Die unsicheren Arbeitsverhältnisse sind ein Einfallstor für Diskriminierung. Immer wieder machen rassistische und sexistische Vorfälle an Theatern, am Filmset und in der Musikbranche Schlagzeilen.
Sexuelle Belästigung kommt nach einer Erhebung aus dem Haus der Kulturstaatsministerin Claudia Roth im deutschen Kulturbetrieb rund fünfmal häufiger vor als im Durchschnitt aller anderen Branchen. Die meisten Opfer sind Frauen. Solche Strukturen lassen sich nicht mit bloßer sprachlicher Rhetorik bekämpfen. Wir brauchen echte Veränderungen. Der Kulturbetrieb müsste von seinem Selbstverständnis her ein besonders zivilisierter und fortschrittlicher Ort sein, an dem wichtige gesellschaftliche Fragen verhandelt und progressive Positionen eingenommen werden. Bei genauerem Hinsehen wird aber klar: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Hinter den Kulissen herrschen leider noch viel zu oft toxische Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse, die Nährboden für Machtmissbrauch und sexuelle Belästigung sind. Wie tief verankert Sexismus in der Kulturbranche ist – auch hierzulande –, wissen wir spätestens seit #MeToo.
Es ist gut und wichtig, dass die Staatsministerin das Thema nun angeht und verschiedene Maßnahmen unterstützt. Eine Maßnahme ist der Dialogprozess des Deutschen Kulturrates für respektvolles Arbeiten in Kunst, Kultur und Medien. Der Kodex ist ein Baustein für mehr Schutz von Beschäftigten in der Kulturbranche. Allein wird er nicht ausreichen, um gängige Praxis nachhaltig zu verändern und Beschäftigte vor Diskriminierung und Machtmissbrauch zu schützen. Dafür brauchen wir eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes.
Konkret geht es hier um den Schutz von freien Mitarbeitenden vor Diskriminierung und um verbindliche Regeln und Sanktionen bei Verstößen gegen das Diskriminierungsverbot.
Flankiert werden muss das auch mit dem Ausbau und der Stärkung von Beratungsstellen im Kulturbetrieb, an die sich Betroffene von Diskriminierung und sexueller Belästigung wenden können. Denn genau darum geht es: nicht um die Unterschiede. Sondern darum, das Schweigen zu überwinden und zu einer gemeinsamen Sprache zu finden.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023.