Michael Hollmann 3. November 2022 Logo_Initiative_print.png

Die Zukunft unse­rer Vergangenheit

Die Situa­tion der öffent­li­chen Haus­halte gibt Anlass zur Sorge – auch beim Bundesarchiv

Von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, ist das Bundesarchiv in den zurückliegenden Jahren zu einer der größten Kultureinrichtungen der Bundesrepublik herangewachsen. Mit der Übernahme der Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR am 17. Juni 2021 kann eine lange Entstehungsgeschichte im Wesentlichen als abgeschlossen betrachtet werden, in deren Verlauf das Bundesarchiv sich zu einem gesamtstaatlichen Archiv der Bundesrepublik Deutschland entwickelt hat. Mehr denn je kann es den Anspruch erheben, integraler Bestandteil des Gedächtnisses unserer Gesellschaft zu sein. Mittlerweile sichert es die gesamten zentralstaatlichen Überlieferungen des Deutschen Reiches von 1867/71 bis 1945, der DDR von 1945 bis 1990 und der Bundesrepublik Deutschland seit 1949. Ausnahmen von dieser Regel bilden lediglich die Archive des Deutschen Bundestages und des Bundesrates sowie des mit einer behördlichen Sondertradition begründeten Politischen Archivs des Auswärtigen Amts. Dagegen ist das Militärarchiv eine tragende Abteilung des Bundesarchivs. Und schließlich hat das Bundesarchiv im Rahmen des Kinematheksverbundes auch die Funktion eines Filmarchivs der Bundesrepublik mit historischen Filmbeständen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert.

Mit rund 540 laufenden Kilometern Akten, 150.000 Spiel- und Dokumentarfilmen, mehr als 15 Millionen Fotografien und mittlerweile nur noch in Petabyte zu messenden digitalen Beständen zählt das Bundesarchiv zu den größten Archiven nicht nur Europas. Seine mehr als 2.300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfüllen ihre Aufgaben an 23 Dienstorten in 20 Städten von Rostock bis Freiburg im Breisgau und St. Augustin bis Frankfurt (Oder).

Bei dem derzeitigen Umfang wird es allerdings nicht bleiben, denn die Bestände des Bundesarchivs wachsen stetig weiter. Jedes Jahr kommt allein ein guter Kilometer als archivwürdig bewerteter Akten der Bundesregierung hinzu. Genuin digitale Unterlagen der Bundesverwaltung machen derzeit noch den geringeren Teil der Übernahmen aus, werden die traditionellen Papierakten aber bis Mitte der 2030er Jahre wohl weitgehend ersetzt haben. Filme übernimmt das Bundesarchiv bereits heute fast nur noch in digitaler Form.

Dieser enorme Quellenbestand bildet eine unverzichtbare Grundlage für jede Beschäftigung mit der deutschen Geschichte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Daher steht das Archivgut des Bundes jedermann unter den gleichen gesetzlichen Bedingungen zur Nutzung zur Verfügung. Dass jede interessierte Person einen gleichmäßig geregelten und möglichst niedrigschwelligen Zugang zu Archivgut des Bundes hat, ist die eigentliche Bestimmung des Bundesarchivs – eine reine Sicherung ohne die Perspektive der öffentlichen Nutzung wäre sinnlos.

Den Aufgabenkern des Bundesarchivs bildet somit traditionell der Kanon von Überlieferungsbildung und -sicherung, Erschließung des Archivguts und dessen allgemeiner Bereitstellung.

Schon die dauerhafte Sicherung des analogen Archivguts stellt das Bundesarchiv vor eine enorme Herausforderung. Das zentrale Problem besteht darin, dass nur die Magazine in Koblenz, Berlin-Lichterfelde und Bayreuth die archivfachlichen Anforderungen für den dauerhaften Erhalt des Archivguts vollumfänglich erfüllen, allerdings schon in Kürze keine Kapazitäten für die Aufnahme neuen Archivguts mehr haben werden. Die meisten anderen Magazine – insbesondere im Bereich der Stasi-Unterlagen – genügen archivfachlichen Standards noch nicht einmal im Ansatz. Hier ist rasche Abhilfe in Gestalt neuer und zusätzlicher Magazinbauten dringend erforderlich, wenn nicht der Zerfall des materiell stark gefährdeten Archivguts sehend in Kauf genommen werden soll. Das Bundesarchiv selbst wird in Form eines ambitionierten Konzepts zur Straffung seiner Organisation und Reduzierung seiner Archivstandorte einen Beitrag zur Auflösung dieser mittlerweile unhaltbaren Situation leisten. Dieser Masterplan wird allerdings sehr zeitnah der Bestätigung durch die Bundesregierung und unter Umständen sogar durch das Parlament bedürfen.

Der digitale Wandel stellt das Bundesarchiv vor weitere große Herausforderungen. Schon heute muss das Bundesarchiv genuin digitale Unterlagen aus zum Teil sehr komplexen IT-Anwendungen der Bundesverwaltung übernehmen und dauerhaft zugänglich halten. 2017 erhielt das Bundesarchiv auch den gesetzlichen Auftrag, bereits archivierte analoge Unterlagen zu digitalisieren und nach Möglichkeit online zu stellen. Diesem Auftrag kommt es schon deshalb mit Hochdruck nach, weil nach dem faktischen Wegfall des Mikrofilms als Sicherungsmedium nur die digitale Sicherung als zukunftsfähige Methode der Bestandssicherung übrig geblieben ist.

