Agenda für ein moder­nes Einwanderungsland

Mehr Auf­bruch, Fort­schritt und Respekt in der Integrationspolitik

„Uns ver­bin­det das Ver­ständ­nis von Deutsch­land als viel­fäl­tige Ein­wan­de­rungs­ge­sell­schaft“ heißt es in der Prä­am­bel des Koali­ti­ons­ver­tra­ges der neuen Regie­rungs­par­teien. Noch nie in der Geschichte Deutsch­lands haben sich die Part­ner einer neuen Bun­des­re­gie­rung so klar zum Ein­wan­de­rungs­land Deutsch­land bekannt. Damit werde der „gesell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit Rech­nung“ getra­gen, heißt es wei­ter. Zu Recht! Denn Ein­wan­de­rung, kul­tu­relle Viel­falt, Inte­gra­tion – das waren und sind in der Geschichte unse­res Lan­des der Nor­mal­fall. Mit­ten in Europa gele­gen, prägt Ein­wan­de­rung unser Land seit Jahr­hun­der­ten: von den Huge­not­ten im 17. Jahr­hun­dert über die Ruhr­po­len im 19. Jahr­hun­dert, die „Gast­ar­bei­ter“ und „Ver­trags­ar­bei­te­rin­nen“ ab den 1950er Jah­ren, die Aus­sied­le­rin­nen und Spät­aus­sied­ler bis hin zu EU-Bür­ge­rin­nen und Bür­gern im Rah­men der Arbeit­neh­mer­frei­zü­gig­keit. Das ist Teil unse­rer Geschichte, aber lange hat sich Deutsch­land nicht als Ein­wan­de­rungs­land begrif­fen, obwohl das längst Rea­li­tät war. In einem frü­he­ren Koali­ti­ons­ver­trag war tat­säch­lich ver­ein­bart: „Deutsch­land ist kein Ein­wan­de­rungs­land“ – das war 1982 und auch da schon eher Wunsch­den­ken der Koali­tio­näre statt Rea­li­tät. Bis heute begrei­fen einige die Ein­wan­de­rung nicht als Nor­mal-, son­dern als Pro­blem­fall. Darum ist es gut, dass wir in die­ser Legis­la­tur­pe­ri­ode den rea­lis­ti­schen, prag­ma­ti­schen Blick auf Ein­wan­de­rung und gesell­schaft­li­che Viel­falt wei­ter schär­fen und kon­se­quent auf mehr Teil­habe für alle Men­schen im Land set­zen. Das ist nicht nur für unse­ren Zusam­men­halt wich­tig, dazu mah­nen auch Demo­gra­fie und Fachkräftemangel.

Unser Land steht vor der Auf­gabe, mit sei­ner gesell­schaft­li­chen Viel­falt umzu­ge­hen und sie zu gestal­ten. „Zusam­men­halt in Viel­falt“ lau­tet auch das Motto der 15 The­sen, die die Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion unter Mode­ra­tion des Deut­schen Kul­tur­ra­tes 2017 erar­bei­tet hat. Gerade in Zei­ten von Unsi­cher­heit und Kri­sen ist es wich­tig, sich grund­le­gen­der Fra­gen zu ver­ge­wis­sern: Wie kann man gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt schaf­fen und erhal­ten? Wie ent­steht ein gemein­sa­mes Wir in einer plu­ra­lis­ti­schen Gesellschaft?

Gesell­schaft­li­cher Zusam­men­halt kann weder ver­ord­net wer­den, noch ist er allein die Auf­gabe der Poli­tik. Viel­mehr kön­nen alle hier leben­den Men­schen dazu bei­tra­gen. Viel­falt wird vor Ort gelebt, in unse­ren Städ­ten und Gemein­den, in unse­ren Nach­bar­schaf­ten, mit alten wie mit neuen Nach­ba­rin­nen und Nach­barn. Poli­tik kann und muss aber den Rah­men gestal­ten und die bes­ten Bedin­gun­gen schaffen.

Dazu brau­chen wir eine Agenda für Deutsch­land als moder­nes Ein­wan­de­rungs­land: Die neue Bun­des­re­gie­rung will mehr Auf­bruch, Fort­schritt und Respekt, auch in der Inte­gra­ti­ons- und Migra­ti­ons­po­li­tik. Wir wol­len den alten Streit, das Mau­ern und Blo­ckie­ren hin­ter uns las­sen. Drei Bei­spiele, die jetzt auf unse­rer Agenda stehen:

