„Wir tre­ten die­sen Anschul­di­gun­gen entgegen“

Über Anti­se­mi­tis­mus in der poli­ti­schen Linken

Im Rah­men der docu­menta fif­teen wur­den zu kei­nem Zeit­punkt anti­se­mi­ti­sche Äuße­run­gen gemacht. Wir tre­ten die­sen Anschul­di­gun­gen ent­schie­den ent­ge­gen und kri­ti­sie­ren den Ver­such, Künst­le­rin­nen und Künst­ler zu dele­gi­ti­mie­ren und sie auf Basis ihrer Her­kunft und ihrer ver­mu­te­ten poli­ti­schen Ein­stel­lun­gen prä­ven­tiv zu zen­sie­ren“, heißt es in einem offe­nen Brief des Künst­ler­kol­lek­tivs ruan­grupa vom Mai 2022. Die Gruppe wurde unter ande­rem kri­ti­siert, weil sie Künst­le­rin­nen und Künst­ler zur Docu­menta ein­ge­la­den hatte, die der anti­is­rae­li­schen Boy­kott­be­we­gung Boy­cott, Dive­st­ment & Sanc­tions (BDS) nahe­ste­hen sol­len. So dünn belegt die Vor­würfe zunächst auch waren, so sehr schien sich ruan­grupa zu bemü­hen, ihnen Recht zu geben. Eine eilig zusam­men­ge­stellte Dis­kus­si­ons­reihe unter dem Titel „Wir müs­sen reden“ sollte den Anti­se­mi­tis­mus­vor­wurf zum Gegen­stand machen. Etwa die Hälfte der ange­kün­dig­ten Spre­che­rin­nen und Spre­cher unter­stützt ent­we­der aktiv die BDS-Kam­pa­gne oder argu­men­tierte für ihre Ver­harm­lo­sung. Der Zen­tral­rat der Juden in Deutsch­land kri­ti­sierte die Reihe auf­grund ihrer „ein­deu­ti­gen Schlag­seite zuguns­ten des Anti­se­mi­tis­mus“, sodass sie wie­der abge­sagt wurde.

Der Streit um die Docu­menta spie­gelt eine gewisse Rat­lo­sig­keit im Umgang mit Anti­se­mi­tis­mus in der poli­ti­schen Lin­ken. Der Anti­se­mi­tis­mus­vor­wurf wird häu­fig als über­emp­find­li­cher Ver­such inter­pre­tiert, links­ra­di­kale oder anti­ras­sis­ti­sche Stim­men zum Schwei­gen zu brin­gen. Die Dis­kus­sion ver­la­gert sich vom Inhalt des Vor­wurfs auf die­sen selbst. Anti­se­mi­tis­mus wird zum „Streit­fall“ erklärt, die Feind­schaft gegen Jüdin­nen und Juden wird dis­ku­ta­bel gemacht, anstatt ihr ent­ge­gen­zu­tre­ten. Nicht sel­ten wäh­nen sich dann die Kri­ti­sier­ten selbst als Opfer eine Kam­pa­gne. Mit die­ser Ver­schie­bung wird auch für Unbe­tei­ligte immer schlei­er­haf­ter, um was es denn eigent­lich geht. Das ist wenig ver­wun­der­lich, äußert sich Anti­se­mi­tis­mus in der poli­ti­schen Lin­ken doch wesent­lich ver­deck­ter als z. B. bei Neo­na­zis oder im Isla­mis­mus. Anti­se­mi­tis­mus in der Lin­ken rich­tet sich sel­ten direkt gegen Jüdin­nen und Juden, son­dern setzt Chif­fren an ihre Stelle. Es geht dann gegen die „Zins­geld­knecht­schaft“, Israel oder eine ver­meint­lich obses­sive Beschäf­ti­gung Deutsch­lands mit der Schoah. Diese Argu­men­ta­ti­ons­wei­sen sind nicht offen anti­se­mi­tisch, sie sind es struk­tu­rell. Das Res­sen­ti­ment gegen Jüdin­nen und Juden bricht sich his­to­risch wie aktu­ell in min­des­tens drei Akti­ons­fel­dern lin­ker Poli­ti­ken immer wie­der Bahn: Kapi­ta­lis­mus­kri­tik, Anti­im­pe­ria­lis­mus und Erinnerungspolitik.

