Als Podcaster oder Influencer für Inklusion: Raúl Krauthausen ist immer „auf Sendung“. Als studierter Kommunikationswirt und Design-Thinker arbeitet Raúl Krauthausen seit über 15 Jahren in der Internet- und Medienwelt und hat sich dort erfolgreich positioniert. Der Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit betreibt vier Podcasts, einen davon in Kooperation mit BR 2, und eine Talkshow „Face to Face“ bei Sat1 Gold. 2012 startete er mit der Organisation Sozialhelden das Projekt Leidmedien.de, eine Internetseite für Journalisten, die beabsichtigen, Menschen mit Behinderung zu thematisieren. Krauthausen bedient die Anforderungen unserer Aufmerksamkeitsgesellschaft leidenschaftlich und mit großer Effizienz. Dabei geht es ihm nicht um Aktionismus, nicht ums Verkaufen, nicht ums Skandalieren, sondern um „konstruktiven Aktivismus“.
Was er unter diesem Begriff versteht, kann man im neuen Buch Krauthausens mit dem Titel „Wie kann ich was bewegen?“ (Edition Körber) nachlesen. In Gesprächen mit Deutschlands bekanntesten Aktivistinnen und Aktivisten machen er und sein Koautor, der Politologe Benjamin Schwarz, deutlich, wie man es als Einzelner, vor allem aber als ein Team Gleichgesinnter, schafft, politisch etwas zu bewegen, und welche Kraft konstruktiver Aktivismus entfalten kann. Zu Wort kommen unter anderem Luisa Neubauer von Fridays for Future, die Seenotretterin Carola Rackete, Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit oder der aktive Gewerkschafter und Mitbegründer von Liefern am Limit Orry Mittenmayer.
Im Laufe der Jahre kam Krauthausen immer wieder mit anderen Aktivisten ins Gespräch, sei es aus der Black-Lives-Matter-Bewegung, der feministischen Bewegung oder der Umweltschutzbewegung. „Wenn man selber 20 Jahre Aktivist ist, erkennt man vor lauter Wald die Bäume nicht mehr“, sagt er. „Man weiß nicht mehr: Was ist eine einzigartige Erfahrung, und was sind Erfahrungen, die andere Menschen auch machen, die im Aktivismus unterwegs sind.“ Doch beim näheren Hinschauen, stellte Raúl Krauthausen fest, dass Aktivisten Vieles gemeinsam haben: die Angst vor dem Burnout, das permanente Gefühl der Unwirksamkeit oder die Frage nach dem Lohn eines Aktivisten? Über Themen wie diese redete Krauthausen ausführlich mit anderen Aktivisten, und das Ergebnis ist ein spannendes Buch, in dem er diese Interviews thematisch ineinander verschachtelt hat.
„Wie kann ich etwas bewegen?“ Diese Frage treibt den Inklusions-Aktivisten und Mitbegründer der Organisation „Sozialhelden“ Zeit seines Lebens um: „Mich interessiert, wie aus politischem Protest, politisches Handeln wird“, sagt Raúl Krauthausen. Dabei ist er mehr der Kreative, weniger der Zahlenmensch: „Ich habe gerne Ideen. Ich begeistere gerne Leute, stoße gerne Projekte an, setze sie um, überlege, wie man sie vermarktet. Alles, was Werbung ist.“ Was er nicht so gerne macht? „Über Geld reden, mit Zahlen umgehen, Business-Pläne schreiben – während meines Studiums habe ich gelernt, dass man sehr früh erkennen soll, was man nicht kann. Wenn du merkst, du brauchst Leute, die besser sind als du selbst, dann such’ dir die Leute. Deswegen habe ich versucht, mir ein Team zusammenzubauen, das dann letztlich zu den Sozialhelden geworden ist.“
Raúl Aguayo-Krauthausen wurde 1980 in Lima, Peru, geboren. Er hat Osteiogenesis imperfecta, umgangssprachlich „Glasknochen“. Seine Mutter ist Deutsche und als die Eltern erfuhren, dass Raúl behindert sein könnte, nahmen sie an, dass in Deutschland die medizinische Versorgung am besten wäre. Und so zog man von Peru zurück nach Deutschland.
Den damals noch sehr jungen Eltern war es wichtig, dass Raúl in einen Kindergarten und auf eine Schule ging, die ihn ganztags aufnahm. In den 1980er Jahren wie auch heute herrscht(e) in Deutschland noch das System der Sonderbeschulung Behinderter. Krauthausen hätte auf einer Sonderschule landen können, doch die Eltern entschieden sich, angeregt von Freunden, die ebenfalls ein behindertes Kind hatten, für die Berliner Fläming-Schule, damals die erste inklusive Schule Deutschlands. Das sollte sich für Krauthausen als Glücksfall herausstellen.
