Allein­ge­las­sen

Anti­se­mi­ti­sche Ten­den­zen des „Glo­ba­len Südens“ und des Wes­tens fin­den auf der docu­menta zusammen

Es sind unru­hige Zei­ten. Die Dis­kus­sion um die anti­se­mi­ti­schen Inhalte der docu­menta fif­teen hat sich kom­plett ver­här­tet, die Aus­ein­an­der­set­zun­gen sind gif­tig gewor­den, die Ver­ant­wort­li­chen kön­nen oder wol­len nicht ver­ste­hen, was Anti­se­mi­tis­mus ist, da sie ent­we­der kein Fein­ge­fühl haben oder im Modus der Ver­leug­nung ver­har­ren. Und der Zen­tral­rat der Juden? Der führt Rück­zugs­ge­fechte. Denn was nun auch in Deutsch­land immer deut­li­cher wird: Teile des deut­schen Kul­tur- und Wis­sen­schafts­be­triebs haben sich einem neuen Nar­ra­tiv ver­schrie­ben, dem soge­nann­ten „Post­ko­lo­nia­lis­mus“ und dem Blick­win­kel des soge­nann­ten „Glo­ba­len Südens“.

Die Theo­rien hin­ter die­sen Begriff­lich­kei­ten sind zu kom­plex, um sie hier en détail aus­zu­füh­ren. Zu den zen­tra­len Denk­fi­gu­ren des Post­ko­lo­nia­lis­mus zählt jedoch frag­los der Antizionismus
– die Vor­stel­lung, dass Israel ein Kolo­nial- und letzt­lich ein Apart­heid­staat sei, gleich­sam ein letz­tes west­li­ches, ver­meint­lich „wei­ßes“ Pro­jekt, das es zu bekämp­fen und in letz­ter Kon­se­quenz auf­zu­lö­sen gilt. Dazu gesellt sich die Idee, der Holo­caust stünde in einer direk­ten Kon­ti­nui­tät der Geno­zide der Kolo­ni­al­zeit, die Shoah sei also letzt­end­lich das „Pro­dukt“ einer Ent­wick­lung, die mit den Ver­bre­chen – in die­sem Fall des deut­schen Kai­ser­rei­ches – in Afrika begon­nen habe.

Beide Gedan­ken­gänge sind unge­nau und sim­pli­fi­zie­rend – und sie unter­schla­gen ent­schei­dende Fak­ten. Israel als Kolo­ni­al­staat zu cha­rak­te­ri­sie­ren, bedeu­tet nicht nur, die jahr­tau­sen­de­lange Ver­bin­dung des jüdi­schen Vol­kes mit dem Land Israel/Palästina zu leug­nen, bedeu­tet nicht nur zu ver­ges­sen, dass immerzu Juden in Paläs­tina gelebt haben, son­dern vor allem, dass der Staat Israel von Men­schen gegrün­det wurde, die vor dem Anti­se­mi­tis­mus, den Pogro­men und der tota­len Ver­nich­tung flie­hen muss­ten und einen Platz brauch­ten, an dem sie selbst­be­stimmt und in Sicher­heit leben konn­ten. Das nicht anzu­er­ken­nen, bedeu­tet so zu tun, als ob die Men­schen, die den jüdi­schen Staat auf­ge­baut haben, „mäch­tig“ gewe­sen seien, „euro­päi­sche Her­ren­men­schen“ sozu­sa­gen. Und es bedeu­tet die Ver­leug­nung his­to­ri­scher Ent­wick­lun­gen, die viel zu kom­plex sind, um sie ein­fach in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse aufzuteilen.

Die Shoah als Fort- und Fol­ge­ent­wick­lung kolo­nia­ler Ver­bre­chen zu wer­ten, heißt, die Tota­li­tät, aber vor allem die anti­se­mi­ti­sche Erlö­sungs­ideo­lo­gie der Natio­nal­so­zia­lis­ten bei­sei­te­zu­schie­ben, die sie zur Legi­tim­ia­tion der Mas­sen­ver­nich­tung anführ­ten. Die Vor­stel­lung, dass die gesamte Menschheit
– nicht nur die Deut­schen – vom ver­meint­lich „Bösen“ erlöst wer­den könne, wenn nur die Juden aus­ge­rot­tet wür­den, gab es bei den Völ­ker­mor­den an den Herero und Nama nicht. Was diese Ver­bre­chen selbst­ver­ständ­lich nicht bes­ser macht, keineswegs.

