Richard C. Schneider 5. September 2022 Logo_Initiative_print.png

Allein­ge­las­sen

Anti­se­mi­ti­sche Ten­den­zen des „Glo­ba­len Südens“ und des Wes­tens fin­den auf der docu­menta zusammen

Es sind unruhige Zeiten. Die Diskussion um die antisemitischen Inhalte der documenta fifteen hat sich komplett verhärtet, die Auseinandersetzungen sind giftig geworden, die Verantwortlichen können oder wollen nicht verstehen, was Antisemitismus ist, da sie entweder kein Feingefühl haben oder im Modus der Verleugnung verharren. Und der Zentralrat der Juden? Der führt Rückzugsgefechte. Denn was nun auch in Deutschland immer deutlicher wird: Teile des deutschen Kultur- und Wissenschaftsbetriebs haben sich einem neuen Narrativ verschrieben, dem sogenannten „Postkolonialismus“ und dem Blickwinkel des sogenannten „Globalen Südens“.

Die Theorien hinter diesen Begrifflichkeiten sind zu komplex, um sie hier en détail auszuführen. Zu den zentralen Denkfiguren des Postkolonialismus zählt jedoch fraglos der Antizionismus
– die Vorstellung, dass Israel ein Kolonial- und letztlich ein Apartheidstaat sei, gleichsam ein letztes westliches, vermeintlich „weißes“ Projekt, das es zu bekämpfen und in letzter Konsequenz aufzulösen gilt. Dazu gesellt sich die Idee, der Holocaust stünde in einer direkten Kontinuität der Genozide der Kolonialzeit, die Shoah sei also letztendlich das „Produkt“ einer Entwicklung, die mit den Verbrechen – in diesem Fall des deutschen Kaiserreiches – in Afrika begonnen habe.

Beide Gedankengänge sind ungenau und simplifizierend – und sie unterschlagen entscheidende Fakten. Israel als Kolonialstaat zu charakterisieren, bedeutet nicht nur, die jahrtausendelange Verbindung des jüdischen Volkes mit dem Land Israel/Palästina zu leugnen, bedeutet nicht nur zu vergessen, dass immerzu Juden in Palästina gelebt haben, sondern vor allem, dass der Staat Israel von Menschen gegründet wurde, die vor dem Antisemitismus, den Pogromen und der totalen Vernichtung fliehen mussten und einen Platz brauchten, an dem sie selbstbestimmt und in Sicherheit leben konnten. Das nicht anzuerkennen, bedeutet so zu tun, als ob die Menschen, die den jüdischen Staat aufgebaut haben, „mächtig“ gewesen seien, „europäische Herrenmenschen“ sozusagen. Und es bedeutet die Verleugnung historischer Entwicklungen, die viel zu komplex sind, um sie einfach in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse aufzuteilen.

Die Shoah als Fort- und Folgeentwicklung kolonialer Verbrechen zu werten, heißt, die Totalität, aber vor allem die antisemitische Erlösungsideologie der Nationalsozialisten beiseitezuschieben, die sie zur Legitimiation der Massenvernichtung anführten. Die Vorstellung, dass die gesamte Menschheit
– nicht nur die Deutschen – vom vermeintlich „Bösen“ erlöst werden könne, wenn nur die Juden ausgerottet würden, gab es bei den Völkermorden an den Herero und Nama nicht. Was diese Verbrechen selbstverständlich nicht besser macht, keineswegs.

Was derzeit in Deutschland rund um die documenta fifteen zu beobachten ist, ist nichts weiter als ein erneuter Versuch, sich der eigenen Geschichte zu entledigen. Das Schuldeingeständnis deutscher Intellektueller gegenüber dem „Globalen Süden“ geht häufig mit dem Bedürfnis einher, sich der Juden zumindest auf intellektuelle Art und Weise zu entledigen, indem man den Antisemitismus und die Shoah nicht nur relativiert, sondern auf der Prioritätenliste heruntersetzt. Der Zentralrat und andere jüdische Stimmen sind dabei „Ruhestörer“, wie Marcel Reich-Ranicki dies einmal beschrieben hat: Wieder einmal sind die Juden widerspenstig und lassen das deutsche Gewissen nicht in Ruhe. Dabei hilft der Verweis auf Verbrechen, die Israel angeblich oder auch tatsächlich begangen hat, gar nichts. Dieser Whataboutism macht die Shoah, den Mord an sechs Millionen Juden, nicht weniger singulär.

