Ambi­va­len­zen statt Dichotomie

Ver­här­tete Lager: Anti­se­mi­tis­mus- und Rassismuskritik

Wenn über Juden, Juden­tum, jüdi­schen Staat gespro­chen wird, ist damit zu rech­nen, dass anti­se­mi­ti­sche Res­sen­ti­ments ver­füg­bar sind. Wir leben in einer über Jahr­hun­derte geform­ten anti­jü­di­schen Kul­tur, die den unter­schied­lichs­ten Sub­kul­tu­ren und Ideo­lo­gien assi­mi­liert wurde. Ob christ­lich oder anti­im­pe­ria­lis­tisch, ob isla­mis­tisch oder rechts­extrem, im Nor­den wie im Süden, die Ste­reo­type lie­gen bereit. Man muss weder Taring Padi noch der docu­menta-Lei­tung inten­tio­na­len Anti­se­mi­tis­mus unter­stel­len, muss ihnen aber kom­plette Ver­wei­ge­rung anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­scher Selbst­re­fle­xion attes­tie­ren. Es bedarf wahr­lich nicht viel, um im Ban­ner von Taring Padi zu erken­nen: der jüdi­sche Bonze, der zugleich jüdi­sche Schlä­fen­lo­cken und SS-Runen trägt. Das sind die bei­den der­zeit wich­tigs­ten anti­se­mi­ti­schen Ste­reo­type: „jüdi­sche, böse Macht“ und „die Juden sind die Nazis von heute“. Das hat mit einer Kri­tik der Suharto-Dik­ta­tur nichts mehr zu tun. Diese aller­dings wäre berech­tigt, auch bezüg­lich der Unter­stüt­zung der Suharto-Dik­ta­tur durch den Mossad.

Wie kommt es immer wie­der dazu, dass Kri­tik durch Anti­se­mi­tis­mus ersetzt wird?

Das Bild von Taring Padi hat eine schlichte Grund­struk­tur: Auf der lin­ken Seite all das Böse an Gewalt und Unter­drü­ckung, auf der rech­ten Seite ein im Wider­stand ver­ei­nig­tes, freund­li­ches und arbeit­sa­mes Volk, dazwi­schen all die Lei­chen­berge der Geno­zide und über allem „People’s Jus­tice“. Trotz der Viel­zahl an Ele­men­ten des Bil­des ist seine Bot­schaft schlicht: Die Ver­hält­nisse sind so schlecht wie das Gute eindeutig.

In einer ras­sis­mus­kri­ti­schen Per­spek­tive ist es kei­nes­wegs nötig, aber nahe­lie­gend, eine Dicho­to­mie zwi­schen „Kolo­ni­sie­rern“ und „Kolo­ni­sier­ten“, zwi­schen „Weiß“ und „Schwarz“ zu essen­tia­li­sie­ren und iden­ti­täts­po­li­tisch zuzu­spit­zen: wrong or right, es gibt kein Drit­tes. Zugleich behaup­ten ras­sis­mus­kri­ti­sche Per­spek­ti­ven zu Recht, sie seien uni­ver­sa­lis­tisch, bean­spru­chen aber oft zu Unrecht eine Hege­mo­nie der Ras­sis­mus­kri­tik über das gesamte Feld eth­ni­scher und reli­giö­ser Ungleichheitsideologien.

In einer sol­chen Grund­ori­en­tie­rung ist die Ver­ken­nung des Anti­se­mi­tis­mus und somit die Miss­ach­tung der Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik prä­for­miert. Anti­se­mi­tis­mus wird regel­mä­ßig, auch in ela­bo­rier­ten Ras­sis­mus­theo­rien, in sei­ner Beson­der­heit igno­riert und zu einer Unter­form des Ras­sis­mus erklärt. Damit sei ras­sis­mus­kri­ti­sche Kunst und Theo­rie per defi­ni­tio­nem auch gegen Anti­se­mi­tis­mus, wes­halb man sich mit die­ser ver­meint­li­chen Unter­form nicht eigens beschäf­ti­gen muss. In die­ser Ten­denz ver­schließt sich die Ras­sis­mus­kri­tik der Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik und wird damit wehr­los gegen die kul­tu­rell welt­weit ver­an­ker­ten anti­se­mi­ti­schen Res­sen­ti­ments. Denn gegen diese hilft nur selbst­re­fle­xive Kri­tik, nicht aber unzu­rei­chende ras­sis­mus­kri­ti­sche Grundsätze.

