„Linker Antisemitismus ist unmöglich“ lautete 1976 die Überschrift in einem Artikel der „Zeit“. Nach der documenta fifteen drängt sich das Gefühl geradezu auf, dass Teile der deutschen Gesellschaft seither nicht sonderlich viel dazugelernt haben. Der offensichtliche Antisemitismus auf der international renommierten Kunstschau wurde von einigen nicht erkannt oder gar aktiv abgewehrt. Sogar begegnete uns der Versuch, die Kunst gegen jegliche Kritik zu immunisieren. Dies alles geschah auch aus der Überzeugung heraus, dass die documenta fifteen Ausdruck einer durch und durch progressiven, weltoffenen und auch in großen Teilen links zu verortenden Kunst- und Kulturszene sei – und die sei eben dem Selbstbild nach per se gegen Antisemitismus immun.
Dass linke, progressive Räume frei von Antisemitismus seien, ist ein hartnäckiger Trugschluss mit für Betroffene schmerzhaften Konsequenzen. Und doch ist dieser Irrtum ein nachvollziehbarer, müsste man doch meinen, dass sich linke Ideologien und Antisemitismus ausschließen. Bestehen nicht gerade Linke auf Gleichheit und Gerechtigkeit und schreiben sich den Kampf gegen Ausgrenzung und Verfolgung auf die Fahnen? Stehen für linke Parteien, Organisationen und Bewegungen nicht universalistisch-menschenrechtliche oder egalitäre Normen im Vordergrund?
Die Diskrepanz zwischen der langen, fatalen Tradition des Antisemitismus im linken Spektrum und dem Selbstbild vieler Menschen, die sich dort verorten, ist ein Problem: Sie führt dazu, dass der im progressiven Spektrum grassierende Antisemitismus häufig unbemerkt und noch häufiger zumindest folgenlos bleibt. Dem müssen wir uns konsequent stellen.
Antisemitismus im linken politischen Lager hat eine lange Tradition. Seit der Staatsgründung Israels 1948 versucht sich der linke Antisemitismus häufig hinter angeblich harmloser „Israelkritik“ oder dem Begriff „Antizionismus“ zu verbergen. Der österreichische Schriftsteller Jean Améry brachte es 1969 auf den Punkt, als er angesichts von Antizionismus als Weltanschauung von einem vermeintlich „ehrbaren Antisemitismus“ sprach.
Der antizionistische Kampf linker Gruppen in der jungen BRD war vielfältig. Er reichte vom Aufruf zum Boykott israelischer Produkte, über die Solidarisierung linker Vereinigungen mit dem terroristischen Kampf gewaltbereiter Palästinenserinnen und Palästinenser und Sympathiebekundungen für Jassir Arafat bis zur Teilnahme an PLO-Konferenzen, auf der der „Endsieg“ gegenüber Israel beschworen wurde. Auch vor Terror wurde nicht zurückgeschreckt: Ausgerechnet am 31. Jahrestag der Novemberpogrome, dem 9. November 1969, platzierte die linke Terrororganisation Tupamaros West-Berlin eine Bombe mit Zeitzünder im Jüdischen Gemeindehaus Berlin. Sie sollte während der Gedenkveranstaltung explodieren. Nur durch einen technischen Fehler an der Zündung kam es nicht zur Katastrophe. Ab 1969 ließen sich linke Aktivistinnen und Aktivisten in palästinensischen Camps militärisch ausbilden. Nach der Geiselnahme der israelischen Olympiamannschaft 1972 verkündete die linke Terrororganisation Rote Armee Fraktion voller Verachtung: „Israels Nazi-Faschismus verheizt seine Sportler wie die Nazis die Juden – Brennmaterial für die imperialistische Ausrottungspolitik“, so heißt es in einem „Zeit“-Artikel vom 8.3.2013.
Im Jahr 1976 erreichte der linke „Kampf gegen den Zionismus“ neue Höhepunkte. Ein deutsch-palästinensisches Bündnis brachte ein französisches Passagierflugzeug mit 257 Passagieren an Bord, darunter 83 Israelis, auf dem Flug von Paris nach Tel Aviv in seine Gewalt und entführte es nach Entebbe in Uganda. Die Entführten wurden am Zielort unter anderem von dem deutschen Terroristen Wilfried Böse räumlich in jüdisch und nichtjüdisch selektiert und gefangen gehalten.
Diese augenscheinlich antisemitischen Auswüchse schockten selbst große Teile der radikalen Linken. Zu deutlich waren die Parallelen zwischen rechten und linken Ressentiments. Das antizionistische Meinungsmonopol geriet ins Wanken. Nachdem sich die deutsche „Nahost-Debatte“ mit dem Einmarsch Israels in den Libanon 1982 nochmals zuspitzte und zu mindestens sprachlichen Entgleisungen im linken Spektrum – das beispielsweise von einer „Umkehr des Holocausts“ sprach – führte, wurde einigen klar, dass der Antizionismus längst nur noch ein Platzhalter für den tabuisierten vulgären Antisemitismus war. Das Ergebnis waren linke Aufrufe zur kritischen Reflexion und eine andauernde Spaltung des linken politischen Lagers.
