Die Zukunft unse­rer Vergangenheit

Die Situa­tion der öffent­li­chen Haus­halte gibt Anlass zur Sorge – auch beim Bundesarchiv

Von der brei­ten Öffent­lich­keit weit­ge­hend unbe­merkt, ist das Bun­des­ar­chiv in den zurück­lie­gen­den Jah­ren zu einer der größ­ten Kul­tur­ein­rich­tun­gen der Bun­des­re­pu­blik her­an­ge­wach­sen. Mit der Über­nahme der Unter­la­gen des ehe­ma­li­gen Staats­si­cher­heits­diens­tes der DDR am 17. Juni 2021 kann eine lange Ent­ste­hungs­ge­schichte im Wesent­li­chen als abge­schlos­sen betrach­tet wer­den, in deren Ver­lauf das Bun­des­ar­chiv sich zu einem gesamt­staat­li­chen Archiv der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ent­wi­ckelt hat. Mehr denn je kann es den Anspruch erhe­ben, inte­gra­ler Bestand­teil des Gedächt­nis­ses unse­rer Gesell­schaft zu sein. Mitt­ler­weile sichert es die gesam­ten zen­tral­staat­li­chen Über­lie­fe­run­gen des Deut­schen Rei­ches von 1867/71 bis 1945, der DDR von 1945 bis 1990 und der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land seit 1949. Aus­nah­men von die­ser Regel bil­den ledig­lich die Archive des Deut­schen Bun­des­ta­ges und des Bun­des­ra­tes sowie des mit einer behörd­li­chen Son­der­tra­di­tion begrün­de­ten Poli­ti­schen Archivs des Aus­wär­ti­gen Amts. Dage­gen ist das Mili­tär­ar­chiv eine tra­gende Abtei­lung des Bun­des­ar­chivs. Und schließ­lich hat das Bun­des­ar­chiv im Rah­men des Kine­ma­theks­ver­bun­des auch die Funk­tion eines Film­ar­chivs der Bun­des­re­pu­blik mit his­to­ri­schen Film­be­stän­den seit dem aus­ge­hen­den 19. Jahrhundert.

Mit rund 540 lau­fen­den Kilo­me­tern Akten, 150.000 Spiel- und Doku­men­tar­fil­men, mehr als 15 Mil­lio­nen Foto­gra­fien und mitt­ler­weile nur noch in Peta­byte zu mes­sen­den digi­ta­len Bestän­den zählt das Bun­des­ar­chiv zu den größ­ten Archi­ven nicht nur Euro­pas. Seine mehr als 2.300 Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter erfül­len ihre Auf­ga­ben an 23 Dienst­or­ten in 20 Städ­ten von Ros­tock bis Frei­burg im Breis­gau und St. Augus­tin bis Frank­furt (Oder).

Bei dem der­zei­ti­gen Umfang wird es aller­dings nicht blei­ben, denn die Bestände des Bun­des­ar­chivs wach­sen ste­tig wei­ter. Jedes Jahr kommt allein ein guter Kilo­me­ter als archiv­wür­dig bewer­te­ter Akten der Bun­des­re­gie­rung hinzu. Genuin digi­tale Unter­la­gen der Bun­des­ver­wal­tung machen der­zeit noch den gerin­ge­ren Teil der Über­nah­men aus, wer­den die tra­di­tio­nel­len Papier­ak­ten aber bis Mitte der 2030er Jahre wohl weit­ge­hend ersetzt haben. Filme über­nimmt das Bun­des­ar­chiv bereits heute fast nur noch in digi­ta­ler Form.

Die­ser enorme Quel­len­be­stand bil­det eine unver­zicht­bare Grund­lage für jede Beschäf­ti­gung mit der deut­schen Geschichte seit der Mitte des 19. Jahr­hun­derts. Daher steht das Archiv­gut des Bun­des jeder­mann unter den glei­chen gesetz­li­chen Bedin­gun­gen zur Nut­zung zur Ver­fü­gung. Dass jede inter­es­sierte Per­son einen gleich­mä­ßig gere­gel­ten und mög­lichst nied­rig­schwel­li­gen Zugang zu Archiv­gut des Bun­des hat, ist die eigent­li­che Bestim­mung des Bun­des­ar­chivs – eine reine Siche­rung ohne die Per­spek­tive der öffent­li­chen Nut­zung wäre sinnlos.

Den Auf­ga­ben­kern des Bun­des­ar­chivs bil­det somit tra­di­tio­nell der Kanon von Über­lie­fe­rungs­bil­dung und -siche­rung, Erschlie­ßung des Archiv­guts und des­sen all­ge­mei­ner Bereitstellung.