Im Falle der soge­nann­ten regres­si­ven Kapi­ta­lis­mus­kri­tik wird das Kapi­tal­ver­hält­nis, in das alle ver­strickt sind, ver­ding­licht, das heißt eini­gen weni­gen Per­so­nen ange­las­tet. Als Gesell­schafts­form durch­dringt der Kapi­ta­lis­mus sämt­li­che Lebens­be­rei­che und ist nicht vol­un­t­a­ris­tisch auf­zu­he­ben. Man steht dem Kapi­ta­lis­mus gewis­ser­ma­ßen ohn­mäch­tig gegen­über, was eine krän­kende Ein­sicht sein kann. Diese Krän­kung wird umgan­gen, indem man die Mehr­heit der Men­schen, vor allem aber sich selbst, davon aus­klam­mert: Alles wäre in Ord­nung, wenn da nicht die „gie­ri­gen Blut­sauger“ und „Para­si­ten“ wären. Diese Per­so­na­li­sie­run­gen sind anschluss­fä­hig an his­to­risch tra­dierte anti­se­mi­ti­sche Bil­der, nach denen Juden mit dem Kapi­tal­ver­hält­nis asso­zi­iert wer­den. Der klas­si­sche Anti­im­pe­ria­lis­mus nimmt eben­falls eine ver­zer­rende Ver­ein­fa­chung vor, näm­lich der inter­na­tio­na­len Bezie­hun­gen. Es wer­den glo­bale Inter­ven­tio­nen mäch­ti­ger Staa­ten kri­ti­siert, die dann der ver­meint­li­chen Ursprüng­lich­keit auto­chtho­ner Gemein­schaf­ten ent­ge­gen­ge­stellt wer­den. Aller­dings hat diese Inter­pre­ta­ti­ons­scha­blone eine ein­deu­tige Schlag­seite: Zumeist wird ein Manich­äis­mus bedient, nach­dem allein die USA und Israel für krie­ge­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen ver­ant­wort­lich gemacht wer­den. Die USA und Israel wer­den als „künst­li­che“ Gesell­schaf­ten den „natür­li­chen“ Gemein­schaf­ten gegen­über­ge­stellt. Im Falle Isra­els geht das so weit, dass dem Staat grund­sätz­lich die Legi­ti­mi­tät abge­spro­chen wird. Nicht das Han­deln des Staa­tes soll das Pro­blem sein, son­dern des­sen bloße Exis­tenz. Die BDS-Kam­pa­gne ist der­zeit eine der welt­weit popu­lärs­ten Erschei­nungs­wei­sen die­ser Denkform.

Über das dritte Akti­ons­feld, die Erin­ne­rungs­po­li­tik, wird gegen­wär­tig ver­stärkt dis­ku­tiert. Es wird behaup­tet, Deutsch­land sei ein­sei­tig auf die Schoah fixiert und woge­gen ein „mul­ti­per­spek­ti­vi­sches Erin­nern“ vor­ge­schla­gen wird, dass andere Völ­ker­morde wie bei­spiels­weise die deut­sche Kolo­ni­al­ge­schichte inte­griert. Der Anspruch, Erin­ne­rung aus­zu­wei­ten und ver­ges­se­nen Opfern einen Platz im öffent­li­chen Geden­ken zu geben, läuft aller­dings bis­wei­len dar­auf hin­aus, die Sin­gu­la­ri­tät der Schoah in Abrede zu stel­len. Wenn die Schoah in eine Uni­ver­sal­ge­schichte des Geno­zids ein­ge­reiht wird, kann das ent­las­tend wir­ken. Die Schoah wird dann nicht mehr als Zivi­li­sa­ti­ons­bruch ver­stan­den, son­dern als Ver­bre­chen, wie andere sie auch began­gen haben. Zum Ver­ständ­nis der Kolo­ni­al­ge­schichte trägt das wenig bei. Beson­ders unheim­lich wird diese Ent­kon­kre­ti­sie­rung, wenn sie sich dem begriff­li­chen Bau­kas­ten bedient, den auch die völ­ki­sche Rechte nutzt. So hat z.B. Dirk A. Moses jüngst von einem „Kate­chis­mus der Deut­schen“ gespro­chen, was bei­nahe iden­tisch mit der neo­na­zis­ti­schen Rede von einer „Holo­caust-­Re­li­gion“ ist.

Die Selbst­kri­tik von Anti­se­mi­tis­mus in der Lin­ken ist eine not­wen­dige Vor­aus­set­zung, über­haupt pro­gres­sive linke Poli­ti­ken machen zu kön­nen. Wo das Kapi­tal­ver­hält­nis per­so­na­li­siert wird, ver­fehlt die Kri­tik ihren Gegen­stand. Wenn allein Israel und die USA für inter­na­tio­nale Kon­flikte ver­ant­wort­lich gemacht wer­den, bleibt eine grund­le­gende Staats­kri­tik auf der Stre­cke. Wer die Erin­ne­rung an die Schoah in einer all­ge­mei­nen Geschichte der Gewalt auf­lö­sen möchte, ver­liert das his­to­risch Kon­krete aus dem Blick. Lin­ker Anti­se­mi­tis­mus kon­ter­ka­riert linke Poli­tik und gefähr­det vor allem das Leben von Jüdin­nen und Juden. Obgleich wahr­schein­lich viele derer, die aus einer links­po­li­ti­schen Posi­tion her­aus anti­se­mi­ti­sche Res­sen­ti­ments ver­brei­ten, Angriffe gegen Jüdin­nen und Juden ver­ur­tei­len wür­den, näh­ren sie doch die ideo­lo­gi­schen Grund­la­gen für sol­che Angriffe.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 06/2022.

Von |2022-08-05T09:56:50+02:00Juni 3rd, 2022|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

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Tom David Uhlig ist politischer Referent in Frankfurt.