Ende Mai 2022 sitze ich in einer Buchhandlung in Berlin-Charlottenburg, es sind mehrere Stühle aufgestellt, einige Leute suchen noch einen Platz. Es ist voll in dem kleinen Buchladen, denn Natalie Amiri stellt ihr neues Buch „Afghanistan – Unbesiegter Verlierer“ vor. Mit den ersten Zeilen, die die iranisch-deutsche Journalistin vorliest, ist einem ganz anders zumute, mit einem Mal ist die Leichtigkeit dieses Vorsommerabends verflogen. Mittlerweile ist ein Jahr seit der Machtübernahme der Taliban vergangen. Mitte August 2021 erreichen uns aus Kabul schreckliche Bilder der unübersichtlichen Evakuierungsarbeit. Natalie Amiri war beteiligt an der Entstehung der Liste schutzbedürftiger Menschen. Mehr als 70 Personen – Journalistinnen, Fotografinnen, Anwältinnen, Aktivistinnen – hat sie dem Bundesinnenministerium übermittelt. Tagelang telefoniert und schreibt sie mit Mitarbeitenden des Innenministeriums, der Bundeswehr sowie des Verteidigungsministeriums, um den Status ihrer Personen zu erfahren. In einem Kommunikationsprotokoll hält sie die Gespräche fest, die einfach nur erschreckend sind.
Dabei sind die nach Afghanistan geflossenen Gelder in der Summe höher als die des Marshallplans. Wie konnte die Situation so chaotisch werden? Wie konnten die Taliban so schnell an die Macht gelangen? Afghanistan war während der Zeit der US-amerikanischen Besatzung wie ein Kartenhaus konstruiert, so beschreibt es Amiri. Es blieb nur stabil, solange die Amerikaner vor Ort stationiert waren. Währenddessen bildeten die Taliban eine Parallelregierung und bauten ihre Machtbasis aus, bis sie am 15. August 2021 Kabul einnahmen. Nach der Lesung kaufe ich ein Exemplar und lasse es signieren: „Für eine bessere Zukunft“, schreibt Amiri auf die erste Seite …
Kristin Braband
Natalie Amiri. Afghanistan – Unbesiegter Verlierer. Berlin 2022