Was der­zeit in Deutsch­land rund um die docu­menta fif­teen zu beob­ach­ten ist, ist nichts wei­ter als ein erneu­ter Ver­such, sich der eige­nen Geschichte zu ent­le­di­gen. Das Schuld­ein­ge­ständ­nis deut­scher Intel­lek­tu­el­ler gegen­über dem „Glo­ba­len Süden“ geht häu­fig mit dem Bedürf­nis ein­her, sich der Juden zumin­dest auf intel­lek­tu­elle Art und Weise zu ent­le­di­gen, indem man den Anti­se­mi­tis­mus und die Shoah nicht nur rela­ti­viert, son­dern auf der Prio­ri­tä­ten­liste her­un­ter­setzt. Der Zen­tral­rat und andere jüdi­sche Stim­men sind dabei „Ruhe­stö­rer“, wie Mar­cel Reich-Rani­cki dies ein­mal beschrie­ben hat: Wie­der ein­mal sind die Juden wider­spens­tig und las­sen das deut­sche Gewis­sen nicht in Ruhe. Dabei hilft der Ver­weis auf Ver­bre­chen, die Israel angeb­lich oder auch tat­säch­lich began­gen hat, gar nichts. Die­ser What­a­bou­tism macht die Shoah, den Mord an sechs Mil­lio­nen Juden, nicht weni­ger singulär.

Der Blick des „Glo­ba­len Südens“ auf Juden und Israel hat der­weil eine ganz eigene Qua­li­tät und Stoß­rich­tung, die zunächst ein­mal wenig mit der Schuld­sym­pto­ma­tik und der „Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung“ in Deutsch­land zu tun hat. Die „Dritte Welt“, wie sie frü­her genannt wurde, wollte sich mit guten Grün­den von ihren Unter­drü­ckern aus der nörd­li­chen Hemi­sphäre befreien. Die Ideo­lo­gien, die ihr dabei hel­fen soll­ten, ent­stamm­ten oft den christ­li­chen Befrei­ungs­ideo­lo­gien der Kir­che, bedien­ten sich aber auch einer Art Vul­gär­mar­xis­mus, einer sim­pli­fi­zier­ten Vari­ante mar­xis­ti­schen Den­kens. Dass der Unter­drückte immer der Gute ist, zählt zum Fun­da­ment die­ses Welt­bil­des und bestimmt sein Selbst­ver­ständ­nis. Dass die eigene Unter­drü­ckungs­er­fah­rung für BiPoC zen­tral ist und ihren Blick auf die Geschichte nor­ma­tiv prägt, ver­steht sich von selbst. Dass sie die Juden­ver­nich­tung in Europa als Teil einer glo­ba­len Unter­drü­ckungs- und Ver­fol­gungs­ge­schichte begrei­fen, ist zwar nach­voll­zieh­bar, aber den­noch his­to­risch nicht rich­tig, da Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus nicht nur sehr unter­schied­li­che ideen­ge­schicht­li­che Ursprünge haben, son­dern auch auf unter­schied­li­chen Denk­mus­tern beru­hen. Wäh­rend die Juden­ver­fol­gung zwar als sol­che nicht geleug­net wird, finde sich in der Welt­an­schau­ung des „Glo­ba­len Südens“ aber den­noch anti­se­mi­ti­sche Ansätze, da Juden in ihr bevor­zugt „weiß gele­sen“ wer­den. Wem die Juden als angeb­lich mäch­tige Kapi­ta­lis­ten und Kolo­nia­lis­ten gel­ten, der sieht in den Zio­nis­ten, den Grün­dern des Staa­tes Israel, erst recht „weiße“ Aus­beu­ter und Unter­drü­cker. In diese Anschau­ung spielt frei­lich auch der west­li­che Anti­se­mi­tis­mus der Kir­chen ebenso wie der Anti­zio­nis­mus von Tei­len der mar­xis­ti­schen Bewe­gung hin­ein, der die natio­nale Selbst­er­mäch­ti­gung der Zio­nis­ten als Gegen­ent­wurf zur Inter­na­tio­nale in Tei­len ablehnte. Und natür­lich ist da auch noch der isla­mi­sche Anti­se­mi­tis­mus, der unter dem Ein­fluss der NS-Pro­pa­ganda zusätz­li­che anti­se­mi­ti­sche Topoi aus Europa über­nom­men hat, die bis heute im Den­ken der Mus­lim­bru­der­schaft und ande­rer isla­mis­ti­scher Grup­pen wie­der­zu­fin­den ist.

