„Kein Euro­päer soll sich in einem euro­päi­schen Land als Frem­der fühlen“

Europa ist ein kul­tu­rel­les Projekt

Häu­fig wird der Ein­druck ver­mit­telt, die EU sei in ers­ter Linie ein öko­no­mi­sches Pro­jekt. Mit einem sol­chen tech­no­kra­ti­schen Ansatz wird sie eher als Ser­vice­ein­rich­tung ein­ge­ord­net denn als wer­te­be­zo­gene Gemein­schaft. Es bedarf einer Neu­jus­tie­rung, bei der sich Europa als gemein­sam von den Bür­gern gestal­te­ter Raum der Gesell­schaf­ten versteht.

Europa ist keine Salat­schüs­sel, die unver­bind­lich und unver­bun­den besteht. Europa ist kein Schmelz­tie­gel, der alles homo­gen macht. Europa ist ein Mosaik, gefasst von einer gemein­sa­men euro­päi­schen Ver­ant­wor­tung und getra­gen von einem Unter­grund aus Rechts­staat­lich­keit und Demokratie.

Die Poli­tik kann den Rah­men set­zen, mit Leben wird er erfüllt durch die Menschen.

Europa wird stär­ker, je bes­ser sich seine Bewoh­ner ken­nen­ler­nen. Begeg­nung ist der ent­schei­dende Begriff. Die Erfah­run­gen von ver­läss­li­cher und krea­ti­ver grenz­über­schrei­ten­der Zusam­men­ar­beit lie­fern die ent­schei­dende Moti­va­tion. Gerade weil Europa wegen sei­nes Reich­tums und sei­ner Viel­falt der Kul­tu­ren so ein­zig­ar­tig ist, lohnt es sich, die­sen Reich­tum auch per­sön­lich erfahr­bar zu machen.

Kein Euro­päer soll sich in einem euro­päi­schen Land als Frem­der füh­len. Das würde ich als Leit­satz for­mu­lie­ren. Er beinhal­tet die gegen­sei­tige Aner­ken­nung von Gleich­wer­tig­keit und die Wert­schät­zung von Viel­falt. Letzt­lich ist unser Zusam­men­le­ben eine kul­tu­relle Leistung.

Frei­lich darf man bei die­sem ehr­gei­zi­gen Ziel nicht ver­nach­läs­si­gen, dass sich Men­schen durch­aus auch im eige­nen Land als Fremde füh­len kön­nen. Da ist zum einen die teil­weise unbe­frie­di­gende Situa­tion der Inte­gra­tion von Migran­ten. Dazu bedarf es einer rea­lis­ti­schen Lage­be­ur­tei­lung und einer qua­li­fi­zier­ten und dif­fe­ren­zier­ten För­de­rung zur Ein­glie­de­rung in die Arbeits­welt und zum Auf­bau sozia­ler Kon­takte. Die sich ver­än­dern­den gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren müs­sen aktiv gestal­tet wer­den. Je bes­ser diese Ein­glie­de­rung von bei­den Sei­ten geschieht, desto aus­sichts­rei­cher wird auch ein posi­ti­ver euro­päi­scher Dis­kurs verlaufen.

Da ist zum ande­ren das Pro­blem, dass häu­fig die poli­tisch und gesell­schaft­lich Han­deln­den vor allem die gut aus­ge­bil­de­ten Men­schen in den Metro­po­len im Blick haben und glau­ben, was ihnen nützt, ist auto­ma­tisch gut für alle. Dass dies ein Trug­schluss ist, zeigt die zuneh­mende Ten­denz der gesell­schaft­li­chen Spal­tung und Pola­ri­sie­rung in den euro­päi­schen Staa­ten. Des­halb sollte bei den Über­le­gun­gen einer enge­ren euro­päi­schen Abstim­mung die Gefahr der Aus­gren­zung und die Mög­lich­keit der Ein­be­zie­hung von gesell­schaft­li­chen Grup­pen bei den Initia­ti­ven früh­zei­tig mit bedacht wer­den. Begeg­nung bleibt auch bei die­sen schwie­ri­gen Fra­gen der ent­schei­dende Ansatz.

Es genügt aber nicht, sich gegen­sei­tig zu erfah­ren. Das ist letzt­lich für einen Pro­zess zu unver­bind­lich. Begeg­nung sollte auch das Gestal­ten beinhal­ten. Gerade die Kul­tur ist auf­grund der jewei­li­gen loka­len oder regio­na­len Bezüge in beson­dere Weise geeig­net, zivil­ge­sell­schaft­li­che Impulse zu set­zen. Sei es durch Lite­ra­tur, Bil­dende Kunst, Musik, Archi­tek­tur, Film und Thea­ter. Kul­tur kann Pro­zesse in Gang set­zen, wo Still­stand herrscht; Kul­tur kann Alter­na­ti­ven for­mu­lie­ren, wo Blo­ckade besteht. Kul­tur lebt davon, dass sie sich aus­tauscht, Anre­gun­gen auf­nimmt, reflek­tiert und über­rascht. Kunst und Kul­tur ist nicht die Spiel­wiese der Künst­ler und der Intel­lek­tu­el­len, son­dern sie ist der essen­zi­elle Aus­druck von Gesell­schaf­ten. Darin liegt auch ihre soziale Kraft!