Und ganz offen­sicht­lich falsch ist das Pos­tu­lat, Anti­se­mi­tis­mus sei eine Unter­form des Ras­sis­mus. Wäh­rend für die 2.000-jährige Geschichte der Juden­feind­schaft der christ­li­che Anti­ju­da­is­mus ent­schei­dend war, war es für den Ras­sis­mus die Kolo­ni­sie­rung und Aus­beu­tung der Welt im ent­ste­hen­den Kapi­ta­lis­mus. Wäh­rend „der Jude“ all die zer­set­zen­den Kräfte der natio­na­len Ord­nung der Welt – Libe­ra­lis­mus, Uni­ver­sa­lis­mus, Kom­mu­nis­mus, Frau­en­eman­zi­pa­tion, Finanz­ka­pi­tal usw. – ver­kör­pert, liegt die Bedroh­lich­keit „des Schwar­zen“ in sei­ner Natur­nähe. Wäh­rend der extreme Anti­se­mi­tis­mus den Jüdin­nen und Juden jed­wede Exis­tenz­be­rech­ti­gung ver­wei­gert und die sys­te­ma­ti­sche Ermor­dung als ein­zige Lösung pro­pa­giert, ist für den extre­men Ras­sis­mus der Mas­sen­mord ein Mit­tel, um totale Aus­beu­tung und Unter­jo­chung durchzusetzen.

Die Miss­ach­tung der Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik, die aus hege­mo­nia­lem Anspruch und der Ten­denz zur Dicho­to­mie und Iden­ti­täts­po­li­tik erwächst, öff­net die Ras­sis­mus­kri­tik ins­be­son­dere für Anti­se­mi­tis­mus gegen Israel. Denn in der kolo­nia­lis­mus- und ras­sis­mus­kri­ti­schen Dicho­to­mie scheint frag­los klar zu sein, wohin Israel ange­sichts der Besat­zungs­po­li­tik gehört. Das ist in gleich zwei Hin­sich­ten fatal. Ers­tens wer­den damit die für den Zio­nis­mus und Israel kon­sti­tu­ti­ven Ambi­va­len­zen weg­ge­wischt. Der Zio­nis­mus ist im kolo­nia­len Kon­text des spä­ten euro­päi­schen 19. Jahr­hun­derts ent­stan­den, aber als Reak­tion auf den Anti­se­mi­tis­mus. Zio­nis­mus ist auch eine natio­nale Befrei­ungs­ideo­lo­gie unter den ein­zig­ar­ti­gen Bedin­gun­gen der jüdi­schen Ver­fol­gungs­ge­schichte. Die tat­säch­li­che israe­li­sche Staats­grün­dung ist ohne den natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Mas­sen­mord an den Jüdin­nen und Juden nicht zu ver­ste­hen. Diese Ambi­va­lenz – Anti­se­mi­tis­mus und Shoah, kolo­niale Aspekte Isra­els – geht in der Dicho­to­mie unter. Sie kann nur ras­sis­mus­kri­tisch nicht reflek­tiert wer­den. Sie bedarf der Antisemitismuskritik.

