Pro­jek­ti­ons­bil­der statt Kunst

Docu­menta fif­teen und die jüdi­sche Frage

„Liebe Besucher*innen,

wir bedau­ern, dass die his­to­ri­schen Bil­der und Zeich­nun­gen, die um das Jahr 1988 ent­stan­den sind, für einige Besucher*innen nicht ver­ständ­lich sind und es daher zu Fehl­in­ter­pre­ta­tio­nen gekom­men ist …“

Archi­ves des lut­tes des femmes en Algérie

Gab es auf der docu­menta nicht die Aus­sage, dass Kunst dort für sich selbst spre­chen sollte? Wenn dem so sei, wie ent­ste­hen dann Fehl­in­ter­pre­ta­tio­nen und Unver­ständ­nis? Kann zeit­ge­nös­si­sche Kunst außer­halb jeg­li­cher gesell­schaft­li­chen Zusam­men­hänge über­haupt exis­tie­ren? Wie es um die Kunst­frei­heit steht, ist wohl ein west­lich über­hol­tes Kon­zept, das von einer auto­no­men für sich selbst spre­chen­den Kunst aus­ge­gan­gen ist, und kei­nen Wider­spruch dul­det. Heißt das, dass gesell­schaft­lich und poli­tisch rele­vante Kunst, wie sie ja auf der docu­menta fif­teen gezeigt wer­den sollte, nicht gesell­schaft­lich oder poli­tisch reflek­tiert wer­den darf? Das sind Fra­gen, mit denen sich Kul­tur­schaf­fende noch lange beschäf­ti­gen werden.

Für viele Jüdin­nen und Juden in Deutsch­land bedeu­tet diese Debatte nichts Gutes. Sie kön­nen mit Post­ko­lo­nia­lis­mus und „Glo­ba­lem Süden“ als abs­trakte Begriffe wenig anfan­gen. Israel ist für diese Juden – natür­lich nicht für alle – ein Garant ihres pre­kä­ren Lebens in Deutsch­land, das eigent­lich ange­sichts der Kata­stro­phe, die vor nicht so lan­ger Zeit statt­fand, immer gefähr­det ist. Was viele emp­fin­den, ist eine Nor­ma­li­sie­rung anti­jü­di­scher Res­sen­ti­ments und sie inter­es­sie­ren sich weni­ger dafür, ob das nun Anti­se­mi­tis­mus oder Isra­el­kri­tik genannt wird oder nicht. Es gibt aber auch Jüdin­nen und Juden, für die Israel pein­lich par­ti­ku­lar ist, und die in der revo­lu­tio­nä­ren Kraft des „Glo­ba­len Südens“ eine Gele­gen­heit sehen, sich einem Zeit­geist anzu­schlie­ßen, der sich als welt­of­fen auf der rich­ti­gen Seite der Geschichte sieht.

Wenn sich der Kul­tur­be­trieb zum Süden und zur Welt hin öff­net, ist dage­gen natür­lich nichts ein­zu­wen­den. Aber diese Öff­nung wird mit einer Schlie­ßung in andere Rich­tun­gen bezahlt. Es ste­hen also unüber­wind­bare Gegen­sätze im Raum. Einer­seits deut­sche Schuld und Ver­ant­wor­tung für die Ver­bre­chen der Nazis und ihrer Ver­bün­de­ten, was dann auch die Soli­da­ri­tät mit Israel bedingte, also ein „Nie wie­der Holo­caust“, und dann ande­rer­seits ein post­ko­lo­nia­les „Nie wie­der Kolo­nia­lis­mus“, was dann auch Israel selbst als einen unge­rech­ten kolo­nia­lis­ti­schen Staat beschreibt. Es geht also nicht darum, irgend­wel­che anti­se­mi­ti­sche Motive in künst­le­ri­schen Dar­stel­lun­gen zu iden­ti­fi­zie­ren, son­dern zu ver­ste­hen, dass es im anti­im­pe­ria­lis­ti­schen Agit­prop auch immer anti­se­mi­ti­sche Motive gab, die nicht immer reflek­tiert wur­den. Gerade die post­ko­lo­nia­lis­ti­sche Kunst betrach­tet Exil und Wider­stand als ästhe­ti­sche Aus­gangs­punkte, von denen aus Wahr­heit erkannt wird. Für eine welt­of­fene Kul­ture­lite, die behag­lich und sicher in ihrem Heim lebt, ist das Koket­tie­ren mit Post­ko­lo­nia­lis­mus ein Luxus, den sich die meis­ten kolo­ni­sier­ten Men­schen gar nicht erlau­ben kön­nen. Auch die Juden nicht. Das ist auch der Grund, warum Israel als Staat und Israel als Idee genau im Brenn­punkt die­ser Debat­ten ste­hen. Israel kann als eine For­ma­tion von wei­ßen Euro­pä­ern betrach­tet wer­den, die in kolo­nia­lis­ti­scher Weise den ara­bi­schen Raum erober­ten. Israel ist aber auch gleich­zei­tig ein Pro­jekt der Befrei­ung der Juden, die in und außer­halb Euro­pas von den „ein­hei­mi­schen“ Men­schen unter­drückt, ver­folgt und schließ­lich auch ermor­det wur­den. Genau dies bringt auf den Punkt, wor­aus sich die Isra­el­skep­sis heute speist. Auf der docu­menta mani­fes­tiert sich das – und da wird es buch­stäb­lich zum Bild. Da mani­fes­tie­ren sich die Bruch­li­nien zwi­schen den Lagern. Die Frage ist, wie wir Juden damit umge­hen soll­ten. Kein Anti­se­mi­tis­mus­be­auf­trag­ter wird das rich­ten, kein Appell an die Ver­gan­gen­heit wird es rich­ten, kein Wut­aus­bruch des Zen­tral­rats wird es wie­der gut machen. Keine Rück­tritte wer­den es rich­ten und die Schlie­ßung der docu­menta sowieso nicht.

Um Kunst geht es dabei gar nicht mehr, son­dern um Pro­jek­ti­ons­bil­der. Und wenn es wirk­lich Pro­jek­ti­ons­bil­der sind, dann wer­den die Fra­gen der Ein­stel­lung gegen­über Israel kom­pli­zier­ter und auch kom­ple­xer, als sie viel­leicht im ers­ten Moment für die docu­menta-Macher aus­se­hen. Was für uns Juden bleibt, ist, sich von der Illu­sion zu ver­ab­schie­den, dass es für Anti­se­mi­tis­mus im öffent­li­chen Raum Deutsch­lands kei­nen Platz mehr gibt. Es gibt die­sen Raum und wir Juden müs­sen ler­nen, damit umzu­ge­hen. Man kann Anti­se­mi­tis­mus oder Anti­is­rae­lis­mus nicht ein­fach weg­den­ken oder mit der rich­ti­gen Päd­ago­gik von Anti­se­mi­tis­mus­exper­ten wegzaubern.

Für uns Juden heißt das im End­ef­fekt, dass wir illu­si­ons­los unsere per­sön­li­chen, fami­liä­ren und kol­lek­ti­ven Geschich­ten in uns tra­gen müs­sen, die am Ende auch unsere poli­ti­schen Lei­den­schaf­ten prä­gen, wohin sie uns auch in die­sem Streit füh­ren werden.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2022.
Von |2023-03-02T13:37:39+01:00September 5th, 2022|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

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Docu­menta fif­teen und die jüdi­sche Frage

Natan Sznaider ist Professor für Soziologie in Tel Aviv. Sein Buch „Fluchtpunkte der Erinnerung: Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus“ ist dieses Jahr im Hanser Verlag erschienen.