Der Blick des „Globalen Südens“ auf Juden und Israel hat derweil eine ganz eigene Qualität und Stoßrichtung, die zunächst einmal wenig mit der Schuldsymptomatik und der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland zu tun hat. Die „Dritte Welt“, wie sie früher genannt wurde, wollte sich mit guten Gründen von ihren Unterdrückern aus der nördlichen Hemisphäre befreien. Die Ideologien, die ihr dabei helfen sollten, entstammten oft den christlichen Befreiungsideologien der Kirche, bedienten sich aber auch einer Art Vulgärmarxismus, einer simplifizierten Variante marxistischen Denkens. Dass der Unterdrückte immer der Gute ist, zählt zum Fundament dieses Weltbildes und bestimmt sein Selbstverständnis. Dass die eigene Unterdrückungserfahrung für BiPoC zentral ist und ihren Blick auf die Geschichte normativ prägt, versteht sich von selbst. Dass sie die Judenvernichtung in Europa als Teil einer globalen Unterdrückungs- und Verfolgungsgeschichte begreifen, ist zwar nachvollziehbar, aber dennoch historisch nicht richtig, da Antisemitismus und Rassismus nicht nur sehr unterschiedliche ideengeschichtliche Ursprünge haben, sondern auch auf unterschiedlichen Denkmustern beruhen. Während die Judenverfolgung zwar als solche nicht geleugnet wird, finde sich in der Weltanschauung des „Globalen Südens“ aber dennoch antisemitische Ansätze, da Juden in ihr bevorzugt „weiß gelesen“ werden. Wem die Juden als angeblich mächtige Kapitalisten und Kolonialisten gelten, der sieht in den Zionisten, den Gründern des Staates Israel, erst recht „weiße“ Ausbeuter und Unterdrücker. In diese Anschauung spielt freilich auch der westliche Antisemitismus der Kirchen ebenso wie der Antizionismus von Teilen der marxistischen Bewegung hinein, der die nationale Selbstermächtigung der Zionisten als Gegenentwurf zur Internationale in Teilen ablehnte. Und natürlich ist da auch noch der islamische Antisemitismus, der unter dem Einfluss der NS-Propaganda zusätzliche antisemitische Topoi aus Europa übernommen hat, die bis heute im Denken der Muslimbruderschaft und anderer islamistischer Gruppen wiederzufinden ist.

So finden antisemitische Tendenzen des „Globalen Südens“ und der westlichen Welt in diesem spezifischen Zusammenhang der documenta zueinander. Diese unheilvolle Allianz, die schon seit einigen Jahren in den USA oder Großbritannien zu beobachten ist – nicht zuletzt im akademischen Milieu –, schwappt zusehends auch nach Deutschland über, und freilich auch hier unter völliger Verkennung der Realitäten im palästinensisch-israelischen Konflikt. Die Empörung über den „50 Holocausts“-Ausbruch des erratischen Palästinenserpräsidenten Mahmoud Abbas in Berlin – und das Schweigen des Kanzlers – mag echt gewesen sein. Doch wer selbst im Nahen Osten lebt, ist über diese Sprache Abbas‘ nicht überrascht. Vor Ort erweisen sich die Dinge auf beiden Seiten, auf israelischer wie auf palästinensischer, nämlich als wesentlich komplexer und ambivalenter, als man sich dies weit vom Geschehen gerne vorstellen mag. Auch wenn dies gerne bestritten wird: Kritik an der israelischen Besatzung zu üben ist möglich und legitim, ohne dabei automatisch antisemitische Denkfiguren in Anspruch nehmen zu müssen – wenn man denn die Existenzberechtigung des jüdischen Staates einfach akzeptieren würde.

Für die Juden in Deutschland geht dieser neue, vom Postkolonialismus geprägte Diskurs mit dem Gefühl und auch der Tatsache einer zunehmenden Vernachlässigung einher. Die Erinnerung an die Shoah wird verblassen, die Verantwortung, die eine deutsche Nachkriegsgesellschaft übernehmen musste, wird mit zunehmender Distanz immer mehr infrage gestellt werden, und schließlich wird auch die Politik Israels dabei „helfen“, sich dieser Verantwortung weiter zu entledigen. Und sowieso werden deutsche Juden weiterhin für alles, was in Israel geschieht, in Haftung genommen. Im Augenblick aber schockiert Juden in Deutschland in erster Linie die Selbstgerechtigkeit, mit der die Verantwortlichen für die documenta von Anfang an agierten, argumentierten oder auch schlicht wegschauten. Wie sie ihr Versagen auf die Kuratoren abwälzen, um die eigene Haut zu retten. Für Juden ist das eine bittere Erfahrung, die sie in der Geschichte schon häufig gemacht haben: dass sie nämlich im Zweifelsfall alleingelassen werden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.
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