Während für den einen Teil des linken Spektrums nach wie vor klar ist, dass nicht etwa autokratische Diktatoren die Hauptbedrohung sind, sondern der Staat Israel und dessen in Verschwörungsideologien fabulierter weltweiter Einfluss, gehört Antisemitismuskritik und Israelsolidarität für den anderen Teil fest zum Wertekanon. Beide Gruppen halten sich ihrem Selbstbild nach meist für anti-antisemitisch.
Die im linken Spektrum und auch in der Kunst- und Kulturszene verbreitete Annahme, gegen jeden Antisemitismus immun zu sein, führt häufig auch zu einer sehr defizitären Beschäftigung mit dem Thema Antisemitismus an sich. Wenn wir uns fragen, warum niemand der Verantwortlichen im Vorfeld der documenta fifteen auf die antisemitischen Abbildungen aufmerksam wurde, wenn wir uns fragen, warum unter den künstlerisch und organisatorisch Beteiligten der Kunstschau in Kassel niemand auf die Idee gekommen ist, den offensichtlichen Antisemitismus zu kritisieren, bevor er ausgestellt wurde, lautet die Antwort: In Deutschland hat die überwiegende Mehrheit, trotz etlicher Beteuerungen, keinen Begriff davon, worum es sich bei Antisemitismus handelt. Sie erkennen ihn auch dann nicht, wenn er offensichtlich daherkommt.
Am Ende waren es um die 738.000 Menschen, die durch die Ausstellungsräume der documenta fifteen gestreift sind. Trotz der Debatte um die antisemitischen Darstellungen haben Hunderttausende Menschen Kunstwerke betrachtet, die antisemitische Stereotypen enthielten und ohne jegliche Kontextualisierung ausgestellt wurden.
Was im Kontext der documenta zur vermeintlichen „Herrschaftskritik“ verklärt wurde, war ein für den Antisemitismus typischer Vorgang: In den betroffenen Kunstwerken wurden nicht komplexe Machtstrukturen kritisiert, wie sie sich in der globalisierten Welt tatsächlich darstellen, sondern alle Probleme wurden auf das angebliche Machwerk sehr konkreter, mächtiger Akteure verengt, die im Verborgenen die Fäden ziehen. Anstatt die autokratischen Machthaber zu kritisieren, wird eine dämonische Bestie mit Reißzähnen, gespaltener Zunge, Schläfenlocken und schwarzem Hut neben einem roboterartigen Soldaten inszeniert, der mit Schweinegesicht und Aufschrift „Mossad“ auf seinem Helm versehen ist. Es ist ein alter Trick autokratischer Machthaber in arabischen Ländern, anstelle Korruption in der eigenen Gesellschaft zu benennen und die Probleme, die die Menschen tatsächlich belasten, anzugehen, den jüdischen Staat für sie verantwortlich zu machen. Nach dem Motto: Ohne dass Israel von der Landkarte verschwinde, könnten sich die Verhältnisse nicht ändern.
Diese Erzählung ist auch in der deutschen Linken und progressiven Bewegungen weltweit weiterhin verbreitet. So schrieb Günther Grass, dass es die „Atommacht Israel (…) (sei, die) den ohnehin brüchigen Weltfrieden“ gefährde. Er selbst könne jetzt nicht mehr schweigen und habe das nur allzu lang getan, weil es da einen „Zwang“ gäbe, „der Strafe in Aussicht stellt, sobald er mißachtet wird“, denn „das Verdikt ‚Antisemitismus‘ ist geläufig“.
Auch bei der documenta konnten wir den Reflex beobachten, dass plötzlich die Kritik an antisemitischen Vorkommnissen und Äußerungen zur vermeintlich viel schlimmeren Gefahr stilisiert wird als der Antisemitismus selbst. So wird behauptet, der Vorwurf des Antisemitismus sei ein mächtiges Instrument und dazu geeignet, Karrieren zu zerstören. Allein nur: Antisemitismus, der chiffriert und nicht vulgär geäußert wird, hat noch keine Karriere zerstört. Mit der Inszenierung eines angeblich allmächtigen Vorwurfs als Diskurswaffe werden ganz einfach die Rollen vertauscht: Das Opfer wird zum Täter und soll seine Zunge hüten.
Dabei ist eines vollkommen klar: Antisemitismus ist kein Gefühl oder eine Interpretation. Es lässt sich mittels wissenschaftlich fundierter Kriterien in aller Regel klar feststellen, ob es sich etwa bei einer Aussage oder Abbildung um Antisemitismus handelt. Auch zwischen der legitimen Kritik an den politischen Verhältnissen oder politischen Entscheidungen einer israelischen Regierung und israelbezogenem Antisemitismus verläuft eine klare Linie: Wenn das Existenzrecht Israels infrage gestellt, Israel dämonisiert, in Wort oder Bild stereotyper Judenhass verbreitet, israelische Politik mit NS-Verbrechen verglichen oder ein doppelter Moralstandard angewendet wird, um die Handlungen Israels zu beurteilen, dann handelt es sich um Antisemitismus.
Dieser Test ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2023.