Ers­tens: mehr ein­bür­gern! Recht­lich ist die Zuge­hö­rig­keit zu unse­rem Land im Staats­an­ge­hö­rig­keits­recht gere­gelt. Wer ist deutsch? Wer gehört dazu? Wer darf wäh­len? Die Frage der Staats­bür­ger­schaft ist somit eine urde­mo­kra­ti­sche Frage. Keine demo­kra­ti­sche Gesell­schaft wird gut funk­tio­nie­ren, wenn ein gro­ßer Teil der dau­er­haft hier leben­den Bevöl­ke­rung von der poli­ti­schen Par­ti­zi­pa­tion aus­ge­schlos­sen ist und nicht alle Rechte hat. Heute gibt es viele Stadt­teile in Deutsch­land, in denen ein Drit­tel, manch­mal sogar die Hälfte, der Ein­woh­ner­schaft nicht mit­wäh­len und mit­be­stim­men darf. Viele sind seit Jahr­zehn­ten Teil die­ser Gesell­schaft, aber sie gehö­ren poli­tisch und recht­lich nicht dazu. Das Sta­tis­ti­sche Bun­des­amt geht von rund fünf Mil­lio­nen aus­län­di­schen Frauen und Män­nern aus, die seit über zehn Jah­ren hier leben, die Vor­aus­set­zun­gen für ihre Ein­bür­ge­rung erfül­len dür­fen, aber die­sen Schritt nicht gehen.

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt hat in sei­ner Ent­schei­dung zum kom­mu­na­len Wahl­recht für Aus­län­de­rin­nen und Aus­län­der bereits 1990 auf­ge­zeigt, dass der Weg zur Lösung in der Ein­bür­ge­rung liegt. Genau dort wol­len wir anset­zen. Die Ein­bür­ge­rung soll im Regel­fall zukünf­tig bereits nach fünf statt acht Jah­ren mög­lich sein, in Deutsch­land gebo­rene Kin­der aus­län­di­scher Eltern sol­len leich­ter von Geburt an Deut­sche sein, und wir bauen wei­tere Ein­bür­ge­rungs­hür­den ab. Eine große Hürde ist die Aus­bür­ge­rung aus der alten Staats­bür­ger­schaft, denn in unse­rem Staats­an­ge­hö­rig­keits­recht gilt immer noch der Grund­satz der Ver­mei­dung von Mehr­staa­tig­keit. Von die­sem Grund­satz gibt es heute schon viele Aus­nah­men und wir wer­den einen gro­ßen Schritt wei­ter­ge­hen: Wir wol­len Mehr­staa­tig­keit grund­sätz­lich aner­ken­nen. Denn sie ist keine Bedro­hung, son­dern längst Nor­ma­li­tät in unse­rer Ein­wan­de­rungs­ge­sell­schaft. Wir haken damit die lei­di­gen, auch ver­let­zen­den Dis­kus­sio­nen der Ver­gan­gen­heit ab. Das Kri­te­rium für Ein­bür­ge­rung und Erwerb der Staats­an­ge­hö­rig­keit soll voll und ganz in der Teil­nahme am gesell­schaft­li­chen und wirt­schaft­li­chen Leben Deutsch­lands und dem Bekennt­nis zu den demo­kra­ti­schen Grund­re­geln unse­rer Gesell­schaft lie­gen. Das ent­spricht einem moder­nen, demo­kra­ti­schen Staat. Dazu trägt ein inklu­si­ves Staats­an­ge­hö­rig­keits­recht bei, das die Men­schen auch recht­lich ein­bin­det. Wer hier dau­er­haft sei­nen Lebens­mit­tel­punkt hat und sich ein­bringt, soll auch das Recht haben, voll­wer­ti­ges Mit­glied unse­rer Gesell­schaft zu wer­den. Dafür brau­chen wir mehr Ein­bür­ge­run­gen, dazu wer­den wir enger mit den Län­dern und Kom­mu­nen zusam­men­ar­bei­ten und mit einer Ein­bür­ge­rungs­kam­pa­gne um die Men­schen werben.

Zwei­tens: mehr Reprä­sen­tanz und Teil­habe! Es muss end­lich nor­mal sein, dass die Viel­falt unse­rer Gesell­schaft in allen Berei­chen ange­mes­sen ver­tre­ten ist, dass alle teil­ha­ben: in der Poli­tik, in den Vor­stands­eta­gen der Unter­neh­men, in den Medien und der Kul­tur, bei Poli­zei und Bun­des­wehr. Auch im öffent­li­chen Dienst muss sich die Rea­li­tät unse­rer Viel­falt wider­spie­geln, dort müs­sen wir Vor­bild sein. Heute hat jede und jeder Vierte im Land eine fami­liäre Ein­wan­de­rungs­ge­schichte, im öffent­li­chen Dienst – dem größ­ten Arbeit­ge­ber – aber nur jede und jeder Achte. Diese Lücke müs­sen wir schlie­ßen! Ich werde dafür eine ganz­heit­li­che Diver­si­täts­stra­te­gie mit kon­kre­ten För­der­maß­nah­men, Ziel­vor­ga­ben und Maß­nah­men für einen Kul­tur­wan­del gemein­sam mit der gesam­ten Bun­des­ver­wal­tung auf den Weg brin­gen. Staat und Ver­wal­tung haben die Auf­gabe und Ver­pflich­tung, Dienst­leis­ter und Arbeit­ge­ber für unsere gesamte und viel­fäl­tige Bevöl­ke­rung zu sein. Das ist eine Frage der Chan­cen­ge­rech­tig­keit, der Legi­ti­ma­tion unse­rer Insti­tu­tio­nen und auch eine Frage von Zukunfts­fä­hig­keit: Wir kön­nen es uns schlicht nicht leis­ten, auf kluge Köpfe gleich wel­cher Her­kunft zu ver­zich­ten. Weder in der Wirt­schaft noch in den Bun­des­mi­nis­te­rien und der öffent­li­chen Verwaltung.

