Mehr inter­kul­tu­relle Kompetenz

Eck­hard Zemm­rich im Gespräch

Der Theo­loge und Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­ler Eck­hard Zemm­rich hat lange in Indo­ne­sien gelebt und geforscht. Auch seine Habi­li­ta­ti­ons­schrift beschäf­tigt sich mit den neue­ren Ent­wick­lun­gen in der indo­ne­si­schen Reli­gi­ons­kul­tur und Kir­chen­ge­schichte. Johann Hin­rich Claus­sen spricht mit ihm über ruan­grupas soge­nann­tes „lumbung“-Prinzip, die Rezep­tion der docu­menta in Indo­ne­sien und die Not­wen­dig­keit zuneh­men­der inter­kul­tu­rel­ler Kom­pe­tenz im glo­ba­len Kunstbetrieb.

Johann Hin­rich Claus­sen: Der Streit um die docu­menta fif­teen scheint nicht zuletzt durch inter­kul­tu­relle Miss­ver­ständ­nisse ver­ur­sacht wor­den zu sein. Wie wirkt die Debatte auf Sie als Indonesien-Kenner?
Eck­hard Zemm­rich: Soweit ich die Debatte wahr­ge­nom­men habe, hat sie die Kom­ple­xi­tät des inter­kul­tu­rel­len Kon­flikts ver­fehlt. Nach dem ers­ten, sehr berech­tig­ten Schock schei­nen alle Betei­lig­ten in ihnen ver­traute Mus­ter zurück­ge­fal­len zu sein. Es gab Erschre­cken, mediale Erre­gung, poli­ti­schen Hand­lungs­druck, aber nicht die nötige Ruhe, dar­über nach­zu­den­ken, ob man viel­leicht nur die je eige­nen Kate­go­rien auf die­sen Skan­dal ange­wandt hat und so von der ande­ren Seite nicht ver­stan­den wer­den konnte. Das aber wäre der Anfang einer kri­tisch-kon­struk­ti­ven Debatte gewesen.

Das kura­to­ri­sche Team von ruan­grupa hat „lum­bung“ zum Prin­zip die­ser docu­menta erklärt. Was ist damit gemeint?
„Lum­bung“ meint zunächst einen Ort auf jedem indo­ne­si­schen Gehöft oder Dorf, näm­lich eine große Scheune, die auf Stel­zen steht, damit keine Nage­tiere hin­ein­kom­men. Dar­un­ter kann man auf Mat­ten sit­zen, bei fri­scher Luft und im Schat­ten, und über die gerechte Ver­tei­lung von lebens­not­wen­di­gen Res­sour­cen bera­ten: das Was­ser für die Fel­der oder die Reis­ernte. Wie wich­tig gerade Reis ist, zeigt sich daran, dass es im Indo­ne­si­schen gleich vier Wör­ter dafür gibt. Zugleich ist „lum­bung“ für das Kura­to­ren­team eine sozi­al­ro­man­ti­sche Chiffre,
die aber ihr gutes Recht hat. Sie sucht nach Alter­na­ti­ven zu einem rück­sichts­lo­sen Indi­vi­dua­lis­mus und ver­sucht des­halb, von der Gemein­schaft aus zu den­ken. Gerade in den gro­ßen indo­ne­si­schen Städ­ten feh­len gute soziale Orte, in denen dies aus­pro­biert wer­den kann. So erklärt sich auch der Name des kura­to­ri­schen Kol­lek­tivs: „ruan­grupa“ ist ein Kunst­wort, das man frei mit „wei­ter Gestal­tungs­raum für Neues“ über­set­zen könnte.

„Lum­bung“ scheint eine Har­mo­nie-Uto­pie zu sein. Aber ist Indo­ne­sien nicht ein Land mit tie­fen Spaltungen?
Grund­le­gend ist in Indo­ne­sien, wenn man das so gene­rell sagen darf, die Über­zeu­gung, dass es eine über­ge­ord­nete Har­mo­nie gibt. Sonst könnte es nichts Ein­zel­nes, uns selbst nicht geben. Es gibt ein kos­mo­lo­gi­sches Gan­zes, das auch unser Leben bestimmt, wenn der von uns gestal­tete Mikro­kos­mos die­sem Makro­kos­mos ent­spricht. Das hat eine ästhe­ti­sche Seite: Man kann diese Har­mo­nie füh­len, schme­cken, hören. Der Begriff dafür ist „rasa“. Man muss sich ihr aber auch öff­nen. Die Gefahr bei sol­chen Har­mo­nie­vor­stel­lun­gen ist, dass man geneigt ist, stö­rende Ele­mente aus­zu­schal­ten. Kon­flikte wer­den nicht offen aus­ge­tra­gen, son­dern tabui­siert, bis sie im schlimms­ten Fall explo­die­ren. Dafür steht eines der weni­gen indo­ne­si­schen Wör­ter, die man über­all auf der Welt kennt: „amok“.

