Mehr Lei­den­schaft für die deut­sche Sprache

Plä­doyer gegen die Ten­denz zur Ein­sprach­lich­keit unse­rer Welt

Mit dem rus­si­schen Angriffs­krieg auf die Ukraine erlebt die deut­sche Spra­che der­zeit eine neue Auf­merk­sam­keit in Deutsch­land. Die Kul­tus­mi­nis­ter rech­nen mit bis zu 400.000 geflüch­te­ten ukrai­ni­schen Kin­dern und Jugend­li­chen an deut­schen Schu­len. Dabei set­zen die Schu­len vor allem auf soge­nannte Will­kom­mens­klas­sen mit einem sprach­li­chen Inten­siv­un­ter­richt. Sie wur­den teil­weise schon 2015 ein­ge­rich­tet. Deutsch ist neben Eng­lisch die bevor­zugte Fremd­spra­che an den ukrai­ni­schen Schu­len, teil­weise auch als erste Fremd­spra­che. Über­legt wird auch ein Unter­richts­mo­dell, bei dem ukrai­ni­sche Schü­le­rin­nen und Schü­ler einen gemisch­ten Unter­richts­plan aus ukrai­ni­schen und deut­schen Inhal­ten haben und bei denen digi­tale Unter­richts­for­men ein­ge­setzt wer­den. Ein wich­ti­ges Thema ist auch, wie geflüch­tete Lehr­kräfte aus der Ukraine an deut­schen Schu­len inte­griert wer­den. Neben einem erheb­li­chen finan­zi­el­len Bedarf müs­sen krea­tive Lösun­gen gefun­den wer­den, um eine schnelle Inte­gra­tion zu ermöglichen.

Auch wenn durch die hohe Zahl der Geflüch­te­ten aktu­ell ein deut­li­cher Zuwachs an Deutsch­ler­nern besteht, so ist das Inter­esse an der deut­schen Spra­che in den mit­tel- und ost­eu­ro­päi­schen Län­dern tra­di­tio­nell hoch. Allein in Polen ler­nen rund 2,3 Mil­lio­nen Per­so­nen Deutsch. Im wesent­lich grö­ße­ren Frank­reich sind es nur eine Mil­lio­nen Deutsch­ler­ner. Inter­es­sant sind die glo­ba­len Zah­len. 100 Mil­lio­nen Men­schen spre­chen Deutsch als Mut­ter­spra­che und noch ein­mal so viele als Fremd­spra­che. Aktu­ell ler­nen der­zeit etwa 16 Mil­lio­nen Deutsch. Zuwächse gibt es vor allem in China, Indien, Bra­si­lien und in afri­ka­ni­schen Län­dern. Damit gehört Deutsch zu den häu­figs­ten Fremd­spra­chen – nach Eng­lisch, Fran­zö­sisch und Spa­nisch. Die Ursa­chen sind unter­schied­lich. Wenn der fach­li­che und beruf­li­che Nut­zen der Spra­che erkenn­bar ist oder wenn sich kul­tu­rel­les Inter­esse auf bestimmte Ent­wick­lun­gen fokus­sie­ren lässt, wirkt sich das aus. Auch die Glaub­wür­dig­keit unse­rer Gesell­schafts­form, ihre Offen­heit und Mei­nungs­viel­falt spie­len eine Rolle. Deutsch­land als attrak­ti­ver Wirt­schafts-, Wis­sen­schafts- und Stu­di­en­stand­ort fin­det ein stei­gen­des Inter­esse für die Lebens- und Berufs­pla­nung. Aber auch das Fach­kräf­te­ein­wan­de­rungs­ge­setz, die ver­stärkte Zuwan­de­rung inner­halb der EU und die Inte­gra­ti­ons­po­li­tik für Asyl­su­chende, ver­stärkt durch die mas­sive Flücht­lings­welle, tun ein Übri­ges. Die deut­sche Spra­che ist der Schlüs­sel zur Integration.

Im Aus­land hat das Wer­ben für die deut­sche Spra­che eine neue Inten­si­tät erreicht. Dies ist auch drin­gend erfor­der­lich, denn die deut­sche Spra­che ist kein Selbst­läu­fer. In ihre Ver­brei­tung muss inves­tiert wer­den. Die Zen­tral­stelle für das Aus­lands­schul­we­sen, der DAAD und das Goe­the-­In­sti­tut sind die wich­tigs­ten Weg­be­rei­ter für die För­de­rung. Neben den deut­schen Aus­lands­schu­len besteht seit 2008 mit dem Pro­gramm „Schu­len: Part­ner der Zukunft“ ein welt­wei­tes Erfolgs­mo­dell mit inzwi­schen mehr als 2.000 Schu­len, in denen deut­sche Sprach­ab­tei­lun­gen auf­ge­baut wer­den, Leh­rer fort­ge­bil­det und die Schu­len mit Lehr- und Lern­ma­te­rial aus­ge­stat­tet wer­den. Eine Stu­di­en­brü­cke und der Auf­bau eines digi­ta­len Stu­di­en­kol­legs berei­ten gezielt auf ein Stu­dium in Deutsch­land vor. Das ist eine aktive Sprach­po­li­tik. Aus­ge­bremst wer­den diese Akti­vi­tä­ten der­zeit durch den Man­gel an genü­gend Lehr­kräf­ten. Die Kam­pa­gnen für die Leh­rer­fort­bil­dung müs­sen deut­lich aus­ge­wei­tet werden.

