Jerzy Feliks Urman war 11 Jahre alt, als die Deutschen Besetzer ihn und seine Eltern in dem Versteck aufstöberten, in dem die Familie sich vor ihren Verfolgern zu verbergen suchte. Das Kind nahm sofort, was sein Vater, ein Arzt, ihm für den Fall ihrer Entdeckung gegeben hatte, um zumindest über den eigenen Tod selbst bestimmen zu können: eine Zyankalikapsel. Vom gewaltsamen Tod des Jungen offensichtlich verwirrt, zogen die Deutschen ab, ohne die Eltern mitzunehmen. Diese hoben mit Essbesteck im Laufe der folgenden Nächte ein Grab für ihren einzigen Sohn aus. Wenige Tage vor seinem Tod beschloss Jerzy, ein Tagebuch zu führen. Dies begründet er mit dem Hinweis auf das „Meer von Elend, Blut und Tränen“, das die Nazis in seine Heimat, Polen, brachten, und unter der Befürchtung, er würde die Vorfälle vergessen, wenn er sie nicht niederschriebe. Auf den knapp zehn Seiten, die sein Tagebuch ausmachen, finden sich kaum Informationen – weder zu äußeren Vorgängen, die die Agonie der jüdischen Bevölkerung im von den Nazis besetzten Polen beschreiben würden, noch zu der inneren Wahrnehmungswelt eines Elfjährigen, der von den Gewaltexzessen, die durch Berichte Dritter in sein Versteck dringen, wie paralysiert erscheint. Dass sein Tagebuch nicht vermag, diese Realität auch nur annähernd abzubilden, fällt dem jungen Autor selbst ins Auge, und er führt dafür zwei Gründe an: erstens seine fehlende Erfahrung und zweitens die Natur der Ereignisse selbst, die sich jeder menschlichen Beschreibung entziehen würde.
Wer sich im Zusammenhang mit der Shoah mit Erinnerungskultur befasst, sollte sich dieser Ausgangssituation bewusst sein: Die zu bezeugende Realität ist extrem traumatisierend. Es ist davon auszugehen, dass weder der Bezeugende, noch das von ihm erstellte Dokument die Ereignisse überstehen würden. Hierin liegt die besondere Natur jener Hinterlassenschaften, die von den Jüdinnen und Juden während der Shoah unter akuter Lebensgefahr erstellt wurden – unter der bewussten Zielsetzung, zu bezeugen, was bis dato unvorstellbar erschien, im Verständnis der Unmöglichkeit dieses Unterfangens, und in einer Realität, in der der Kampf um das Überleben dieser Quellen oftmals dem Kampf um das eigene physische Überleben übergeordnet wurde.
Wie wir heute die Ereignisse der Shoah erinnern bzw. erzählen, hängt wesentlich davon ab, auf welche Quellen wir uns dabei stützen. Diese Aussage mag banal wirken, prägte aber existentiell den Überlebenskampf der verfolgten Jüdinnen und Juden während der Shoah. Seien es die in ihrer bloßen Existenz erstaunlichen Seiten des Tagebuchs des Jungen Jerzy, sei es das geniale Dokumentationskunstwerk jüdischen Lebens und Sterbens, das der polnisch-jüdische Historiker Emanuel Ringelblum im Ghetto Warschau unter dem Decknamen „Oyneg Shabbes“ schuf, oder die in gestochener Handschrift festgehaltenen Notizen des Intellektuellen Chaim Kaplan – immer wieder taucht in den Hinterlassenschaften ein Topos auf, der den Akt des Bezeugens mit den Augen der Bezeugenden und der bezeugten Realität in eine untrennbare Verbindung stellt. In den Worten Chaim Kaplans: „Aber ich schwöre, dass ich all das mit meinen eigenen Augen mitangesehen habe.“
Die Quellen aus jüdischer Urheberschaft wurden im Impetus geschaffen, eine Gegengeschichte zu dem totalen Vernichtungsprogramm der Nazis zu etablieren. In dieser Gegengeschichte musste die eigene Biografie bezeugt werden, sowie die Geschichte und Kultur, in der diese Biografie angelegt war, und zwar deshalb, weil die Auslöschung jüdischen Lebens, jüdischer Geschichte und Kultur zentrale Zielsetzung in der NS-Vernichtungspolitik war – Genozid und Gedächtnismord in einem. Eine weitere Ursache für die rastlose Dokumentationsarbeit der verfolgten Jüdinnen und Juden war auch die Propagandaarbeit der Nationalsozialisten, die zum einen von antisemitischem Hass geprägt und zum anderen darauf angelegt war, die genozidale Vernichtungspolitik konsequent zu verschleiern. Es ging in der jüdischen Dokumentationsarbeit auch um die Bewahrung historischer Wahrheit.
