Toni Mor­ri­son: Rezitativ

„Wir kamen gut aus, Roberta und ich. Wech­sel­ten jeden Abend das Bett, krieg­ten schlechte Noten in Gemein­schafts­kunde, freier Rede und Tur­nen. (…) Fast alle waren echte Wai­sen mit lie­ben ver­stor­be­nen Eltern im Him­mel. Wir waren die ein­zi­gen Abser­vier­ten“, erzählt die Ich-Erzäh­le­rin Twyla in Toni Mor­ri­sons ein­zi­ger Erzäh­lung „Rezi­ta­tiv“, die bereits 1983 erschien, aber nun erst­mals ins Deut­sche über­setzt wurde. Sie han­delt von zwei Mäd­chen – Twyla und Roberta –, die sich im Kin­der­heim anfreun­den, sich dann für Jahre aus den Augen ver­lie­ren und sich als Frauen immer wie­der zufäl­lig begeg­nen in einem Diner, im Super­markt – und auch bei einer Demons­tra­tion, bei der sie auf ver­schie­de­nen Sei­ten ste­hen. Doch nicht nur dann trennt sie ein tie­fer Gra­ben – bedingt durch ihre Haut­farbe. Eine Prot­ago­nis­tin ist weiß, eine ist schwarz. Doch wel­che ist wel­che? Die Lese­rin­nen und Leser erfah­ren es nicht. Und genau darin liegt die Meis­ter­leis­tung die­ser Erzählung.
Mor­ri­son ist ohne Frage ein lite­ra­ri­sches Aus­nah­me­ta­lent, nicht umsonst ist sie eine der zu weni­gen weib­li­chen Nobel­preis­trä­ge­rin­nen: Mit „Rezi­ta­tiv“ ist ihr ein wei­te­res Aus­nah­me­werk gelun­gen, das auf außer­or­dent­li­che Weise mit unse­rer Wahr­neh­mung spielt. Wel­ches Mäd­chen ist weiß, wel­che Frau ist schwarz? Die Figu­ren ver­wan­deln sich im Laufe weni­ger Worte von ver­meint­lich weiß in ver­meint­lich schwarz und zurück. Und wieso will man das über­haupt so drin­gend wis­sen? Woher kommt das Bedürf­nis, Twyla und Roberta anhand ihrer Haut­farbe ein­ord­nen zu wol­len? Mit die­sen Fra­gen setzt sich auch die bri­ti­sche Schrift­stel­le­rin Zadie Smith im Nach­wort zu »Rezi­ta­tiv« aus­ein­an­der. Und wirft noch eine weit­aus wich­ti­gere auf: Wieso gibt Mor­ri­son bewusst und sys­te­ma­tisch nicht die Ant­wort auf die Frage der Haut­farbe? Smith schreibt dazu: „Rezi­ta­tiv ruft mir in Erin­ne­rung, dass es keine wesen­haft schwarze oder weiße Qua­li­tät ist, arm zu sein, unter­drückt, unbe­deu­tend, aus­ge­beu­tet, miss­ach­tet.“ Unbe­dingte Leseempfehlung!

The­resa Brüheim

Toni Mor­ri­son. Rezi­ta­tiv. Aus dem Eng­li­schen von Tanja Han­dels. Ham­burg 2023

Von |2023-05-30T13:08:24+02:00Mai 26th, 2023|Rezension|Kommentare deaktiviert für Toni Mor­ri­son: Rezitativ
Theresa Brüheim ist Referentin für Kommunikation beim Deutschen Kulturrat und Chefin vom Dienst bei Politik & Kultur.