Einen Ein­druck von der hohen Lern­mo­ti­va­tion ver­mit­telt der welt­größte Deutsch­wett­be­werb für Jugend­li­che aus über 50 Län­dern, die Inter­na­tio­nale Deutsch­olym­piade, die im Som­mer in Ham­burg statt­fin­det. Rund 13 Mil­lio­nen Schü­le­rin­nen und Schü­ler sind alle zwei Jahre welt­weit ein­ge­la­den, sich zu betei­li­gen. Zunächst geht es darum, sich in der eige­nen Schule zu behaup­ten, dann auf der Regio­nal­ebene. In der drit­ten und ent­schei­den­den Runde wer­den schließ­lich die bes­ten Schü­ler eines Lan­des aus­ge­wählt, die dann im Wett­be­werbs­fi­nale in Deutsch­land von einer inter­na­tio­na­len Jury in ihren Sprach­kennt­nis­sen, ihrer inter­kul­tu­rel­len Kom­pe­tenz und Team­fä­hig­keit bewer­tet werden.

Die deut­sche Spra­che ist nicht „die“ Welt­spra­che, aber ohne Zwei­fel eine der bedeu­tends­ten Kul­tur­spra­chen in der Welt. Das Eng­li­sche als inter­na­tio­nale Ver­kehrs­spra­che ist unver­zicht­bar. Aber eine Beschrän­kung auf eine lin­gua franca ist eine kul­tu­relle Ver­ar­mung. Zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts war die Bedeu­tung des Deut­schen noch über­ra­gend, beson­ders in den Wis­sen­schaf­ten. Inzwi­schen hat sich das Bild gewan­delt. Heute ist sie eher zu einer Wirt­schafts­spra­che für bila­te­rale Kon­takte gewor­den. Rund 90 Pro­zent der wis­sen­schaft­li­chen Ver­öf­fent­li­chun­gen ent­fal­len auf die eng­li­sche Spra­che. Mit dem Eng­li­schen wird nicht nur ein grö­ße­res Publi­kum erreicht, auch Wech­sel­wir­kun­gen wie das häu­fige Zitiert­wer­den ist zu einer wich­ti­gen Wäh­rung gewor­den. Die Nach­weis-Daten­ban­ken sind eng­lisch. So fal­len Texte in ande­ren Spra­chen durch das Ras­ter, sie zäh­len nicht mehr. Es ent­steht ein objek­ti­ver Sog, auf Eng­lisch zu publi­zie­ren. Dass immer mehr deut­sche Uni­ver­si­tä­ten Stu­di­en­gänge inter­na­tio­na­li­sie­ren und auf Eng­lisch set­zen, könnte zu einer wei­ter abneh­men­den Bedeu­tung als Wis­sen­schafts­spra­che füh­ren. Ein­spra­chig­keit in den Wis­sen­schaf­ten ist in jedem Fall ein Ver­lust, denn Spra­che hat nicht nur eine kom­mu­ni­ka­tive, son­dern auch eine kogni­tive Funktion.

Die deut­sche Spra­che ist so umfas­send und dif­fe­ren­ziert wie kaum eine andere Spra­che. Eine Unter­su­chung hat kürz­lich gezeigt, dass in dem zugrunde lie­gen­den Kor­pus der deut­schen Gegen­warts­spra­che mehr als fünf Mil­lio­nen Wör­ter vor­kom­men. Das ist fast ein Drit­tel mehr als in einem ver­gleich­ba­ren Kor­pus von vor 100 Jah­ren. Es zeigt, wie dyna­misch die deut­sche Spra­che ist.

Spra­che ist mehr als ein Werk­zeug zur Ver­stän­di­gung. Sie ist ein­ge­bet­tet in den jewei­li­gen kul­tu­rel­len Kon­text. Des­halb sollte das Bil­dungs­sys­tem die Mehr­spra­chig­keit viel stär­ker als Poten­zial aner­ken­nen, nut­zen und sys­te­ma­tisch för­dern. Die EU hat 2019 in einem umfas­sen­den Kon­zept vor­ge­schla­gen, jeder Bür­ger der EU soll sich neben sei­ner Mut­ter­spra­che in zwei euro­päi­schen Fremd­spra­chen ver­stän­di­gen kön­nen. Lei­der besteht die­ses Fremd­spra­chen­kon­zept nur auf dem Papier. Es gibt keine Ver­bind­lich­keit in den Schul­sys­te­men. Dies ist aber die ent­schei­dende Vor­aus­set­zung für einen gesi­cher­ten Erfolg. Nur eine viel­fäl­tig genutzte Spra­che ist auch eine attrak­tive Spra­che, für die Mut­ter­sprach­ler, aber auch für die­je­ni­gen, die eine Wahl einer Fremd­spra­che zu tref­fen haben. Ver­ant­wor­tung für die eigene Spra­che ernst neh­men und eine Sprach­po­li­tik zur Stär­kung der Mehr­spra­chig­keit unter­stüt­zen, das sollte das Modell sein.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 06/2022.

Von |2022-07-26T16:25:23+02:00Juni 3rd, 2022|Sprache|Kommentare deaktiviert für

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Klaus-Dieter Lehmann ist Kulturmittler. Er war Präsident des Goethe-Instituts und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sowie Generaldirektor der Deutschen Bibliothek.