Reli­gi­ons­frei­heit

Hohes Gut mit hoher kul­tur­po­li­ti­scher Bedeutung

Ers­tens: Reli­gi­ons­frei­heit ist ein hohes Gut für alle Men­schen. Zwei­tens: Reli­gi­ons­frei­heit hat auch eine hohe kul­tur­po­li­ti­sche Bedeutung.

Der erste Satz klingt wie eine Selbst­ver­ständ­lich­keit, ist es aber nicht. Man denke nur an die Fuß­ball-WM in Katar zurück. Da wurde die Gleich­be­rech­ti­gung von LGBT-Men­schen ein­ge­klagt – aus guten Grün­den. Lei­der geriet die Umset­zung nicht eben welt­meis­ter­lich. Mit glei­chem Recht jedoch hätte man auf die Gleich­be­rech­ti­gung nicht mus­li­mi­scher Men­schen hin­wei­sen kön­nen. Denn es gibt dort sehr viele Chris­tin­nen und Chris­ten, die ihre Got­tes­dienste nur in einem Reli­gi­ons­getto vor den Toren der Stadt fei­ern dür­fen. All den hin­du­is­ti­schen Wan­der­ar­bei­tern ist dies gänz­lich ver­bo­ten – auf­grund von „Viel­göt­te­rei“. Auf den „Abfall“  vom Islam steht immer noch die Todes­strafe, auch wenn sie freund­li­cher­weise seit vie­len Jah­ren nicht mehr voll­zo­gen wird. „Mis­sion“ ist eben­falls strikt ver­bo­ten. Nun mag man Mis­sion grund­sätz­lich kri­tisch betrach­ten. Aber sie steht auch für die Frei­heit, die mit der Geburt vor­ge­ge­bene Reli­gi­ons­zu­ge­hö­rig­keit zu ver­las­sen und aus eige­ner Über­zeu­gung einen ande­ren Glau­ben anzu­neh­men. Sie ist die andere Seite der nega­ti­ven Reli­gi­ons­frei­heit, also der Frei­heit, nicht mehr zu glauben.

Dar­auf hät­ten unsere Fuß­ball­hel­den und die sie beglei­ten­den Medien durch­aus hin­wei­sen kön­nen. Dafür aber hät­ten sie ein­mal um die Ecke den­ken und sich ernst­haft mit dem Leben in einem strikt mus­li­mi­schen Land aus­ein­an­der­set­zen müs­sen. Doch ihr Ver­säum­nis ist kein Zufall. Denn es scheint hier­zu­lande Kon­sens gewor­den zu sein, Reli­gi­ons­frei­heit für das Pri­vi­leg einer Min­der­heit selt­sam ver­an­lag­ter Men­schen zu hal­ten. Dabei über­sieht man jedoch, dass der Schutz einer Min­der­heit immer der gesam­ten Gesell­schaft zugu­te­kommt. Deren Mensch­lich­keit bemisst sich an ihrem Umgang mit Min­der­hei­ten – ob es nun Anders­gläu­bige oder Anders­lie­bende sind. Des­halb geht es uns sehr wohl etwas an, wenn im Iran Ange­hö­rige der Bahai-Reli­gion ermor­det oder in China christ­li­che Men­schen­recht­ler drang­sa­liert wer­den. Mit die­sen Län­dern trei­ben wir inten­siv Han­del. Dass vor Kur­zem eine evan­ge­li­sche Rei­se­gruppe, die ihre Part­ner­ge­meinde in Indien besu­chen wollte, wegen „Mis­sion“ wie­der aus­ge­wie­sen wurde und ihre indi­schen Gesprächs­part­ner ins Gefäng­nis gesperrt wur­den, hätte auch in säku­la­ren Medien Auf­merk­sam­keit ver­dient gehabt.

Nun zum zwei­ten Satz: Reli­gi­ons­frei­heit hat auch eine hohe kul­tur­po­li­ti­sche Bedeu­tung. Denn es gibt eine neue Form der Reli­gi­ons­un­ter­drü­ckung, die sich nicht nur gegen Men­schen, son­dern auch gegen Kul­tur­gü­ter rich­tet. Sie ent­spricht nicht dem Kli­schee der „Chris­ten­ver­fol­gung“, ist aber nicht weni­ger zer­stö­re­risch. Man kann es in der Ukraine beob­ach­ten. Die rus­si­schen Aggres­so­ren gehen gezielt und mas­siv gegen Kul­tur­gü­ter vor. Auf der Web­site des ukrai­ni­schen Kul­tur­mi­nis­te­ri­ums wird dies doku­men­tiert. Es ist eine lange Liste von zer­stör­ten Kir­chen der unter­schied­lichs­ten Kon­fes­sio­nen sowie von Syn­ago­gen und jüdi­schen Fried­hö­fen. Mili­tä­risch ergibt dies kei­nen Sinn, poli­tisch aber sehr wohl, denn die rus­si­schen Aggres­so­ren wol­len die Iden­ti­tät der Ukraine, die eben auch reli­giöse Wur­zeln hat, für immer vernichten.

Man sollte aber nicht über­se­hen, dass das­selbe auch in ande­ren Welt­ge­gen­den geschieht, z. B. in Äthio­pien. Im Bür­ger­krieg, der dort seit Mona­ten tobt und Hun­der­tau­sende von Men­schen­le­ben ver­nich­tet hat, grei­fen die äthio­pi­sche Zen­tral­ge­walt und ihre eri­tre­ischen Ver­bün­de­ten immer auch reli­giöse Kul­tur­gü­ter in Tigray an. Damit sol­len der Lebens­wille und der Zusam­men­halt der ört­li­chen Gemein­schaft gebro­chen und ihre christ­lich-reli­giöse Iden­ti­tät zer­stört wer­den. Das ist auch eine Art der Chris­ten­ver­fol­gung, die von Men­schen betrie­ben wird, die sich nicht sel­ten selbst als „christ­lich“ bezeich­nen. Einen Über­blick über die ange­rich­te­ten Schä­den gibt es bis­lang nicht. Viel­leicht wird man nie erfah­ren, wie viele Kir­chen, Klös­ter, Bil­der und Hand­schrif­ten ver­nich­tet wor­den sind. Wer wird sie wie­der auf­bauen – und wann?

Der zweite Sonn­tag in der Pas­si­ons­zeit ist tra­di­tio­nell der Soli­da­ri­tät mit ver­folg­ten Glau­bens­ge­schwis­tern welt­weit gewid­met. Die­ses Jahr, am 5. März, stel­len viele evan­ge­li­sche Gemein­den Äthio­pien in den Mit­tel­punkt der Pre­digt und des Gebets. Das hat auch eine kul­tur­po­li­ti­sche Bedeutsamkeit.

Die­ser Test ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 02/2023.

Von |2023-03-06T14:41:24+01:00März 6th, 2023|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

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Hohes Gut mit hoher kul­tur­po­li­ti­scher Bedeutung

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.