Im Folgenden soll skizziert werden, wie sich israelische Erinnerungskultur zu der vielfältig verzweigten, komplexen Textur der Gegenwart entwickelt hat, und zwar gerade vor dem Hintergrund eines in seinen Anfängen stark gebündelten Narrativstrangs.
Dieser wurde in den frühen Jahren von den ersten Überlebenden bereits in das vorstaatliche Eretz Israel getragen, in das unter britischem Mandat stehende Palästina also, in das in den Jahren 1945/1946 etwa 70.000 Überlebende einwanderten. Viele hatten sich während der Shoah Untergrundorganisationen angeschlossen, die in Ghettoaufständen und anderen Widerstandsaktionen gegen die Nazis involviert waren, andere waren bereits vor dem Krieg Mitglieder in jüdischen Jugendbewegungen, die später, während der Shoah, eine zentrale Rolle im Widerstand gegen die NS-Besetzer innehatten. Ihr Kampf gegen Nazi-Deutschland war militärisch gesehen aussichtslos und wurde nicht in der Hoffnung geführt, einen effektiven Schlag gegen die Übermacht der NS-Vernichtungsmaschinerie ausüben zu können. Vielmehr galt es, das Selbstbild des Widerständigen zu etablieren, oder, wie Mordechai Anielewicz, einer der charismatischen, jugendlichen Anführer des Warschauer Ghettoaufstandes es formulierte, jüdische Geschichtsschreibung um eine Zeile zu erweitern: „Die Juden haben sich gewehrt.“ Mit dieser Shoah-Erzählung konnte die so gefährdete, fragile israelische Gesellschaft in ihren Gründungsjahren die Geschichte der Shoah mit der Gegenwart, dem Existenzkampf um den eigenen Staat, verknüpfen. Es galt, einen eindeutigen Bruch zu markieren zwischen jüdischem Leben in der Diaspora, das tragisch in der großen Katastrophe endete, und einem neuen, selbstbestimmten Leben in Israel, das in diesem Kontext vorrangig durch zwei Qualitäten besetzt war: durch die Abwesenheit von Antisemitismus, und durch die Fähigkeit der jüdischen Bevölkerung, sich selbst mit Waffen zu verteidigen. Die einzige Kontinuitätslinie, die im damaligen Kontext zu ziehen war, war die der ehemaligen Widerstandskämpfer, deren Mut und Einsatzbereitschaft während der Shoah nun die Kämpfenden von 1948 inspirierte.
Die Wucht und die Treffsicherheit der Meistererzählung der heldenhaften Ghettokämpfer überdeckte die Stimmenvielfalt derer, die im zerstörten Europa ohne jede Hilfe untergegangen waren oder aber überlebt hatten, ohne am bewaffneten Widerstand beteiligt gewesen zu sein. So bildete sich eine Dichotomie heraus, die auf der einen Seite die überlebenden Widerstandskämpfer mit der Verteidigung des Landes Israel und der Idee des Zionismus in eine Linie brachte, während auf der anderen Seite Überlebenden, die nicht im Widerstand engagiert waren, ein generelles Misstrauen oder auch der Verdacht der Kollaboration mit den Nazis entgegengebracht wurde.
