Der Anti­se­mi­tis­mus ist noch längst nicht besiegt

Vor­wort zum Heft­schwer­punkt „Anti­se­mi­tis­mus“

Seit 1700 Jah­ren leben Juden und Jüdin­nen in Deutsch­land – oder wenn man es genau neh­men will, in dem Gebiet, das wir heute Deutsch­land nen­nen. Und wahr­schein­lich ebenso lange besteht der Anti­se­mi­tis­mus. Anti­se­mi­tis­mus, und das wurde von ver­schie­de­nen Wis­sen­schaft­lern und Wis­sen­schaft­le­rin­nen sowie Kom­mis­sio­nen her­aus­ge­ar­bei­tet, ist fes­ter Bestand­teil des Chris­ten­tums. Oder anders gesagt: Das Chris­ten­tum als his­to­risch zweite der drei Buch­re­li­gio­nen ist einer­seits dem Juden­tum beson­ders nahe, da es unter ande­rem die hebräi­sche Bibel als Teil sei­ner eige­nen Reli­gion und Theo­lo­gie sieht und ver­steht sich ande­rer­seits in Abgren­zung zum Juden­tum. Erst nach der Shoah wurde in der Evan­ge­li­schen Kir­che von den jüdi­schen Geschwis­tern gespro­chen. Bis 1956 galt eine der Für­bit­ten in der katho­li­schen Kar­frei­tags­lit­ur­gie den Juden, dass ihnen der Schleier vom Her­zen genom­men wer­den solle und sie Jesu Christi erken­nen soll­ten. Mit dem 2. Vati­ka­ni­schen Kon­zil (1962–1965) wurde diese Bitte aus der Kar­frei­tags­lit­ur­gie ent­fernt. Papst Bene­dikt XVI. ließ sie in etwas ver­än­der­ter Form 2008 wie­der zu. Ins­be­son­dere das Johan­nes-Evan­ge­lium durch­zieht, wie der Juda­ist Peter Schä­fer in sei­nem Buch „Kurze Geschichte des Anti­se­mi­tis­mus“ anschau­lich zeigt, ein Anti­ju­da­is­mus und lie­ferte damit lange Zeit christ­li­che Begrün­dun­gen für Antisemitismus.

Anti­se­mi­tis­mus ist alt und Anti­se­mi­tis­mus ist – lei­der – all­täg­lich. Anti­se­mi­tis­mus ist tief ver­an­kert in Kli­schees, Bil­dern und Vor­stel­lun­gen. Und neben dem sub­ku­tan vor­han­de­nen Anti­se­mi­tis­mus gibt es einen gewalt­tä­ti­gen Anti­se­mi­tis­mus vor allem von rechts, der in Anschlä­gen sei­nen Aus­druck fin­det. Am 9. Okto­ber 2019 ver­suchte ein Rechts­extre­mist an Jom Kip­pur, dem höchs­ten jüdi­schen Fei­er­tag, in die Syn­agoge in Halle/Saale ein­zu­drin­gen und ein Blut­bad anzu­rich­ten. Die mas­sive Holz­tür ver­hin­derte dies zum Glück. Der Täter tötete dar­auf­hin will­kür­lich zwei Men­schen außer­halb der Syn­agoge. Der Anschlag auf die Syn­agoge in Halle ist aber nur die Spitze des Eis­bergs. Der Ver­fas­sungs­schutz benennt in sei­nem jüngs­ten, im April die­ses Jah­res vor­ge­stell­ten Bericht für das Jahr 2020 2.351 anti­se­mi­ti­sche Straf­ta­ten. Das ist der höchste Wert, seit die Erfas­sung im Jahr 2001 begon­nen hat. Von die­sen Straf­ta­ten sind 57 Gewalt­ta­ten. Der weit­aus größte Teil wird mit 2.224 anti­se­mi­ti­schen Straf­ta­ten und 50 Gewalt­ta­ten von Rech­ten begangen.

