Böse

Eine unver­zicht­bare Kategorie

Es ist immer wie­der inter­es­sant zu erle­ben, was pas­siert, wenn in einer gepfleg­ten Unter­hal­tung ein unge­hö­ri­ges Wort gesagt wird. Etwas gerät ins Rut­schen, man fühlt sich pein­lich berührt, aber es wird auch etwas sicht­bar. So erlebte ich es kürz­lich bei einer Debatte über den rus­si­schen Angriffs­krieg auf die Ukraine. Im »Kultur.Forum St. Mat­thäus« dis­ku­tier­ten wir dar­über, was diese »Zei­ten­wende« für Kir­che und Kul­tur bedeu­tet, und wir ver­such­ten dabei, einen nach­denk­li­chen Ton anzu­schla­gen. Wir woll­ten ja kei­nen die­ser offe­nen Briefe schrei­ben. Dann sagte eine von uns die­ses unge­hö­rige Wort. Nach­her erzählte sie, es sei ihr raus­ge­rutscht, wie ein freud­scher Ver­spre­cher. Aber da war es längst hin­aus: »böse«. Plötz­lich nahm unser Gespräch Fahrt auf, die bemühte Beson­nen­heit war dahin, das höf­li­che Dif­fe­ren­zie­ren machte eine Pause, Emo­tio­nen wur­den benannt, wir rede­ten über unse­ren Schock, unsere Ängste, exis­ten­zi­elle und reli­giöse Fra­gen bra­chen sich Bahn. Es waren nicht nur die Theo­lo­gen von uns, die auf die­ses Wort anspran­gen. Es war ja auch von einer Sicher­heits­exper­tin auf­ge­bracht worden.

»Böse« – tat­säch­lich, ohne die­ses Wort kommt man nicht aus, wenn man über die rus­si­sche Aggres­sion nach­denkt. Böse ist der fre­che Bruch des Völ­ker­rechts. Böse ist die hem­mungs­lose Gewalt. Böse sind die Morde, Ver­ge­wal­ti­gun­gen und Plün­de­run­gen. Böse ist die Ermor­dung gan­zer Städte. Böse ist die Flut von Pro­pa­gan­da­lü­gen. Böse ist es, das eigene (rus­si­sche) Volk in Gei­sel­haft zu neh­men. Man wird der Abgrün­dig­keit des Gesche­hens und der eige­nen Reak­tion dar­auf nicht gerecht, wenn man auf die­ses Adjek­tiv verzichtet.

Trotz­dem wirkte es unge­hö­rig, als es laut wurde. Darf man so spre­chen? Klingt das nicht unpro­fes­sio­nell, anti­in­tel­lek­tu­ell, ein­fach nur auf­ge­regt, mora­lis­tisch-über­dreht? In poli­ti­schen und mili­tä­ri­schen Fach­de­bat­ten ver­zich­tet man aus guten Grün­den dar­auf, spricht von »Inva­sion«, »Aggres­sion« oder »Rechts­bruch«, äußert dabei auch klare ethi­sche Urteile, mei­det aber die Qua­li­fi­ka­tion des rus­si­schen Han­delns als »böse«. Denn gerade mit­ten in einem Krieg sollte man einen küh­len Kopf behal­ten, um Mit­tel und Ziele prä­zise bestim­men zu kön­nen. Da scha­det es nur, wenn die Feind­schaft ins Abso­lute gestei­gert wird. Wer gegen »das Böse« kämpft, kann keine rea­lis­ti­sche und damit begrenzte Stra­te­gie for­mu­lie­ren, son­dern muss alles dar­an­set­zen, es auszulöschen.

Aber wohin sollte das füh­ren? Außer­dem besteht die Gefahr, dass man dem Feind durch des­sen Dämo­ni­sie­rung eine über­große Macht zuspricht. Es gibt ja eine gefähr­li­che Fas­zi­na­tion des Bösen, diese befremd­li­che Ekel-Lust, die z. B. dort am Werke ist, wo Jour­na­lis­ten »Puti­no­lo­gie« betrei­ben. Schließ­lich kann die abso­lute Ver­dam­mung des Fein­des dazu füh­ren, dass keine Aus­sicht auf irgend­ei­nen Frie­den – wie unbe­frie­di­gend und schmut­zig er auch sein mag – mehr mög­lich ist.

Für mich als Theo­lo­gen aber ist »böse« eine unver­zicht­bare Kate­go­rie. Es gibt das Böse in der Welt, wes­halb das Vater­un­ser darum bit­tet, dass wir von ihm erlöst wer­den. Warum das Böse sol­che Macht über uns Men­schen hat, ist eines der Grund­rät­sel, um das die christ­li­che Reli­gion kreist. Sie ver­tieft das Rät­sel dadurch, dass sie das Böse nicht nur bei ande­ren, son­dern immer auch bei sich ent­deckt. Das ist das tiefe, humane Recht des so ver­stö­rend anmu­ten­den christ­li­chen Sün­den­ge­dan­kens. Er nötigt dazu, die eige­nen bösen Anteile zu beden­ken. Des­halb ent­spricht es einem christ­li­chen Impuls, jetzt nicht nur den Ver­tei­di­gungs­kampf der Ukraine gegen Russ­land zu unter­stüt­zen, son­dern par­al­lel die eigene Ver­ant­wor­tung für diese Krise zu ana­ly­sie­ren und das eigene Han­deln ent­spre­chend zu ver­än­dern. Doch das sollte nicht zu einer Ver­un­k­la­rung der gegen­wär­ti­gen Situa­tion füh­ren. Es gibt Feind­schaft. Es gibt Böses. Ihm müs­sen wir ent­ge­gen­tre­ten, wenn Gutes über­le­ben soll. Des­halb war ich erst über­rascht und dann froh, dass unse­rer Gesprächs­part­ne­rin das heikle Wört­lein »böse« her­aus­ge­rutscht war.

Unser Gespräch über »Kul­tur und Kir­che in Zei­ten des Krie­ges – Die große Zäsur« im »Kultur.Forum St. Mat­thäus«, an dem neben mir Astrid Irr­gang, Zen­trum für Inter­na­tio­nale Frie­dens­ein­sätze, Chris­tian Stäb­lein, Bischof der Evan­ge­li­schen Kir­che Ber­lin-Bran­den­burg-schle­si­sche Ober­lau­siz und Olaf Zim­mer­mann, Spre­cher der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion, teil­nah­men, kann man übri­gens in der Media­thek von Deutsch­land­ra­dio Kul­tur nach­hö­ren (bit.ly/3NqfB80).

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 06/2022.

Von |2022-07-26T16:28:11+02:00Juni 3rd, 2022|Religiöse Vielfalt, Sprache|Kommentare deaktiviert für

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Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.