„Ein Leben lang jage ich Eseln nach, aber meine Geschichten haben eine gewisse Neigung: Je tiefer sie mir ins Gedächtnis dringen, desto farbiger und dramatischer werden sie – einfach immer besser. Eine erneute Überprüfung ergibt dann jedoch schon mal, dass einige Höhepunkte sich selbst erfunden und in mein Gedächtnis geschlichen haben“, so schreibt der Historiker und Journalist Tom Segev in seinen Erinnerungen „Jerusalem Ecke Berlin“. Segev hat vor diesem Satz geschildert, wie er in seiner Erinnerung als 14-jähriger Junge mit einem Freund einen Esel auf der Straße in Jerusalem entdeckte, diesen zu seinen Besitzern in ein arabisches Dorf jenseits der israelisch-jordanischen Grenze zurückbringen wollte und von jordanischen Soldaten und UNO-Beobachtern nach Hause gebracht wurde. Der Clou an der Geschichte ist, dass, wie Segev wenige Zeilen weiter schreibt, sie sich so nicht zugetragen hat und sein Freund und er, wie er später herausfand, das jordanische Gebiet nicht betreten haben. Mit dieser Geschichte schlägt Tom Segev den Ton an, der das Buch durchzieht und der es äußerst lesenswert macht. Er zeichnet sowohl seine als auch die Lebensgeschichte seiner Eltern, Ricarda und Heinz Schwerin, nach. Die Eltern lernten sich Anfang der 1930er Jahre als Studenten am Bauhaus kennen, Heinz Schwerin konnte als Jude nach 1933 dort nicht weiterstudieren. Das Paar floh zunächst nach Prag und schließlich nach Jerusalem, wo sie Freunde aus ihrer Studienzeit hatten. Heinz Schwerins Eltern folgten gerade noch rechtzeitig, um der Shoah zu entfliehen. Segev flicht in seinen Erinnerungen zwei Erzählungen ineinander, seine Familiengeschichte und die des Staates Israel. Als Historiker stellt er an seine Erinnerungen dabei immer wieder die Frage: War es wirklich so, erinnere ich es so, und welche Fakten, welche Dokumente belegen oder widerlegen meine Erinnerung? Als Journalist vermag es Segev, fesselnd zu erzählen und einen eintauchen zu lassen in eine faszinierende Lebens- und Gesellschaftsgeschichte.
Gabriele Schulz