Ist „lum­bung“ – nach unse­rem Ver­ständ­nis – über­haupt demo­kra­tie­fä­hig? Blei­bende Dif­fe­ren­zen schei­nen nicht vor­ge­se­hen zu sein. Was bedeu­tet das für Minderheitenrechte?
Auf jeden Fall ist „lum­bung“ demo­kra­tie­fä­hig. Es lebt davon, dass man so lange berät, bis man einen Kom­pro­miss gefun­den hat, der für alle akzep­ta­bel ist. Das Kon­sens­prin­zip kos­tet viel Zeit, sorgt aber dafür, dass alle ihr Gesicht wah­ren. Min­der­hei­ten kön­nen beim „lum­bung“ nicht ein­fach von der Mehr­heit über­stimmt wer­den, müs­sen sich aber in das Ganze ein­fü­gen. Die Frage ist jedoch, wer zu den Gesprä­chen ein­ge­la­den wird. Das betraf z. B. christ­li­che Fami­lien in mehr­heit­lich nicht­christ­li­chen Dör­fern. Dür­fen sie an „lum­bung“ -Bera­tun­gen teilnehmen?

Ruan­grupa dürfte säku­lar ein­ge­stellt sein. Aber ist „lum­bung“ nicht auch eine reli­giöse Kategorie?
Unsere Vor­stel­lun­gen von „säku­lar“ und „reli­giös“ las­sen sich nicht eins zu eins auf Indo­ne­sien anwen­den. Ich weiß nicht, wel­ches die genauen Lebens­po­si­tio­nen der Mit­glie­der von ruan­grupa heute sind. Aber ich ver­mute, dass alle in Kind­heit und Jugend eine reli­giöse Sozia­li­sa­tion erfah­ren haben – was sie von der Mehr­heit im deut­schen Kul­tur­be­trieb unter­schei­den dürfte. Des­halb gehe ich davon aus, dass zumin­dest impli­zit bei „lum­bung“ reli­giöse Asso­zia­tio­nen mitschwingen.

Wenn man auf „Har­mo­nie“ aus­ge­rich­tet ist, muss jeder Dis­sens ille­gi­tim erschei­nen. Da ist es nicht weit zum Anti­se­mi­tis­mus: dem Hass auf „die Juden“, die angeb­lich die Ein­heit des „Eige­nen“ zer­stö­ren. Ist Ihnen in Indo­ne­sien Anti­se­mi­tis­mus begegnet?
Es gibt in der Öffent­lich­keit eine starke Soli­da­ri­tät mit Paläs­ti­nen­sern und eine scharfe Kri­tik am Staat Israel, den man als Unter­drü­cker wahr­nimmt. Aber es gibt bei der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit oder gar staats­tra­gend kei­nen welt­an­schau­lich auf­ge­la­de­nen Anti­se­mi­tis­mus mit Ver­nich­tungs­ab­sich­ten, wie wir ihn aus der deut­schen Geschichte ken­nen. Das Juden­tum gehört zwar nicht zu den fünf staat­lich aner­kann­ten Reli­gio­nen, ist aber erlaubt. 2013 kam es aller­dings zu einem bar­ba­ri­schen Akt im Gefolge des Israel-Gaza-Kon­flikts, als die ein­zige Syn­agoge in Sura­baya auf der Insel Java nie­der­ge­ris­sen wurde.

Eng ver­bun­den mit ruan­grupa ist das künst­le­ri­sche Kol­lek­tiv Taring Padi. Des­sen Haupt­bild „People’s Jus­tice“ hat man zuerst ver­hängt und dann abge­hängt. Hätte man anders mit ihm umge­hen sollen?
Ich bin mir nicht sicher, ob das mög­lich gewe­sen wäre. Die fast panik­ar­tige Ver­hän­gung, gefolgt vom Abbau beschäf­tigt mich aber immer noch. Sie erscheint wie das Ein­ge­ständ­nis, dass man es hier mit einer archai­schen Macht zu tun hat, dass wir eben nicht alles selbst kon­stru­ie­ren. Bil­der sind wirk­mäch­tig! Der Name „Taring Padi“ bedeu­tet so viel wie „rau­schen­der Reis“. Ich hätte mir gewünscht, dass man dem Lau­schen auf die­ses Rau­schen mehr Zeit gege­ben hätte. Vor dem ver­häng­ten Bild hätte man Debat­ten gestal­ten kön­nen. Wo, wenn nicht auf der docu­menta, sollte ein Dis­kurs über Frem­des und Uner­träg­li­ches mög­lich sein? Jetzt ist das anstö­ßige Bild weg, man kann es nicht mehr loka­li­sie­ren, nur der Dis­kurs ist – irgend­wie ort­los – im Raum.