Den ersten Denkmälern in Israels Erinnerungskultur ist ihre enge Verbindung zur zionistischen Bewegung deutlich anzusehen. Wer heute durch die Wälder in Jerusalems Bergen wandert, stößt häufig auf Gedenktafeln, die an einzelne jüdische Gemeinden Europas erinnern, die während der Shoah ausgelöscht wurden. Ebenso wurden die ersten offiziellen Gedenktage (Iom-HaShoah) in eben diesen Wäldern abgehalten, denn die Verbindung zwischen dem vernichteten jüdischen Leben dort, d. h. in Europa, und dem neu aufblühenden jüdischen Leben hier, d. h. in Israel, wurde nicht zuletzt in den durch den jüdischen Nationalfonds aufgeforsteten Wäldern, in der Begrünung des Landes gesehen. Die Lehre, die das jüdische Volk aus der Shoah zu ziehen habe, lag quasi auf der Hand und wurde in der Unabhängigkeitserklärung (1948) von Ben-Gurion klar umrissen: „Die Katastrophe, die in unserer Zeit über das jüdische Volk hereinbrach und in Europa Millionen von Juden vernichtete, bewies unwiderleglich aufs Neue, dass das Problem der jüdischen Heimatlosigkeit durch die Wiederherstellung des jüdischen Staates im Lande Israel gelöst werden muss, in einem Staat, dessen Pforten jedem Juden offenstehen (…).“ Das Kollektiv galt in der Wahrnehmung der jungen israelischen Kibbuzgemeinschaft als lebensrettender Zusammenschluss und damit als die einzig wirklich verlässliche Einsicht, die sich aus der Shoah ableiten ließ und die dem Grundsatz „Nie wieder Opfer sein“ eine Grundlage bot.
Es erscheint aus heutiger Sicht nachvollziehbar, dass viele Überlebende sich in dieser kollektiven Erzählung nicht wiederfanden und fühlten, dass ihre persönliche, traumatische Geschichte in der israelischen Gesellschaft nicht gehört wurde. Die Überlebende Aviva Unger erinnert sich im Rahmen von „Return to life“ an der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem an die ersten Momente ihrer Ankunft in Israel: „Ich dachte, ich würde meinen Koffer auspacken, und dann würden sie sagen: Jetzt setz dich und erzähl uns alles. Aber genau das wollte niemand. Sie liefen vor mir davon, als hätte ich eine schreckliche ansteckende Krankheit. Ich musste hart kämpfen für meinen Platz hier.“
So kristallisierte sich mit den Jahren eine Gedenkkultur heraus, die sich fernab der dominierenden Meistererzählung im halb privaten, halb öffentlichen Raum abspielte. Einzelne Überlebende brachten Gedenktafeln mit den Namen ihrer ermordeten Familienangehörigen nach Yad Vashem. Sie geben Zeugnis für die Notwendigkeit einer individuellen Gedenkkultur, die jenseits jeglicher moralischen Einordnung die Erinnerung an einzelne Personen in sich aufnimmt, die während der Shoah ermordet wurden.
An den vielfältigen Ausformungen halb-privater Erinnerungsinitiativen lässt sich erkennen, dass Israels Erinnerungskultur auch in den ersten Jahrzehnten nicht wirklich und eindeutig linear einem einzigen Masternarrativ folgte. Die öffentliche Repräsentation israelischer Gedenkkultur erfuhr allerdings erst in den frühen 1960er Jahren eine klar sichtbare Differenzierung. Dieser Wandel wird heute weithin den Auswirkungen des Prozesses gegen Adolf Eichmann zugeschrieben, des einzigen Prozesses gegen einen deutschen Kriegsverbrecher, der auf israelischem Boden stattfand. Der Generalstaatsanwalt Gideon Hausner, der den Prozess leitete, betonte in seiner Eröffnungsrede erstmals die unabdingbare Notwendigkeit, die Zeugnisse der Überlebenden zu hören – und zwar weniger als juristische Bedingung zu einer gerechten Urteilsfindung, sondern als Bedingung einer humanen Erinnerungskultur.
