Eine Stern­stunde post-kolo­nia­ler Kritik?

Der Kul­tur­be­trieb muss aus dem eige­nen ideo­lo­gi­schen Sys­tem ausbrechen

Anti­se­mi­ti­sche Kari­ka­tu­ren auf der welt­größ­ten Kunst­schau, Ras­sis­mus gegen indo­ne­si­sche Künst­ler – die Debatte um die docu­menta fif­teen hat viele Fra­gen auf­ge­wor­fen. Wie konnte es dazu kom­men? Macht Post­ko­lo­nia­lis­mus für Anti­se­mi­tis­mus blind? Wie befasst sich der Kul­tur­be­reich damit? Ist gar der ganze Kul­tur­be­trieb antisemitisch?

Als per­sön­lich Invol­vier­tem fällt es mir schwer, hier ein­fa­che Ant­wor­ten zu geben. Was ich fest­stel­len kann, ist das nahezu her­me­ti­sche ideo­lo­gi­sche Sys­tem, in wel­chem sich Kri­ti­ker wie auch Ver­tei­di­ger der Aus­stel­lung nach wie vor bewe­gen. Die­je­ni­gen, die schon immer gewusst haben wol­len, dass der „Glo­bale Süden“ voll mit Anti­se­mi­ten ist, haben das schon vor dem Beginn der Welt­kunst­schau gewusst und füh­len sich jetzt bestä­tigt; die­je­ni­gen, die eine ver­schwö­re­ri­sche Kam­pa­gne gegen BIPOC-Künst­ler her­auf­zie­hen ahn­ten, haben dafür ähn­li­che Beweise in der Hand. Fast nie­mand musste dazu die docu­menta besu­chen oder mit Betei­lig­ten spre­chen; es genüg­ten Fern­dia­gno­sen und Bauchgefühle.

Wurde auf War­nun­gen nicht gehört? Schwer zu sagen. Die ers­ten Texte die­ser Art bezo­gen sich allein auf die Nähe von ein­zel­nen Kura­to­ren zur BDS-Bewe­gung. Auch, wenn BDS in sei­nem tota­li­tä­ren Anspruch durch­aus ernst zu neh­men ist: Pau­schal Tau­sende unge­se­hene Kunst­werke unter Gene­ral­ver­dacht zu stel­len, ist uner­träg­lich. Eben­falls unan­ge­mes­sen ist es aller­dings, klar anti­se­mi­ti­sche Bild­spra­che zwang­haft zu „kon­tex­tua­li­sie­ren“, zu kul­tu­ra­li­sie­ren und als eine Per­spek­tive dar­zu­stel­len, auf der nur „wir Deut­sche“ all­er­gisch reagier­ten – so als sei die Sorge um Anti­se­mi­tis­mus eine Art Neu­rose, von der die übrige Welt glück­li­cher­weise geheilt sei.

Im Umgang mit deut­schen Kul­tur­ver­ant­wort­li­chen erlebe ich tat­säch­lich oft eine Art reak­tio­nä­res Welt­bür­ger­tum. Man sieht sich als kos­mo­po­li­tisch und würde nur allzu gerne „deut­sche Befind­lich­kei­ten“ abstrei­fen. Die deut­sche Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung sei pro­vin­zi­ell, die „inter­na­tio­nale Debatte“ längst weiter.

Bei aller Kri­tik an der deut­schen Erin­ne­rungs­kul­tur: Über­wie­gend ist mein Ein­druck, dass inter­na­tio­nale His­to­ri­ker mit eini­gem Neid auf die Fort­schritte der deut­schen „Auf­ar­bei­tung“ bli­cken – nicht zuletzt in Indo­ne­sien, wo die blu­ti­gen anti­kom­mu­nis­ti­schen Pogrome des 20. Jahr­hun­derts immer noch tabu sind. Es gehört eini­ges an deut­scher Pro­jek­ti­ons­leis­tung dazu, auto­ri­täre Regimes mit staat­lich ver­ord­ne­ter Geschichts­po­li­tik als irgend­wie „wei­ter“ zu beschrei­ben. Allzu oft habe ich das Gefühl, dass mit dem beklag­ten „Pro­vin­zia­lis­mus“ stets auch jede Menge unbe­ant­wor­tete his­to­ri­sche Fra­gen und nicht auf­ge­ar­bei­tete Schuld vom Tisch gewischt wer­den sol­len. Es gibt lei­der Par­al­le­len dazu, wenn Rechte den „Schuld­kult“ bekla­gen, einen „Schluss­strich“ zie­hen wol­len, nur inter­na­tio­na­lis­tisch – seht her, die weite Welt denkt doch genauso, wir sind nichts Beson­de­res, hier gibt es nichts zu sehen!

Zuge­ge­ben: Die post­ko­lo­niale Theo­rie hat ihre Schwä­chen, gerade bei der Ana­lyse von Anti­se­mi­tis­mus. Aber die Auf­ar­bei­tung der docu­menta fif­teen könnte eine Stern­stunde post­ko­lo­nia­ler Kri­tik dar­stel­len: Weiße deut­sche Kul­tur­schaf­fende kon­stru­ie­ren ein Bild des „Glo­ba­len Südens“, heu­ern vor allem Künst­ler an, die die­sem Bild ent­spre­chen, und über­tra­gen dann ihre eige­nen ideo­lo­gi­schen Bedürf­nisse auf diese. Anti­se­mi­tis­mus­vor­würfe wer­den dann mit Ras­sis­mus­vor­wür­fen gekon­tert; Ras­sis­mus­kri­tik zur Ver­tei­di­gung der eige­nen frag­wür­di­gen Ansich­ten instrumentalisiert.

Der Kul­tur­be­trieb muss aus die­sem ideo­lo­gi­schen Sys­tem aus­bre­chen. Dass ein Künst­ler ein­mal eine Unter­schrift unter einen BDS-Auf­ruf gesetzt hat, darf kein Todes­ur­teil für seine eigene Kar­riere oder gar für eine ganze Aus­stel­lung sein; umge­kehrt kann nicht jeder anti­se­mi­ti­sche Aus­fall als „legi­time Isra­el­kri­tik“ gerecht­fer­tigt wer­den. Es ist ras­sis­tisch, indo­ne­si­schen Künst­le­rin­nen und Künst­ler als sol­che einem här­te­ren Anti­se­mi­tis­mus­vor­wurf aus­zu­set­zen als üblich; es ist aber ebenso ras­sis­tisch, sie gegen berech­tigte Vor­würfe pater­na­lis­tisch in Schutz zu neh­men. Vor allem aber muss der Kul­tur­be­trieb damit auf­hö­ren, die eigene unge­klärte Hal­tung zu Israel als Stell­ver­tre­ter­krieg in der Kunst aus­zu­tra­gen. Das ist weder der Kunst noch der Poli­tik zuträglich.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2022.
Von |2023-03-02T15:19:21+01:00September 5th, 2022|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

Eine Stern­stunde post-kolo­nia­ler Kritik?

Der Kul­tur­be­trieb muss aus dem eige­nen ideo­lo­gi­schen Sys­tem ausbrechen

Meron Mendel ist Professor für transnationale Soziale Arbeit und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main.