Die Bil­der von Taring Padi kön­nen auf euro­päi­sche Betrach­ter höchst gewalt­träch­tig wir­ken. Nun ist die Geschichte Indo­ne­si­ens von extre­men Gewalt­er­fah­run­gen geprägt, die man hier­zu­lande kaum kennt. Wie gehen die indo­ne­si­sche Gesell­schaft und Kunst heute damit um?
Das Trauma der Mas­sen­morde und Mas­sen­in­haf­tie­run­gen der 1960er Jahre wirkt immer noch nach. In intel­lek­tu­el­len Zir­keln spricht man dar­über. In der Öffent­lich­keit ist es kein Thema. Das ver­hin­dern auch alte Täter­seil­schaf­ten, bis in oberste Macht­eli­ten hin­ein. Es wäre loh­nend, die indo­ne­si­sche Gegen­warts­kunst dar­auf­hin zu unter­su­chen, wo in ihr die­ses Trauma bear­bei­tet wird. Man­che Krass­hei­ten – wie die Frat­zen-Kari­ka­tu­ren von Taring Padi – könnte man in die­ser Per­spek­tive viel­leicht bes­ser verstehen.

Die docu­menta wollte dem „Glo­ba­len Süden“ das Wort über­las­sen. Es scheint aber, als werde die schlichte Gegen­über­stel­lung „Süden gegen Nor­den“ der post­ko­lo­nia­len Frage nicht gerecht. Indo­ne­sien ist doch bei­des gewe­sen: Opfer kolo­nia­lis­ti­scher Über­wäl­ti­gung und selbst Kolo­nia­list. Ost­ti­mor musste dar­un­ter schreck­lich lei­den. Heute wer­den die Ein­woh­ner des indo­ne­si­schen Teils von Papua bru­tal bedrängt. Wird in Indo­ne­sien auch dar­über nachgedacht?
Indo­ne­sien ist als staat­li­che Ein­heit ein kolo­nia­lis­ti­sches Kon­strukt und wollte dar­aus eine eigene natio­nale Iden­ti­tät machen. Auf Unab­hän­gig­keits­be­we­gun­gen in Nord-Sula­wesi, West-Papua, Aceh oder Ost­ti­mor reagierte man des­halb nicht zuletzt mit mili­tä­ri­scher Gewalt. So wer­den kolo­nia­lis­ti­sche Mus­ter im Grunde wei­ter­ge­führt. Doch die Beschäf­ti­gung mit eige­nen Schuld­ge­schich­ten steckt noch in den Anfän­gen. Es ist eben leich­ter – und man hat es gezwun­ge­ner­ma­ßen auch lange ein­ge­übt – zu sagen: Das Böse kommt von außen, im Inne­ren aber herrscht Harmonie.

Wel­che Reak­tio­nen auf die deut­sche Debatte um die docu­menta haben Sie in Indo­ne­sien wahrgenommen?
Zunächst Unver­ständ­nis: Warum diese scharfe Kri­tik? Sodann Zurück­wei­sung: Mit eurem Anti­se­mi­tis­mus haben wir nichts zu tun! Auch Kopf­schüt­teln: Warum haben die Deut­schen kei­nen Sinn für den gro­tes­ken Humor unse­rer Pro­test­kunst? Schließ­lich eine tiefe Ver­letzt­heit: Wir ver­lie­ren durch die über­har­ten Anschul­di­gun­gen unser Gesicht! – Mir zei­gen der Skan­dal und diese Reak­tio­nen, dass die deut­schen docu­menta-Ver­ant­wort­li­chen die Her­aus­for­de­run­gen eines sol­chen inter­kul­tu­rel­len Groß­ereig­nis­ses völ­lig unter­schätzt haben. Es genügt nicht, Gäste aus einem fer­nen Land ein­zu­la­den, ohne zu ver­su­chen, sie auch wirk­lich ken­nen­zu­ler­nen. Ich denke, wenn man aus die­ser docu­menta etwas für die Zukunft ler­nen kann, dann die­ses: Sol­che Gele­gen­hei­ten der Begeg­nung sind auch wei­ter­hin immens wich­tig, aber es braucht sehr viel mehr inter­kul­tu­relle Kom­pe­tenz, damit sie gelin­gen können.

Vie­len Dank. 

Die­ses Inter­view ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2022.
Von |2023-03-02T15:19:51+01:00September 5th, 2022|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

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Eck­hard Zemm­rich im Gespräch

Eckhard Zemmrich ist evangelischer Theologe, Religionswissenschaftler und Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin. Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.