Drit­tens: Ras­sis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung ent­schie­den bekämp­fen! Eine viel­fäl­tige, offene Gesell­schaft muss auch wehr­haft sein. Dass Ras­sis­mus tötet, zei­gen die Anschläge in Halle und Hanau oder der Ter­ror des NSU. Für unser Land ist Ras­sis­mus eine große Gefahr, denn er greift unsere Ein­heit in Viel­falt und unsere Demo­kra­tie an. Und wer dis­kri­mi­niert wird, kann sich nicht zuge­hö­rig füh­len. Der Kampf gegen Ras­sis­mus, Anti­se­mi­tis­mus, Islam­feind­lich­keit, Anti­zi­ga­nis­mus, jede grup­pen­be­zo­gene Men­schen­feind­lich­keit und Dis­kri­mi­nie­rung geht uns daher alle an, nicht nur die Betrof­fe­nen. Wir brau­chen dazu eine aktive Zivil­ge­sell­schaft und einen star­ken Staat. Darum ist es gut, dass wir mit dem Demo­kra­tie­för­der­ge­setz end­lich die vie­len Initia­ti­ven in der Zivil­ge­sell­schaft gegen den Hass stär­ken wer­den. Aus mei­nem neuen Amt als Beauf­tragte der Bun­des­re­gie­rung für Anti­ras­sis­mus werde ich die­sen Kampf mit gan­zer Kraft unter­stüt­zen. Zudem will ich einen Per­spek­tiv­wech­sel im Umgang mit den Betrof­fe­nen von Ras­sis­mus schaf­fen: Sie brau­chen mehr Schutz, Unter­stüt­zung und Respekt, sie müs­sen im Fokus unse­rer Anstren­gun­gen ste­hen. Als zen­trale Ansprech­part­ne­rin der Bun­des­re­gie­rung will ich ihnen mehr Gehör und Stimme geben. Ein zen­tra­les Vor­ha­ben, das ich vor­an­trei­ben werde, ist die Ein­rich­tung eines Bera­tungs­zen­trums, mit dem erst­mals eine bun­des­weite, mehr­spra­chige Anlauf­stelle für von Ras­sis­mus Betrof­fene und ihre Ange­hö­ri­gen ent­ste­hen wird. Ebenso erar­beite ich einen Natio­na­len Akti­ons­plan gegen Ras­sis­mus und werde neue Pro­jekte für mehr Prä­ven­tion, Bil­dungs­ar­beit und For­schung etablieren.

Mehr Ein­bür­ge­rung, mehr Reprä­sen­tanz und Teil­habe und der Kampf gegen Ras­sis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung bil­den die Schwer­punkte mei­ner Agenda für unser moder­nes Ein­wan­de­rungs­land. Dazu braucht es Kraft und Aus­dauer. Denn eine demo­kra­ti­sche und plu­ra­lis­ti­sche Gesell­schaft muss sich immer wie­der über gemein­same Werte ver­stän­di­gen, diese ver­tre­ten und ver­tei­di­gen. Das gelingt am bes­ten, wo alle – Ein­hei­mi­sche wie Ein­ge­wan­derte – den Pro­zess der kul­tu­rel­len Inte­gra­tion gemein­sam gestal­ten: im demo­kra­ti­schen Streit auf Augen­höhe, mit Ver­stän­di­gung und Kom­pro­miss und natür­lich immer auf dem Boden unse­rer frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung. Dafür setze ich mich ein, dafür tritt die Bun­des­re­gie­rung an.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 04/2022.

Von |2022-04-08T11:56:30+02:00April 4th, 2022|Einwanderungsgesellschaft|Kommentare deaktiviert für

Agenda für ein moder­nes Einwanderungsland

Mehr Auf­bruch, Fort­schritt und Respekt in der Integrationspolitik

Reem Alabali-Radovan ist Staatsministerin beim Bundeskanzler und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Am 23. Februar 2022 wurde sie zudem vom Bundeskabinett zur Beauftragten der Bundesregierung für Antirassismus berufen.