Gleichzeitig eröffnet die Digitalisierung analoger Archivalien gänzlich neue Möglichkeiten für die Bereitstellung von Archivgut. Benutzerinnen und Benutzer werden künftig nicht mehr gezwungen sein, einen bestimmten Lesesaal des Bundesarchivs zu bestimmten Öffnungszeiten aufzusuchen. Vielmehr können sie schon heute im digitalen Lesesaal des Bundesarchivs jederzeit und überall auf hochwertige digitale Reproduktionen zurückgreifen. Derzeit baut das Bundesarchiv sein Onlineangebot mit jährlich ca. 20 Millionen neuen Digitalisaten systematisch und themenorientiert aus, ganz abgesehen davon, dass auf konkrete Bestellung hin zusätzliche Unterlagen digitalisiert und online gestellt werden können.

Sowohl die Sicherungsdigitalisierung als auch der digitale Lesesaal setzen eine technische IT-Ausstattung des Bundesarchivs voraus, die auf ständigen Zuwachs – derzeit ca. sechs Petabyte pro Jahr – und stabile Verfügbarkeit ausgelegt ist und fortlaufend ausgebaut und erneuert werden muss. Hier entwickelt sich das Bundesarchiv schon seit Jahren zu einer IT-Fachbehörde.

Mit der Übernahme der Verantwortung für die Stasi-Unterlagen hat der Deutsche Bundestag dem Bundesarchiv weitere Aufgaben zugeschrieben, die über die archivischen Kernaufgaben hinaus gehen. Dies betrifft vor allem die Verpflichtung, den Bestand der Stasi-Akten als Symbol der friedlichen Revolution von 1989/90 sichtbar zu erhalten, die Öffentlichkeit aktiv über die Arbeitsweise der Staatssicherheit im Gefüge der SED-Diktatur zu unterrichten und dabei engen Kontakt zur Gedenkstättenlandschaft in den östlichen Bundesländern zu halten. Die derzeitig 13 Archivstandorte sollen auf sechs – also einen pro Bundesland und für Berlin – zusammengeführt werden. An den übrigen Standorten soll das Bundesarchiv in Zusammenarbeit mit den regionalen Gedenkstätten Auskunfts- und Informationsstellen etablieren. Es wird viel konzeptionelle und planerische Arbeit erfordern, diesen Gesetzesauftrag zeitgemäß und zeitnah umzusetzen. Einen besonderen Schwerpunkt bildet dabei die frühere Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg, wo ein Campus für Demokratie entstehen soll, auf dem das Bundesarchiv gemeinsam mit anderen Institutionen wie etwa der Robert-Havemann-Gesellschaft die Erforschung der und die öffentliche Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte befördern soll.

Seit Jahrzehnten spielt das Bundesarchiv eine zentrale Rolle bei der Erforschung und Aufarbeitung der NS-Gewaltherrschaft, des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust, der SED-Diktatur, der Geschichte der Bundesrepublik mitsamt ihren erst heute wirklich zum Vorschein kommenden NS-Belastungen und seit einigen Jahren auch der deutschen Kolonialgeschichte. Dabei wurde und wird immer wieder deutlich, dass ein allen Forschenden offen zugängliches Bundesarchiv eine unverzichtbare Voraussetzung für eine kritisch-diskursive Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte darstellt. Nur ein politisch unabhängig arbeitendes Bundesarchiv bietet die Gewähr dafür, dass einseitige und verfälschende Darstellungen vermieden oder im Rückgriff auf die archivalischen Quellen widerlegt werden können. Zusammen mit den übrigen Archiven in Deutschland bildet das Bundesarchiv ein Bollwerk gegen jede verfälschende Indienstnahme der Geschichte durch wen auch immer. Eine autoritäre, dogmatische und nach innen oder außen hin aggressive Geschichtspolitik im Stile Wladimir Putins kann es in der Bundesrepublik so lange nicht geben, wie die Archive in der Lage sind, ihre demokratisierende Wirkung tatsächlich zu entfalten.

Das bedeutet allerdings, dass Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik dem Bundesarchiv die Ressourcen auch tatsächlich zur Verfügung stellen müssen, die es für die sichere Unterbringung seines Archivguts und die Bewältigung des digitalen Wandels unbedingt benötigt. Die aktuelle Situation der öffentlichen Haushalte gibt Anlass zu großer Sorge. Ein „Bundesarchiv light“ kann es jedoch ohne empfindliche Einschnitte bei der Aufgabenwahrnehmung, d. h. bei der dauerhaften Erhaltung, der allgemeinen Bereitstellung und vor allem bei der historisch-politischen Bildungsarbeit nicht geben. Der Schaden für die liberale Geschichts- und Erinnerungskultur in Deutschland wäre kaum absehbar.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2022.
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