Doch Anti­se­mi­tis­mus beginnt aber nicht erst mit Gewalt­ta­ten. Der Ver­fas­sungs­schutz unter­schei­det sechs ver­schie­dene Aus­prä­gun­gen des Anti­se­mi­tis­mus. Ange­fan­gen von laten­ten anti­se­mi­ti­schen Ein­stel­lun­gen über ver­ba­li­sierte Dif­fa­mie­run­gen, poli­ti­sche For­de­run­gen, dis­kri­mi­nie­rende Prak­ti­ken, Über­griffe auf Ein­rich­tun­gen und Per­so­nen bis zu sys­te­ma­ti­scher Ver­nich­tung und Mord reicht das Spek­trum. Straf­bar kön­nen bereits ver­ba­li­sierte Dif­fa­mie­run­gen sein. Die Bekämp­fung von Anti­se­mi­tis­mus ist eine ein­deu­tige poli­zei­li­che Auf­gabe, die mit deut­lich mehr Nach­druck ver­folgt wer­den muss.

Der Ver­fas­sungs­schutz ori­en­tiert sich bei der Ver­fol­gung von Anti­se­mi­tis­mus an der Arbeits­de­fi­ni­tion, die die „Inter­na­tio­nal Holo­caust Remem­brance Alli­ance“ (IHRA) ver­öf­fent­licht hat. Hier heißt es: „Anti­se­mi­tis­mus ist eine bestimmte Wahr­neh­mung von Juden, die sich als Hass gegen­über Juden aus­drü­cken kann. Der Anti­se­mi­tis­mus rich­tet sich in Wort oder Tat gegen jüdi­sche oder nicht-jüdi­sche Ein­zel­per­so­nen und/oder deren Eigen­tum sowie gegen jüdi­sche Gemein­de­in­sti­tu­tio­nen oder reli­giöse Ein­rich­tun­gen.“ Mit Blick auf den israel­be­zo­ge­nen Anti­se­mi­tis­mus wird aus­ge­führt: „Dar­über hin­aus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdi­sches Kol­lek­tiv ver­stan­den wird, Ziel sol­cher Angriffe sein.“

Der in Deutsch­land gras­sie­rende Anti­se­mi­tis­mus führt zu aku­ten Gefähr­dun­gen von Jüdin­nen und Juden und ihren Ein­rich­tun­gen in Deutsch­land. In den Foto­gra­fien zu die­sem Schwer­punkt habe ich ver­sucht, etwas von der Bedrü­ckung durch die lei­der abso­lut not­wen­di­gen Schutz­maß­nah­men der jüdi­schen Ein­rich­tun­gen, also Syn­ago­gen, Gemein­de­häu­ser, Kin­der­gär­ten und Schu­len, einzufangen.

Expo­nierte Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­ter des Juden­tums in unse­rem Land müs­sen Per­so­nen­schutz durch das Bun­des­kri­mi­nal­amt erhal­ten. Jüdi­sche Museen müs­sen bewacht wer­den. Allein, dass diese Schutz­maß­nah­men in Deutsch­land erfor­der­lich sind, ist eine Schande.

Die Bekämp­fung des Anti­se­mi­tis­mus, des offe­nen wie auch des sub­ku­ta­nen, ist eine Auf­gabe der gesam­ten Gesell­schaft. Wir alle müs­sen uns ent­schie­den gegen jede Form des Anti­se­mi­tis­mus stel­len. Dies gilt natür­lich auch oder viel­leicht sogar in beson­de­rer Weise für den Kul­tur­be­reich. Anti­se­mi­tis­mus, ob offen oder ver­deckt, muss im Kul­tur­be­reich benannt und unmiss­ver­ständ­lich ent­ge­gen­ge­tre­ten wer­den. Wer für die Frei­heit der Kunst, wer für Men­schen­rechte ein­tritt, muss hier, davon bin ich fest über­zeugt, eine ein­deu­tige Hal­tung zei­gen. Die­ses gilt sowohl mit Blick auf die Kunst, die aus­ge­stellt, auf­ge­führt, gele­sen und gezeigt wird als auch für die Zusam­men­ar­beit mit Künst­le­rin­nen und Künstlern.

Wird der erste Teil der Anti­se­mi­tis­mus­de­fi­ni­tion der IRHA viel­fach im Kul­tur­be­reich geteilt, sieht es mit dem zwei­ten Teil der Defi­ni­tion des israel­be­zo­ge­nen Anti­se­mi­tis­mus anders aus. Als Gegen­ent­wurf zur Anti­se­mi­tis­mus­de­fi­ni­tion der IRHA ist die Jeru­sa­lem-Decla­ra­tion zu ver­ste­hen, die zwi­schen Anti­se­mi­tis­mus und Anti­zio­nis­mus unter­schei­det und eine Mög­lich­keit zu Isra­el­kri­tik, spe­zi­ell mit Blick auf das israe­lisch-paläs­ti­nen­si­sche Ver­hält­nis, bah­nen will.

