Diver­si­tät gleich Vielfalt?

Gemein­sa­mes Nach­den­ken über Begriffe und Debat­ten ist notwendig

„Man soll sich in der Öffent­lich­keit so äußern, dass kei­nes­falls eine Debatte ent­steht.“ Die­ser feine, nur leicht arro­gante Rat stammt von Hen­ning Rit­ter, einem Autor, den ich ver­ehrt habe und dem ich viel ver­danke. Seine „Notiz­hefte“ (2010) haben einen Ehren­platz in mei­nem Bücher­re­gal. Gerade habe ich die­sen Band wie­der zur Hand genom­men. Denn ich pflege das Ritual, zum Jah­res­wech­sel meine kleine Biblio­thek durch­zu­ge­hen und mich von Büchern zu ver­ab­schie­den, die ich nicht mehr brau­che. Das schafft Platz für neue. Vor allem soge­nannte „Debat­ten­bü­cher“ flie­gen hin­aus. Denn die meis­ten Debat­ten, die einen eben noch in Atem gehal­ten haben, sind es rück­bli­ckend nicht wert gewesen.

So fiel mir beim Reg­a­lauf­räu­men der Streit um „Leit­kul­tur“ wie­der ein. Was war das für eine Auf­re­gung gewe­sen, was für ein Spaß! Was waren wir damals jung! Heute hängt die­ser Begriff nur noch über weni­gen mor­schen Jäger­zäu­nen in irgend­wel­chen Rand­be­zir­ken. Aber im Mund führt ihn nie­mand mehr. Doch als ich mich wie­der an den Schreib­tisch setzte, kam mir die Frage in den Sinn, ob „Leit­kul­tur“ wirk­lich zu den ver­sun­ke­nen Kul­tur­gü­tern gehört oder ob sie nicht eher eine andere Gestalt ange­nom­men hat. Ver­wun­der­lich wäre das nicht. Denn Kul­tur­be­griffe sind immer zwei­er­lei. Sie die­nen als Ober­eti­ket­ten für das, was Men­schen gestal­ten, und das wird alles Mög­li­che sein. Ein­schrän­kun­gen oder Hier­ar­chi­sie­run­gen darf es da nicht geben. Ande­rer­seits bezeich­nen Kul­tur­be­griffe zugleich das, was als wert­voll gilt. Sie haben eine ori­en­tie­rende Funk­tion. Des­halb sind sie für die Kul­tur­po­li­tik unver­zicht­bar. Diese muss ja nach Kri­te­rien ent­schei­den, was geför­dert wird und wer wel­chen Pos­ten bekommt. Ohne „Leit­kul­tur“ ist Kul­tur­po­li­tik unmög­lich, selbst wenn sie die­sen Begriff nicht aus­spre­chen mag.

Auf die­sen Gedan­ken brach­ten mich nicht Rit­ters „Notiz­hefte“, son­dern die bei­den Koali­ti­ons­ver­träge. Ich habe sie, ehr­lich gesagt, nicht durch­ge­le­sen. Ich habe ledig­lich zu den kul­tur­po­li­ti­schen Pas­sa­gen gescrollt. Da stieß ich bei der neuen Bun­des­re­gie­rung auf die Sätze: „Wir wol­len Kul­tur mit allen ermög­li­chen, indem wir ihre Viel­falt und Frei­heit sichern … Wir wol­len Kul­tur in ihrer Viel­falt als Staats­ziel ver­an­kern und tre­ten für Bar­rie­re­frei­heit, Diver­si­tät, Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit und Nach­hal­tig­keit ein.“ Fast gleich­lau­tend for­mu­liert es der neue Ber­li­ner Senat: „Die Koali­tion ist in ihrer Kul­tur- und Medi­en­po­li­tik den Grund­sät­zen von Frei­heit, sozia­ler Gerech­tig­keit, fai­rer Ver­gü­tung, Equal Pay, öko­lo­gi­scher Nach­hal­tig­keit, Gleich­stel­lung, Diver­si­tät und Inklu­sion ver­pflich­tet.“ Und er fügt hinzu: „Alle Maß­nah­men zur Diver­si­täts­för­de­rung wer­den inter­sek­tio­nal gedacht.“ Das ist gut zu wissen.

