Make friends, not art!“. Wer in diesem Sommer durch die Räume eines aufgegebenen Fabrikgebäudes in der nordhessischen Metropole Kassel strich, stand plötzlich vor einer grünen Schultafel, auf der mit weißer Kreide dieses Motto prangte.
Ein ungewöhnlicher Satz für eine Kunstschau. Noch dazu für die documenta, der das Gebäude in diesem Jahr als Venue diente. Die 1955 von Arnold Bode gegründete Quinquennale gilt, neben der Biennale in Venedig, als wichtigste globale Kunstausstellung mit paradigmatischem Charakter für die Kunstwelt.
In der gigantischen „lumbung“-Arena, die das indonesische Kuratorenkollektiv ruangrupa in Kassel errichtet hat, erinnert tatsächlich wenig an den herkömmlichen Kunstbegriff.
Der Titel für die „documenta fifteen“, wie die Schau diesmal getauft wurde, ruft den Begriff für eine Reisscheune im ländlichen Indonesien auf, in der gemeinschaftlich die Ernte für schlechte Zeiten gesammelt wird.
Vielmehr gleicht die Ausstellung, die Mitte Juni eröffnete und noch bis Ende September zu sehen ist, einer Generalversammlung der globalen Initiativen, die sich dem Kampf gegen Armut, für den Erhalt der Umwelt, für Geschlechtergerechtigkeit, den Kampf gegen Kolonialismus, Kapitalismus und Autoritarismus verschrieben haben.
Den Kern des auf über 30 Ausstellungsorte im Kasseler Stadtraum verteilten Kunstparcours bilden 14 Kollektive aus der ganzen Welt. Die Liste reichte vom Food-Collective „Britto Arts Trust“ aus Bangladesch über das queere Kollektiv „FAFSWAG“ aus Neuseeland bis zu dem „Instituto de Artivismo Hannah Arendt“ der kubanischen Oppositionskünstlerin Tania Bruguera aus Kuba.
In einem spektakulären Akt der Machtteilung reichte das Kuratorenkollektiv dazu sein Privileg, Künstlerinnen und Künstler einzuladen, an diese Kollektive weiter. Wie bei einem Schnellball-System vervollständigte sich die Ausstellung bis zu der sagenhaften Zahl von rund 1.400 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.
Unter ihnen ist etwa eine dänische Organisation, die Geflüchtete mit Rechtsberatung und Sprachkursen unterstützt oder eine Gruppe aus Bangladesch, die sich um Müllvermeidung bemüht. Es gibt einen Bienenzüchter aus Kassel, einen „trans*feministischen Kunst- und Sozialraum“ oder ein koreanisches Forschungsprojekt, „das die vielfältigen Verbindungen zwischen Pflanzen und Menschen, Zivilisation und Naturphänomenen sowie Kolonialismus und Ökologie untersucht“.
So programmatisch kunstlos, wie dieses Großaufgebot sozialer und politischer Initiativen erscheinen könnte, ist die documenta fifteen aber nicht. Die Mehrheit der insgesamt rund 1.400 Künstlerinnen und Künstler treibt zwar die Logik der „Sozialen Plastik“ auf die Spitze, die Joseph Beuys, der 1986 verstorbene Übervater der engagierten Ästhetik, schon auf den documenta-Ausgaben 1972 und 1977 mit seinem „Büro für direkte Demokratie“ und der „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ vorgegeben hatte.
Symbolisch erinnert daran das zur „Fridskul“ umgetaufte Museum Fridericianum, seit jeher die ästhetisch-politische Herzkammer jeder documenta. In dessen Rotunde hat das Centre d’art Waza aus dem kongolesischen Lubumbashi einen Entspannungsraum mit Springbrunnen aus alten Plastikschüsseln aufgebaut, in dem es um Kunsterziehung und „alternative Möglichkeiten des Wissensaustausches“ geht.
Mit dem Aborigine-Maler Richard Bell und der Videoanalytikerin Hito Steyerl, dem Konzeptkünstler Hamja Ahsan und der Filmemacherin Pınar Öğrenci sind zudem zahlreiche klassische Kunstschaffende mit solitären Werken quer durch die Schau platziert.