Zwei­tens wurde Israel zu einem bevor­zug­ten Thema ras­sis­mus­kri­ti­scher Posi­tio­nen. Opfer­kon­kur­renz und wider­strei­tende Erin­ne­run­gen, evan­ge­li­kale und rechte bis rechts­extreme Unter­stüt­zung israe­li­scher Sied­lungs­po­li­tik, das Bünd­nis zwi­schen USA und Israel legen einer sich als links ver­ste­hen­den Ras­sis­mus­kri­tik nahe, die Hal­tung zu Israel zum ent­schei­den­den Aus­weis kon­se­quen­ter Über­zeu­gung zu sti­li­sie­ren. Das immu­ni­siert voll­ends gegen Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik. Der Gewinn ist enorm: Man ist all die Ambi­va­len­zen zwi­schen Ras­sis­mus- und Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik los, mit denen so oder so keine Iden­ti­täts­po­li­tik und Agit­prop zu machen wäre.

Das macht es der Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik leicht, den Anti­se­mi­tis­mus in ras­sis­mus­kri­ti­schen Posi­tio­nen zu skan­da­li­sie­ren. Lei­der macht es sich die Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik auch häu­fig leicht. Man skan­da­li­siert die anti­se­mi­ti­schen Res­sen­ti­ments, ent­wi­ckelt aber keine genaue Kri­tik der Ras­sis­mus­kri­tik, die sich dem Anti­se­mi­tis­mus öff­net. Dadurch gerät die ras­sis­mus­kri­ti­sche Per­spek­tive gene­rell in Ver­ruf, als wäre die docu­menta fif­teen ins­ge­samt ein anti­se­mi­ti­sches Unter­fan­gen, obwohl nahezu alle Kunst­pro­jekte nicht anti­se­mi­tisch sind. Das ist, als würde man die Abschaf­fung des Par­tei­en­sys­tems ver­lan­gen, weil es anti­se­mi­ti­sche Par­teien gibt. In sol­chen über­zo­ge­nen „Kri­ti­ken“ mischt sich das berech­tigte Anlie­gen, Anti­se­mi­tis­mus nicht zuzu­las­sen, mit dem durch­sich­ti­gen poli­ti­schen Inter­esse, linke, ras­sis­mus­kri­ti­sche Ansätze im All­ge­mei­nen und kri­ti­sche Posi­tio­nen zur israe­li­schen Poli­tik im Beson­de­ren zu desavouieren.

Statt­des­sen ist von der Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik zu for­dern, dass sie von sich aus die Soli­da­ri­tät mit Ras­sis­mus­kri­tik sucht. Dazu bedarf es neben dem Ver­bot von offen­sicht­li­chem Anti­se­mi­tis­mus das glaub­wür­dige, dau­er­hafte Ange­bot der selbst­re­fle­xi­ven Ver­stän­di­gung. In die­ser Hin­sicht ist die Bilanz der letz­ten Jahre nie­der­schmet­ternd: Noch nie war Anti­se­mi­tis­mus so sehr Thema in den gro­ßen öffent­li­chen Medien und staat­li­cher­seits. In allen Aus­ein­an­der­set­zun­gen um BDS, das Jüdi­sche Museum in Ber­lin, Achille Mbmebe, nun die docu­menta fif­teen ging es um die Frage, inwie­weit ras­sis­mus- und kolo­nia­lis­mus­kri­ti­sche Ansätze anti­se­mi­tisch sind. Her­aus­ge­kom­men sind ver­här­tete Lager. Dass sich Anti­se­mi­tis­mus- und Ras­sis­mus­kri­tik wie zwei feind­li­che Geschwis­ter miss­ach­ten, ist eine der größ­ten nor­ma­ti­ven Kata­stro­phen unse­rer Zeit.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2022.
Von |2023-03-02T13:44:00+01:00September 5th, 2022|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

Ambi­va­len­zen statt Dichotomie

Ver­här­tete Lager: Anti­se­mi­tis­mus- und Rassismuskritik

Klaus Holz ist Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland und zusammen mit Thomas Haury Autor des Buches „Antisemitismus gegen Israel“, 2021.