So fin­den anti­se­mi­ti­sche Ten­den­zen des „Glo­ba­len Südens“ und der west­li­chen Welt in die­sem spe­zi­fi­schen Zusam­men­hang der docu­menta zuein­an­der. Diese unheil­volle Alli­anz, die schon seit eini­gen Jah­ren in den USA oder Groß­bri­tan­nien zu beob­ach­ten ist – nicht zuletzt im aka­de­mi­schen Milieu –, schwappt zuse­hends auch nach Deutsch­land über, und frei­lich auch hier unter völ­li­ger Ver­ken­nung der Rea­li­tä­ten im paläs­ti­nen­sisch-israe­li­schen Kon­flikt. Die Empö­rung über den „50 Holocausts“-Ausbruch des erra­ti­schen Paläs­ti­nen­ser­prä­si­den­ten Mah­moud Abbas in Ber­lin – und das Schwei­gen des Kanz­lers – mag echt gewe­sen sein. Doch wer selbst im Nahen Osten lebt, ist über diese Spra­che Abbas‘ nicht über­rascht. Vor Ort erwei­sen sich die Dinge auf bei­den Sei­ten, auf israe­li­scher wie auf paläs­ti­nen­si­scher, näm­lich als wesent­lich kom­ple­xer und ambi­va­len­ter, als man sich dies weit vom Gesche­hen gerne vor­stel­len mag. Auch wenn dies gerne bestrit­ten wird: Kri­tik an der israe­li­schen Besat­zung zu üben ist mög­lich und legi­tim, ohne dabei auto­ma­tisch anti­se­mi­ti­sche Denk­fi­gu­ren in Anspruch neh­men zu müs­sen – wenn man denn die Exis­tenz­be­rech­ti­gung des jüdi­schen Staa­tes ein­fach akzep­tie­ren würde.

Für die Juden in Deutsch­land geht die­ser neue, vom Post­ko­lo­nia­lis­mus geprägte Dis­kurs mit dem Gefühl und auch der Tat­sa­che einer zuneh­men­den Ver­nach­läs­si­gung ein­her. Die Erin­ne­rung an die Shoah wird ver­blas­sen, die Ver­ant­wor­tung, die eine deut­sche Nach­kriegs­ge­sell­schaft über­neh­men musste, wird mit zuneh­men­der Distanz immer mehr infrage gestellt wer­den, und schließ­lich wird auch die Poli­tik Isra­els dabei „hel­fen“, sich die­ser Ver­ant­wor­tung wei­ter zu ent­le­di­gen. Und sowieso wer­den deut­sche Juden wei­ter­hin für alles, was in Israel geschieht, in Haf­tung genom­men. Im Augen­blick aber scho­ckiert Juden in Deutsch­land in ers­ter Linie die Selbst­ge­rech­tig­keit, mit der die Ver­ant­wort­li­chen für die docu­menta von Anfang an agier­ten, argu­men­tier­ten oder auch schlicht weg­schau­ten. Wie sie ihr Ver­sa­gen auf die Kura­to­ren abwäl­zen, um die eigene Haut zu ret­ten. Für Juden ist das eine bit­tere Erfah­rung, die sie in der Geschichte schon häu­fig gemacht haben: dass sie näm­lich im Zwei­fels­fall allein­ge­las­sen werden.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2022.
Von |2023-03-02T15:19:57+01:00September 5th, 2022|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

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Anti­se­mi­ti­sche Ten­den­zen des „Glo­ba­len Südens“ und des Wes­tens fin­den auf der docu­menta zusammen

Richard C. Schneider ist Editor-at-Large beim BR/ARD, Journalist und Dokumentarfilmer. Als freier Autor berichtet er für den „Spiegel“ aus Israel.