Die Jeru­sa­lem-Decla­ra­tion öff­net zugleich den Weg in eine Erin­ne­rungs­kul­tur, die die Shoah als nur ein Bei­spiel von Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit ein­ord­net und damit die Sin­gu­la­ri­tät die­ses Ver­bre­chens rela­ti­viert. Ins­be­son­dere im post­ko­lo­nia­lis­ti­schen Dis­kurs geht es teil­weise darum, die Erin­ne­rung an die Shoah und die Erin­ne­rung an den Kolo­nia­lis­mus mit­ein­an­der zu ver­glei­chen und kolo­nia­lis­ti­sche Ver­bre­chen als Vor­stufe der Shoah anzu­se­hen. Der israe­li­sche Sozio­loge und regel­mä­ßige Autor von Poli­tik & Kul­tur, Natan Szna­ider, setzt sich in sei­nem jüngs­ten Buch „Flucht­punkte der Erin­ne­rung. Über die Gegen­wart von Holo­caust und Kolo­nia­lis­mus“ mit die­ser Fra­ge­stel­lung aus­ein­an­der. Szna­ider kommt zu dem Schluss, dass es darum gehen muss, das eigene Den­ken zu erwei­tern. Er schreibt: „Unser Den­ken ist in der Viel­zahl von Bedeu­tun­gen ein­ge­schlos­sen: weder west­lich noch nicht­west­lich, son­dern bei­des. Nicht Kolo­nia­lis­mus oder Holo­caust, son­dern bei­des. (…) Diese Ethik opfert weder die Beson­der­heit, noch geht sie von einer Illu­sion uni­ver­sel­ler Gleich­heit aus. Uni­ver­sa­lis­mus und Par­ti­ku­la­ris­mus müs­sen gemein­sam gedacht und reflek­tiert wer­den.“ Die­ses wei­ter­ge­dacht, heißt, in Deutsch­land die spe­zi­fi­sche Situa­tion der Shoah zu beden­ken und zu reflek­tie­ren, wor­aus eine beson­dere Ver­ant­wor­tung für Ver­ant­wort­li­che von Kul­tur­ein­rich­tun­gen, Fes­ti­vals usw. resul­tiert. Das gilt umso mehr, wenn aus­län­di­sche Künst­le­rin­nen und Künst­ler in Deutsch­land für beson­dere Kul­tur­er­eig­nisse ver­ant­wort­lich sind. Was geschieht, wenn dies nicht reflek­tiert wird, ist an den aktu­el­len Debat­ten um die docu­menta fif­teen zu sehen, die vom indo­ne­si­schen Künst­ler­kol­lek­tiv ruan­grupa kura­tiert wurde. Sie haben bewusst israe­li­sche Künst­le­rin­nen und Künst­ler nicht ein­ge­la­den, son­dern paläs­ti­nen­si­schen Künst­le­rin­nen und Künst­lern Raum gege­ben. Sie haben sich nicht von der BDS-Bewe­gung (Boy­cott, Dive­st­ment and Sanc­tions), die dazu auf­ruft Israel bzw. israe­li­sche Pro­dukte oder Künst­ler zu boy­kot­tie­ren, distan­ziert, son­dern sind viel­mehr mit ihrer Ein­la­dungs­po­li­tik Teil davon. Wenn Mitte Juni die docu­menta fif­teen ihre Türen öff­net, wer­den wir sehen, ob es ruan­grupa gelun­gen ist, die spe­zi­fi­sche deut­sche Situa­tion adäquat zu reflek­tie­ren und sich deut­lich und unmiss­ver­ständ­lich von jeder Form des Anti­se­mi­tis­mus zu distanzieren.

Auch nach 1700 Jah­ren jüdi­schen Lebens in Deutsch­land ist das Leben für Jüdin­nen und Juden in unse­rem Land alles andere als sicher – lei­der, der Anti­se­mi­tis­mus ist noch längst nicht besiegt.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 06/2022.

Von |2023-01-04T13:38:43+01:00Juni 3rd, 2022|Antisemitismus|Kommentare deaktiviert für

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Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber von Politik & Kultur.