Sie stehen auch im Mittelpunkt einer Sammelausstellung, mit der die „Off-Biennale Budapest“ für die Idee eines MoMA für Roma-Künstlerinnen und -Künstler wirbt. In der entweihten Kirche St. Kunigundis begeisterten die surrealen Voodoo-Skulpturen der Atis Rezistans Ghetto Biennale aus Haiti, genial konterkariert von der Soundskulptur „Museum of Trance“ der deutschen Künstlerin Henrike Naumann.
Auch für die meisten Kollektive ist Ästhetik eine Conditio sine qua non. Mit Kunst wollen sie soziale Beziehungen gestalten. Ob nun Tania Brugueras „Instituto de Artivismo“ in der documenta-Halle mit den als leere Masken auf Holzbalken aufgespießte Köpfe ihrer in Kuba inhaftierten Künstlerinnen und Künstlern an deren Schicksal erinnert.
Ob die Chengduer Künstler Cao Minghao und Chen Jianjun mit ihrer Langzeit-Videostudie „Water System Refuge #3“ den ökologischen und sozialen Folgen eines Staudammbaus im chinesischen Sichuan nachgehen. Oder ob das Amsterdamer Kollektiv „The Black Archives“ Zeugnisse surinamischer und afrikanischer Menschen in den Niederlanden ausbreitet.
Viel beachtete Flaggschiffe dieser Cross-Over-Ästhetik sind zwei Arbeiten in der documenta-Halle. In seiner großflächigen Rauminstallation „Churning Milk“ kombiniert das thailändische Non-Profit-Kollektiv „Baan Noorg Collaborative Arts and Culture“ den Übergang von der Reis- zur Milchwirtschaft in der thailändischen Provinz mit der regionalen Ästhetik des Schattenspiels. Raver ziehen auf einem eigens errichteten Rollfeld ihre Bahn und illustrieren das Erzählte mit Bildtafeln aus Rinderhaut.
Der Wellblechtunnel des kenianischen „Wajukuu Art Project“, durch den die Besucherinnen und Besucher die Halle betraten, ist den Manyatta, den traditionellen Siedlungen der Massai, und den Behausungen im Slum Lunga Lunga in Nairobi nachempfunden, wo das Kollektiv Wajukuu Art Project soziale und künstlerische Projekte betreibt. Wer den Tunnel durchquert, hört Straßengeräusche aus Nairobi. Der Gang führt in einen Projektraum, wo junge Künstlerinnen und Künstler in traditionellen Kunsttechniken unterrichtet werden.
Wie die Methode der antiautoritären Ausstellungsorganisation an ihre Grenzen gerät, demonstrierte dann das indonesische Kollektiv „Taring Padi“, dem indonesischen Wort für „Reisfangzähne“. Die, Ende der 1990er Jahre aus den Kämpfen gegen den Diktator Suharto hervorgegangene Truppe, faszinierte mit ihrem, auf über 600 Quadratmetern in einem stillgelegten Hallenbad ausgebreiteten Œuvre – eine grelle Mischung aus Cartoon und Agitprop. Doch sowohl Taring Padi wie auch ruangrupa hatten sich die Werke nicht genau angeschaut. Sonst wäre ihnen nicht ausgerechnet auf dem zentralen Friedrichsplatz in Kassel das Großbanner „People’s Justice“ ins Programm gerutscht. Auf dem sich die antisemitischen Stereotype Hakennase, Schläfenlocken und SS-Runen finden, die den größten Skandal der documenta-Geschichte auslösten.
Zur „Antisemita“, so „Der Spiegel“, macht diese Arbeit die documenta fifteen nicht. Schließlich haben auf der Schau 1.400 Künstlerinnen und Künstler unbeanstandete Werke ausgestellt. Wie eine dunkle Wolke überschattet sie nun aber den spannenden Versuch, einer sozial engagierten Hybridästhetik die gebührende globale Aufmerksamkeit zu verschaffen.