Erstmals in der Geschichte des Staates Israel wurden die Zeugnisse der Überlebenden bewusst in den öffentlichen Raum gestellt. Direkt über das Radio übertragen, fand die israelische Bevölkerung sich konfrontiert mit den bis dahin ungehörten Erzählungen jener, die zum überwiegenden Teil weder durch „heldenhaften“ Kampf noch durch Gnade oder Rettung überlebten, sondern aufgrund einer Mischung aus Zufall, spezifischen Umständen und atemberaubender Zähigkeit. Das israelische Publikum, das sich bis dahin kaum mit der tatsächlichen Erfahrungsebene der Jüdinnen und Juden während der Shoah auseinandergesetzt hat, begann zu ahnen, dass der Phänotyp des Helden, der bislang die Erinnerungskultur dominierte, die historische Realität nicht widerspiegelt. Zwei wesentliche Erkenntnisse wurden nun greifbar: erstens, dass die Überlebenschancen für Europas Jüdinnen und Juden während der Jahre der Vernichtung so verschwindend gering waren, dass ihre jeweiligen Überlebensstrategien nur minimalen Einfluss hatten auf den so präzise und schlagkräftig geführten Verlauf der sogenannten „Endlösung“. Und zweitens, dass der Begriff des Heldentums im Prisma der Vielfalt menschlicher Verhaltens- und Reaktionsweisen gebrochen und neu differenziert werden müsse.
Mit dem Eintreten der dritten und vierten Generation in den Diskurs israelischer Erinnerungskultur verzweigt sich das Masternarrativ weiter in vielfältige, individualisierte Erzählungen. Fragmente der Vergangenheit, oft mehrfach überlagert und über die zweite Generation, die Kinder der Überlebenden, mündlich weitergegeben, verbinden sich zu Familienerzählungen, die freilich immer auch von Elementen des gesellschaftlichen Diskurses durchdrungen sind. Die stets aufs Neue zu verhandelnde Frage, inwieweit die Geschichte der Shoah identitätsstiftend für die Angehörigen der dritten und vierten Generation sei, mündet nicht selten in Brüchen und Provokationen. Dazu kommt als weiterer Faktor im Wandel der Erinnerungskultur die sich verändernde israelische Demografie. Anders als in den ersten Jahrzehnten hält sich heute der Anteil der Juden und Jüdinnen aschkenasischer, also europäischer, Abstammung mit dem Anteil der Sepharden, die aus dem mittleren Osten eingewandert sind, in etwa die Waage. In den ersten Dekaden nach der Staatsgründung klar marginalisiert, stellen sephardische Jüdinnen und Juden, deren Familienbiografien überwiegend keinen direkten geschichtlichen Bezug zur Shoah aufweisen, heute einen selbstbewussten Teil der israelischen Gesellschaft dar. Die Einwanderungsgeschichte dieser Familien trägt ihr eigenes traumatisches Potenzial in sich: Um die lange vernachlässigten Erfahrungen der etwa 850.000 Immigrantinnen und Immigranten aus arabischen Ländern, die infolge der Staatsgründung Israels unter oft schwierigsten Umständen ihre Heimat verlassen mussten, in das Bewusstsein der Gesellschaft zu rücken, wurde im Jahr 2014 ein eigener nationaler Gedenktag eingeführt.
Vor dem Hintergrund der zunehmend pluralen israelischen Gesellschaft, und in einer Zeitspanne, in der die Möglichkeit direkter, nicht medial vermittelter Begegnungen mit Shoah-Überlebenden immer seltener wahrgenommen werden kann, lässt sich beobachten, dass die Selbstverortung junger Israelis sich zunehmend ablöst von einer kollektiven oder zumindest stark gebündelten Erinnerungskultur. Neue Themenkomplexe, wie z. B. die Aufarbeitung der Frage, in welchem persönlichen Bezug der oder die Einzelne zur Shoah steht, oder die Auseinandersetzung mit komplexen Themen wie Täterschaft rücken nun in den Diskurs um die Erinnerung. Neue digitale Medien, die untrennbar zur Ausdruckswelt der jungen Generation gehören, beginnen, die Sprache der Erinnerung zu verändern.
In einem unabgeschlossenen Prozess individueller Selbstverortung werden dabei gesellschaftliche oder politische Diskurse mit verhandelt.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 02/2022.