Nicht über­ra­schend, aber doch mar­kant ist, wie hier „Diver­si­tät“ als hand­lungs­lei­ten­des Prin­zip vor­ge­stellt wird. Dafür gibt es gute Gründe. Man muss nur in andere Arbeits- und Lebens­be­rei­che schauen. In der Umwelt­po­li­tik ist Bio­di­ver­si­tät ein zen­tra­les Anlie­gen. Denn Öko­sys­teme leben davon, dass unter­schied­lichste Lebens­for­men exis­tie­ren und koope­rie­ren. Wer­den zu viele Pflan­zen- und Tier­ar­ten aus­ge­löscht, ist das Über­le­ben aller Orga­nis­men bedroht. Auch in der Gesell­schafts­po­li­tik ist Diver­si­tät ein wich­ti­ges Ziel. Denn es gilt, Chan­cen auf Teil­habe und Zugänge zur Macht bes­ser zu ver­tei­len, also auch Men­schen­grup­pen zu betei­li­gen, die bis­her aus­ge­schlos­sen wur­den. Das ist eine Frage der Gerech­tig­keit, zahlt sich lang­fris­tig aber auch aus. Des­halb wird Diver­si­tät in der Arbeits­welt, beson­ders von Per­so­nal­ab­tei­lun­gen, geför­dert, und zwar nicht nur mit war­men Wor­ten, son­dern auch durch Diver­sity-Mana­ge­rin­nen und -Managern.

Es wun­dert also nicht, wenn Diver­si­tät auch in der Kul­tur­po­li­tik zum Leit­ge­dan­ken erho­ben wird. Denn im ver­meint­lich locker-luf­tig-libe­ra­len Kul­tur­be­trieb lau­fen die Fäden immer noch in viel zu weni­gen, viel zu gleich­ar­ti­gen Hän­den zusam­men. Jedoch kann ich einen Stör­ge­dan­ken in mei­nem Hin­ter­kopf nicht aus­schal­ten. Denn selbst die hehrs­ten Begriffe haben Bedeu­tungs­lü­cken, blinde Fle­cken, manch­mal sogar Schat­ten­sei­ten. Das kann man bei zwei benach­bar­ten Ter­mini leicht erken­nen. „Inte­gra­tion“ z. B. ist ein not­wen­di­ges Anlie­gen, etwa in der Behin­der­ten­hilfe, birgt aber einen unauf­ge­klär­ten Kon­ser­va­tis­mus in sich. Über­setzt bedeu­tet es „Wie­der­her­stel­lung eines Gan­zen“ oder „Ein­glie­de­rung in eine Ein­heit“. Das kann man auch unheim­lich fin­den. Dies gilt mehr noch für „Inklu­sion“. Auch dies bezeich­net eine wich­tige gesell­schaft­li­che Her­aus­for­de­rung. Doch bedenke man die ursprüng­li­che Bedeu­tung in der Geo­lo­gie, näm­lich den „Ein­schluss“ von anders­ar­ti­gen Ele­men­ten in einen Stein. Als Theo­loge denkt man da gleich an die klös­ter­li­che „inclu­sio“, also die Selbst­ein­sper­rung von Non­nen und Mönchen.

Wör­ter füh­ren eben ein anar­chi­sches Eigen­le­ben und ber­gen manch­mal irri­tie­rende Dop­pel­deu­tig­kei­ten. Das gilt auch für „diver­sity“. In bei­den Koali­ti­ons­ver­trä­gen wird der eng­li­sche Fach­be­griff mit „Viel­falt“ über­setzt. Das ist nicht falsch, aber zu lieb. Denn das latei­ni­sche Ursprungs­wort „diver­si­tas“ bedeu­tet „Ver­schie­den­heit, Gegen­satz, Wider­spruch“. Das schafft eine ange­mes­sene, an- und auf­re­gende Span­nung. Nur wie macht man mit solch einem Kon­flikt­be­griff sinn­volle, för­der­li­che Kul­tur­po­li­tik? Hilft es wirk­lich, „Diver­si­tät“ zu „Viel­falt“ her­un­ter zu dim­men? Und wer soll als Teil die­ser bun­ten Plu­ra­li­tät aner­kannt wer­den? Man muss kein habi­li­tier­ter Sys­tem­theo­re­ti­ker sein, um ein­zu­se­hen, dass mit jedem Ein­schluss immer auch ein Aus­schluss ver­bun­den ist. Dafür kann es Gründe geben, man muss sie nur benen­nen. Schließ­lich: Liegt nicht eine Pro­ble­ma­tik die­ses Begriffs darin, dass er Men­schen nach bestimm­ten Merk­ma­len ein­zel­nen Grup­pen zuord­net, damit also Plu­ra­li­tät am Ende auch wie­der sor­tiert und fokus­siert, also redu­ziert? Und zual­ler­letzt: Was bedeu­tet es, wenn das Gegen­teil von „Leit­kul­tur“ zum Leit­be­griff der Kul­tur­po­li­tik avan­ciert? Natür­lich ist in Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen keine Zeit für dif­fe­ren­zierte Begriffs­klä­run­gen. Aber ich wünschte mir – nein, bloß keine der han­dels­üb­li­chen Debat­ten, aber ein gemein­sa­mes Nach­den­ken dar­über, wie man das benennt, was zu tun ist, damit es nicht bei pro­gram­ma­ti­schen For­meln bleibt.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 02/2022.

Von |2022-03-23T16:00:57+01:00Februar 4th, 2022|Grundgesetz, Sprache|Kommentare deaktiviert für

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Gemein­sa­mes Nach­den­ken über Begriffe und Debat­ten ist notwendig

Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.