Dort bekam er nicht nur eine fundierte Schulbildung vermittelt, sondern lernte am konkreten Beispiel auch kennen, wie Inklusion funktionieren kann. Sicher ein prägendes Moment für den späteren Inklusions-Aktivisten, der bis heute einen positiven Bezug zu seiner ehemaligen Schule hat. Eine Tatsache übrigens, die ihn sehr wahrscheinlich von vielen Eltern, Politikern und ehemaligen Schülern unterscheidet.
Bereits als Jugendlicher interessierte sich Krauthausen für Politik und so kristallisierte sich zwischen der 10. und der 13. Klasse immer mehr heraus, was er studieren wollte. Zunächst gab es für ihn nur die Wahl zwischen VWL, BWL und Soziologie. „Wahrscheinlich wäre es VWL geworden, weil es genau zwischen Soziologie und BWL ist“, erinnert er sich. „Dann habe ich einen Tag vor Bewerbungsschluss in der Zeitung von dem Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin gelesen. Das fühlte sich noch besser an als VWL. Ich hatte noch alle Unterlagen bei der Hand und schickte einfach noch eine vierte Bewerbung los. Als es hieß, dass ich genommen werde, da war für mich die Entscheidung gefallen.“
Bis Raúl Krauthausen sich mit 31 als „Sozialheld“ selbstständig machte, arbeitete er unter anderem ehrenamtlich als nichtreligiöser Telefonseelsorger, dann bei Radio Fritz als Programm-Manager im Bereich Internet. 2004 gründete er zusammen mit seinem Cousin die Sozialhelden e. V. – einfach aus dem Grund, weil die beiden keine andere niedrigschwellige Organisation gefunden hatten, bei der man sich ehrenamtlich engagieren konnte und die ihre Ideen repräsentierte. Die Gründungsidee ist bis heute gültig: „Nichts über uns ohne uns – behinderte Menschen als Entscheider und nicht nur als Handlanger.“
Der inzwischen 30 Leute starke Sozialhelden e. V. ist ein eingetragener, gemeinnütziger Verein mit Hauptsitz Berlin. Er organisiert ein Netzwerk ehrenamtlich engagierter Menschen, die sich mit verschiedenen Aktionen für soziale Gerechtigkeit einsetzen. Der Verein finanziert sich primär über die Teilnahme an Wettbewerben und die Zuwendungen von Stiftungen oder privaten Spendern. Ziel des Vereins ist es, soziales Handeln attraktiv und sichtbar zu machen. Damit will man Aufmerksamkeit für soziale Missstände wecken, Menschen für gesellschaftliche Probleme sensibilisieren und Handlungsoptionen aufzeigen, anstatt Mitleid zu erregen.
Das erste Projekt hieß „Pfandtastisch helfen“. Es ging dabei um Spendenboxen für Pfandbons zu gemeinnützigen Zwecken und machte die Sozialhelden schlagartig bekannt. In seiner Zeit in der Werbung hatte Krauthausen gelernt, dass man anschlussfähig bleiben soll, dass auf jedes Projekt ein Folgeprojekt folgen muss. So entstand als nächstes die „wheelmap.org“ und weitere Projekte. Krauthausen fragte dabei stets: „Warum sind Dinge so wie sie sind?“ Seine Antworten wurden darauf Geschäftsideen.
Da gibt es „wheelmap.org“ (Online-Karte für rollstuhlgerechte Orte), „GUTschein zum GUTsein“ (Veranschaulichung guter Taten durch einen nummerierten, nachverfolgbaren Gutschein), „Brokenlifts.org“ (Datensammlung über Ausfälle von Aufzügen im öffentlichen Nah- und Fernverkehr), „Leidmedien.de“ (Sensibilisierung von Journalisten zur Berichterstattung über Behinderungen) oder „Tausendundeine Rampe“ (Verteilung spendenfinanzierter Rollstuhlrampen an Geschäfte und Lokale).
Ein Aktivist führt ein Leben für Utopien: die Rettung der Welt, Beseitigung des Sexismus, Beseitigung der Umweltverschmutzung. Das hört sich abstrakt an, doch Krauthausens Kunst ist es, in der Gegenwart zu agieren, konkret zu bleiben und beispielhaft zu erzählen. Wie in einer aktuellen Folge seines Podcasts „Die Neue Norm“, die davon handelt, wie es geflüchteten Behinderten aus der Ukraine derzeit geht. Dazu abschließend ein Hör-Tipp auf „Die Neue Norm“: „Mehr Barrieren und damit mehr Gefahren: Menschen mit Behinderung auf der Flucht und in Kriegen. Das erleben gerade 2,7 Millionen Ukrainer*innen mit Behinderung. Aber man kann ihnen gezielt helfen. Und auch mit Behinderung, zum Beispiel im Rollstuhl, ist die Aufnahme von Geflüchteten möglich, ja sogar besonders hilfreich – wie die Geschichte von Raúl Krauthausen zeigt.“
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2022.