Schon die dau­er­hafte Siche­rung des ana­lo­gen Archiv­guts stellt das Bun­des­ar­chiv vor eine enorme Her­aus­for­de­rung. Das zen­trale Pro­blem besteht darin, dass nur die Maga­zine in Koblenz, Ber­lin-Lich­ter­felde und Bay­reuth die archiv­fach­li­chen Anfor­de­run­gen für den dau­er­haf­ten Erhalt des Archiv­guts voll­um­fäng­lich erfül­len, aller­dings schon in Kürze keine Kapa­zi­tä­ten für die Auf­nahme neuen Archiv­guts mehr haben wer­den. Die meis­ten ande­ren Maga­zine – ins­be­son­dere im Bereich der Stasi-Unter­la­gen – genü­gen archiv­fach­li­chen Stan­dards noch nicht ein­mal im Ansatz. Hier ist rasche Abhilfe in Gestalt neuer und zusätz­li­cher Maga­zin­bau­ten drin­gend erfor­der­lich, wenn nicht der Zer­fall des mate­ri­ell stark gefähr­de­ten Archiv­guts sehend in Kauf genom­men wer­den soll. Das Bun­des­ar­chiv selbst wird in Form eines ambi­tio­nier­ten Kon­zepts zur Straf­fung sei­ner Orga­ni­sa­tion und Redu­zie­rung sei­ner Archiv­stand­orte einen Bei­trag zur Auf­lö­sung die­ser mitt­ler­weile unhalt­ba­ren Situa­tion leis­ten. Die­ser Mas­ter­plan wird aller­dings sehr zeit­nah der Bestä­ti­gung durch die Bun­des­re­gie­rung und unter Umstän­den sogar durch das Par­la­ment bedürfen.

Der digi­tale Wan­del stellt das Bun­des­ar­chiv vor wei­tere große Her­aus­for­de­run­gen. Schon heute muss das Bun­des­ar­chiv genuin digi­tale Unter­la­gen aus zum Teil sehr kom­ple­xen IT-Anwen­dun­gen der Bun­des­ver­wal­tung über­neh­men und dau­er­haft zugäng­lich hal­ten. 2017 erhielt das Bun­des­ar­chiv auch den gesetz­li­chen Auf­trag, bereits archi­vierte ana­loge Unter­la­gen zu digi­ta­li­sie­ren und nach Mög­lich­keit online zu stel­len. Die­sem Auf­trag kommt es schon des­halb mit Hoch­druck nach, weil nach dem fak­ti­schen Weg­fall des Mikro­films als Siche­rungs­me­dium nur die digi­tale Siche­rung als zukunfts­fä­hige Methode der Bestands­si­che­rung übrig geblie­ben ist.

Gleich­zei­tig eröff­net die Digi­ta­li­sie­rung ana­lo­ger Archi­va­lien gänz­lich neue Mög­lich­kei­ten für die Bereit­stel­lung von Archiv­gut. Benut­ze­rin­nen und Benut­zer wer­den künf­tig nicht mehr gezwun­gen sein, einen bestimm­ten Lese­saal des Bun­des­ar­chivs zu bestimm­ten Öff­nungs­zei­ten auf­zu­su­chen. Viel­mehr kön­nen sie schon heute im digi­ta­len Lese­saal des Bun­des­ar­chivs jeder­zeit und über­all auf hoch­wer­tige digi­tale Repro­duk­tio­nen zurück­grei­fen. Der­zeit baut das Bun­des­ar­chiv sein Online­an­ge­bot mit jähr­lich ca. 20 Mil­lio­nen neuen Digi­ta­li­sa­ten sys­te­ma­tisch und the­men­ori­en­tiert aus, ganz abge­se­hen davon, dass auf kon­krete Bestel­lung hin zusätz­li­che Unter­la­gen digi­ta­li­siert und online gestellt wer­den können.

Sowohl die Siche­rungs­di­gi­ta­li­sie­rung als auch der digi­tale Lese­saal set­zen eine tech­ni­sche IT-Aus­stat­tung des Bun­des­ar­chivs vor­aus, die auf stän­di­gen Zuwachs – der­zeit ca. sechs Peta­byte pro Jahr – und sta­bile Ver­füg­bar­keit aus­ge­legt ist und fort­lau­fend aus­ge­baut und erneu­ert wer­den muss. Hier ent­wi­ckelt sich das Bun­des­ar­chiv schon seit Jah­ren zu einer IT-Fachbehörde.