Diese Kraft euro­pä­isch zu ver­knüp­fen – auf indi­vi­du­el­ler Ebene, auf insti­tu­tio­nel­ler Ebene, auf loka­ler und regio­na­ler Ebene – ist die Chance, eine euro­päi­sche Zukunft zu schaf­fen, die sich durch die Betei­li­gung vie­ler legi­ti­miert. Dadurch ent­steht eine lang­fris­tige Ver­net­zung, es wird ein Per­spek­tiv­wech­sel ermög­licht und es wer­den kul­tu­relle Impulse aus­ge­löst. Das macht Europa leben­dig und krea­tiv. An sol­che kul­tu­rel­len Netz­werke las­sen sich auch Aus­tausch­mög­lich­kei­ten mit der Wis­sen­schaft und ande­ren Lebens­be­rei­chen knüp­fen. Das wird eine erlebte euro­päi­sche Lebenswirklichkeit.

Wie kön­nen wir das auf den Weg bringen?

Durch prak­ti­sches Han­deln, aber auch durch sorg­fäl­tige Umfeld- und Bedarfs­ana­ly­sen. Denn ohne Kom­pe­tenz und Ver­ant­wor­tung der Betei­lig­ten ist ein solch ehr­gei­zi­ger Pro­zess von unten nach oben nicht zu leis­ten. Ent­täu­schun­gen durch unüber­leg­tes Vor­ge­hen kön­nen rasch zum Schei­tern füh­ren. Es müs­sen auch Vor­aus­set­zun­gen für eine geeig­nete Infra­struk­tur geschaf­fen wer­den oder – soweit vor­han­den – gestärkt wer­den. Hier ist beson­ders die Poli­tik gefragt.

Infra­struk­tur hat in unse­rer Zeit zwei Kom­po­nen­ten. Da ist zum einen die klas­si­sche Form von Struk­tu­ren der ver­schie­de­nen Orga­ni­sa­tio­nen und Insti­tu­tio­nen, da ist zum ande­ren die Digi­ta­li­sie­rung der Lebens- und Arbeits­wel­ten, die neu­ar­tige Instru­mente für Kom­mu­ni­ka­tion, Ver­net­zung, Spei­che­rung und Gestal­tung bie­tet. Sie gibt uns einen neuen Frei­heits­grad und erheb­lich grö­ßere Reich­weite und Geschwin­dig­keit. Tech­nik ist eine Sache, die rich­tige Aus­wahl von Inhal­ten und Part­nern die andere. Beide Kom­po­nen­ten zusam­men­ge­nom­men kön­nen eine Alli­anz der an der digi­ta­len Infor­ma­ti­ons­kette betei­lig­ten Part­ner bil­den und die Vor­züge des digi­ta­len Medi­ums mit den intel­lek­tu­el­len, kul­tu­rel­len und künst­le­ri­schen Erzeug­nis­sen und Erfah­run­gen verbinden.

Damit kön­nen für den jewei­li­gen Bedarfs­fall kul­tu­rel­ler Dia­log und Aus­tausch gezielt über digi­tale Anfra­gen, Aus­wahl und Aus­ge­stal­tung defi­niert wer­den und zu ana­lo­gen Begeg­nun­gen und ana­lo­ger Erfah­rung geführt wer­den. Hier einige Bei­spiele: Kopro­duk­tio­nen von Thea­tern, Orches­tern und Museen mit ent­spre­chen­den The­men und Auf­tritts­or­ten, auch in Form von Fes­ti­vals; das Aus­ge­stal­ten attrak­ti­ver Städ­te­part­ner­schaf­ten; Jugend­aus­tausch ver­bun­den mit sprach­po­li­ti­schen Vor­ga­ben zur Mehr­spra­chig­keit (für zwei Fremd­spra­chen in Schu­len fehlt bis jetzt die Ver­bind­lich­keit); ver­stärkte Über­set­zungs­för­de­rung (die euro­päi­sche Biblio­thek in allen EU-Spra­chen); Jour­na­lis­ten­aus­tausch;  Zusam­men­ar­beit von Bür­ger­initia­ti­ven für Umwelt- und Kli­ma­schutz usw.

Die Euro­päi­sche Kom­mis­sion hat sich in den letz­ten Jah­ren durch­aus in sol­chen Initia­ti­ven enga­giert, bei denen es um Städte und Land­schaf­ten ging, etwa beim Euro­päi­schen Kul­tur­er­be­jahr oder den Euro­päi­schen Kul­tur­haupt­städ­ten. Der­zeit gibt es einen span­nen­den Ansatz für ein offe­nes EU-Pro­jekt – das Neue Euro­päi­sche Bau­haus. In Form eines Preis­aus­schrei­bens kön­nen sich Bür­ger und Insti­tu­tio­nen der EU beteiligen.

Es ist ein kul­tu­rel­les Pro­jekt, bei dem Archi­tek­ten, Künst­le­rin­nen, Stu­die­rende, Inge­nieure und Desi­gner zusam­men­wir­ken sol­len, um Fra­gen der Zukunft – Wie wol­len wir woh­nen, wie wol­len wir leben? – gemein­sam und nach­hal­tig zu gestal­ten. Durch diese Ver­bin­dung wird Kul­tur mit sei­ner Ästhe­tik und sei­ner zivil­ge­sell­schaft­li­chen Kraft glei­cher­ma­ßen genutzt und es ent­steht von unten nach oben. Das ist für ein Europa mit Zukunft eine gute Grundlage.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2021-01/2022.

Von |2021-12-14T16:15:27+01:00Dezember 1st, 2021|Einwanderungsgesellschaft, Heimat|Kommentare deaktiviert für

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Europa ist ein kul­tu­rel­les Projekt

Klaus-Dieter Lehmann ist Kulturmittler. Bis 2020 war er Präsident des Goethe-Instituts.