Mit der Über­nahme der Ver­ant­wor­tung für die Stasi-Unter­la­gen hat der Deut­sche Bun­des­tag dem Bun­des­ar­chiv wei­tere Auf­ga­ben zuge­schrie­ben, die über die archi­vi­schen Kern­auf­ga­ben hin­aus gehen. Dies betrifft vor allem die Ver­pflich­tung, den Bestand der Stasi-Akten als Sym­bol der fried­li­chen Revo­lu­tion von 1989/90 sicht­bar zu erhal­ten, die Öffent­lich­keit aktiv über die Arbeits­weise der Staats­si­cher­heit im Gefüge der SED-Dik­ta­tur zu unter­rich­ten und dabei engen Kon­takt zur Gedenk­stät­ten­land­schaft in den öst­li­chen Bun­des­län­dern zu hal­ten. Die der­zei­tig 13 Archiv­stand­orte sol­len auf sechs – also einen pro Bun­des­land und für Ber­lin – zusam­men­ge­führt wer­den. An den übri­gen Stand­or­ten soll das Bun­des­ar­chiv in Zusam­men­ar­beit mit den regio­na­len Gedenk­stät­ten Aus­kunfts- und Infor­ma­ti­ons­stel­len eta­blie­ren. Es wird viel kon­zep­tio­nelle und pla­ne­ri­sche Arbeit erfor­dern, die­sen Geset­zes­auf­trag zeit­ge­mäß und zeit­nah umzu­set­zen. Einen beson­de­ren Schwer­punkt bil­det dabei die frü­here Stasi-Zen­trale in Ber­lin-Lich­ten­berg, wo ein Cam­pus für Demo­kra­tie ent­ste­hen soll, auf dem das Bun­des­ar­chiv gemein­sam mit ande­ren Insti­tu­tio­nen wie etwa der Robert-Have­mann-Gesell­schaft die Erfor­schung der und die öffent­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit der DDR-Geschichte beför­dern soll.

Seit Jahr­zehn­ten spielt das Bun­des­ar­chiv eine zen­trale Rolle bei der Erfor­schung und Auf­ar­bei­tung der NS-Gewalt­herr­schaft, des Zwei­ten Welt­kriegs und des Holo­caust, der SED-Dik­ta­tur, der Geschichte der Bun­des­re­pu­blik mit­samt ihren erst heute wirk­lich zum Vor­schein kom­men­den NS-Belas­tun­gen und seit eini­gen Jah­ren auch der deut­schen Kolo­ni­al­ge­schichte. Dabei wurde und wird immer wie­der deut­lich, dass ein allen For­schen­den offen zugäng­li­ches Bun­des­ar­chiv eine unver­zicht­bare Vor­aus­set­zung für eine kri­tisch-dis­kur­sive Aus­ein­an­der­set­zung mit der deut­schen Geschichte dar­stellt. Nur ein poli­tisch unab­hän­gig arbei­ten­des Bun­des­ar­chiv bie­tet die Gewähr dafür, dass ein­sei­tige und ver­fäl­schende Dar­stel­lun­gen ver­mie­den oder im Rück­griff auf die archi­va­li­schen Quel­len wider­legt wer­den kön­nen. Zusam­men mit den übri­gen Archi­ven in Deutsch­land bil­det das Bun­des­ar­chiv ein Boll­werk gegen jede ver­fäl­schende Indienst­nahme der Geschichte durch wen auch immer. Eine auto­ri­täre, dog­ma­ti­sche und nach innen oder außen hin aggres­sive Geschichts­po­li­tik im Stile Wla­di­mir Putins kann es in der Bun­des­re­pu­blik so lange nicht geben, wie die Archive in der Lage sind, ihre demo­kra­ti­sie­rende Wir­kung tat­säch­lich zu entfalten.

Das bedeu­tet aller­dings, dass Poli­tik und Gesell­schaft der Bun­des­re­pu­blik dem Bun­des­ar­chiv die Res­sour­cen auch tat­säch­lich zur Ver­fü­gung stel­len müs­sen, die es für die sichere Unter­brin­gung sei­nes Archiv­guts und die Bewäl­ti­gung des digi­ta­len Wan­dels unbe­dingt benö­tigt. Die aktu­elle Situa­tion der öffent­li­chen Haus­halte gibt Anlass zu gro­ßer Sorge. Ein „Bun­des­ar­chiv light“ kann es jedoch ohne emp­find­li­che Ein­schnitte bei der Auf­ga­ben­wahr­neh­mung, d. h. bei der dau­er­haf­ten Erhal­tung, der all­ge­mei­nen Bereit­stel­lung und vor allem bei der his­to­risch-poli­ti­schen Bil­dungs­ar­beit nicht geben. Der Scha­den für die libe­rale Geschichts- und Erin­ne­rungs­kul­tur in Deutsch­land wäre kaum absehbar.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 11/2022.
Von |2023-03-02T14:33:30+01:00November 3rd, 2022|Medien|Kommentare deaktiviert für

Die Zukunft unse­rer Vergangenheit

Die Situa­tion der öffent­li­chen Haus­halte gibt Anlass zur Sorge – auch beim Bundesarchiv

Michael Hollmann ist Präsident des Bundesarchivs.