Anti­se­mi­tis­mus im deutsch­spra­chi­gen Hip-Hop

81,4 Pro­zent anti­se­mi­ti­scher Jugend­li­cher hören Gangsta-Rap

Bereits in den 1980er Jah­ren schwappte die ame­ri­ka­ni­sche Hip-Hop-Bewe­gung nach Europa über. Damit fand auch Rap, als zen­trale Kul­tur­pra­xis des Hip-Hop, in Deutsch­land Anhän­ger. Durch selbst orga­ni­sierte Ver­an­stal­tun­gen in Jugend­zen­tren oder Gemein­de­häu­sern und eine aktive Ver­net­zung von Hip-Hop-Anhän­gern eta­blierte sich im Ver­lauf der 1990er Jahre Hip-Hop zur domi­nan­ten Jugend­kul­tur. Ab Anfang der 2000er Jahre ent­wi­ckelte sich das Sub-Genre Gangsta-Rap zur bis heute kom­mer­zi­ell erfolg­reichs­ten Sparte des deutsch­spra­chi­gen Rap. Der Gangsta-Rap lässt sich weni­ger musi­ka­lisch, viel­mehr über die in den Tex­ten ver­han­del­ten Erzäh­lun­gen von ande­ren Spiel­ar­ten des Rap abgren­zen. Im Gangsta-Rap lässt sich seit län­ge­rer Zeit beob­ach­ten, dass ein männ­lich­keits­fo­kus­sier­ter Kör­per­kult und auto­ri­täre Macht­fan­ta­sien zen­trale Motive der Selbst­in­sze­nie­rung der haupt­säch­lich männ­li­chen Künst­ler bil­den. Dies führte in der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit zu klei­ne­ren Skan­da­len, die par­ti­ell auch im Inter­esse der Inter­pre­ten gele­gen haben dürf­ten, weil sie die Selbst­in­sze­nie­rung als gesell­schaft­li­che Out­laws und Tabu­bre­cher bestä­tig­ten. Im Früh­jahr 2018 löste die Ver­lei­hung des Musik­prei­ses ECHO an die bei­den Gangsta-Rap­per Kol­le­gah und Farid Bang eine breite Debatte über anti­se­mi­ti­sche Inhalte im deutsch­spra­chi­gen Gangsta-Rap aus. Dabei wurde deut­lich, dass anti­se­mi­ti­sche Motive in kei­nem ande­ren Genre popu­lä­rer Musik so offen in Erschei­nung tre­ten. Die Kri­tik wurde von der über­wie­gen­den Mehr­heit der Genre-Ver­tre­ter abge­wehrt: Über­trei­bung sei ein Stil­mit­tel des Rap, man dürfe das lyri­sche Ich nicht mit der Real­per­son iden­ti­fi­zie­ren, zudem wür­den die Jugend­li­chen die Texte nicht ver­ste­hen, oder umge­kehrt, die Jugend­li­chen wür­den sehr wohl ver­ste­hen, dass es sich um Insze­nie­run­gen handelt.

Da bis­lang keine belast­ba­ren Daten über den Zusam­men­hang von Gangsta-Rap-Kon­sum und men­schen­feind­li­chen Ein­stel­lungs­mus­tern sei­ner Hörer vor­lie­gen, haben wir mit unse­ren Kol­le­gen, Ull­rich Bauer, Baris Ertu­grul und Vanessa Wal­ter, und finan­ziert durch die Anti­se­mi­tis­mus­be­auf­tragte des Lan­des Nord­rhein-West­fa­len, Sabine Leu­theus­ser-Schnar­ren­ber­ger, die Stu­die „Die Sus­zep­ti­bi­li­tät von Jugend­li­chen für Anti­se­mi­tis­mus im Gangsta-Rap und Mög­lich­kei­ten der Prä­ven­tion“ durch­ge­führt. Durch Ein­zel­in­ter­views und Grup­pen­ge­sprä­che sowie einer regio­na­len Befra­gung von 500 Jugend­li­chen in Nord­rhein-West­fa­len wur­den mög­li­che Kor­re­la­tio­nen zwi­schen Gangsta-Rap-Kon­sum und anti­se­mi­ti­schen, frau­en­feind­li­chen und ras­sis­ti­schen Ein­stel­lun­gen ermittelt.

Zen­trale Ergebnisse
Die Ergeb­nisse der quan­ti­ta­ti­ven Befra­gung deu­ten dar­auf hin, dass Gangsta-Rap-Kon­su­men­ten sowohl anti­se­mi­ti­scher als auch frau­en­feind­li­cher ein­ge­stellt sind als Nicht-Hörer. In der Gruppe der sehr anti­se­mi­ti­schen Jugend­li­chen hören 81,4 Pro­zent gerne oder sehr gerne Gangsta-Rap, in der Gruppe der nicht anti­se­mi­ti­schen Jugend­li­chen sind dies nur 48,9 Pro­zent. Die Zah­len bestä­ti­gen die Affi­ni­tät der Gangsta-Rap-Hörer zu anti­se­mi­ti­schen Ein­stel­lun­gen. Dass fast die Hälfte der nicht anti­se­mi­ti­schen Jugend­li­chen Gangsta-Rap hört, zeigt zugleich, dass wir es nicht mit ein­fa­chen Wirk­zu­sam­men­hän­gen, son­dern mit kom­ple­xen Wech­sel­wir­kun­gen bei Jugend­li­chen zu tun haben, deren Hal­tun­gen mit­un­ter dif­fus und wider­sprüch­lich sind.

Die Fähig­keit von Jugend­li­chen, Anti­se­mi­tis­mus zu erken­nen, ist nur schwach aus­ge­bil­det. Die Unsi­cher­heit im Umgang mit den kru­den Ideen, die Rap­per in ihren Lie­dern, vor allem aber über die pro­fes­sio­nell bedien­ten Social-Media-Kanäle ver­brei­ten, bestä­tigt sich in der qua­li­ta­ti­ven Unter­su­chung. Hier zeigt sich, dass die Selbst­in­sze­nie­rung der Rap­per als Gesell­schafts­kri­ti­ker häu­fig ernst genom­men wird. Sowohl die Gangsta-Rap­per als auch das Genre wird als sozial- und gesell­schafts­kri­tisch wahr­ge­nom­men. 44 Pro­zent der Befrag­ten sind der Auf­fas­sung, dass im Gangsta-Rap „Men­schen mit viel Geld und Macht kri­ti­siert“ wer­den, 43 Pro­zent, dass darin „Miss­stände der Welt ange­spro­chen werden“.

Der Groß­teil der Inter­view­ten emp­fand die Inhalte von Tex­ten und die im Genre popu­lä­ren Inter­view­for­mate als Anre­gung zum Nach­den­ken und als Anlass, bestehen­des Wis­sen zuguns­ten der ver­schwö­rungs­ideo­lo­gi­schen Aus­sa­gen zu hin­ter­fra­gen. Zwar wer­den in der Aus­ein­an­der­set­zung mit spe­zi­fi­schen Ver­schwö­rungs­er­zäh­lun­gen beson­ders unplau­si­ble Erzäh­lun­gen wie etwa die der fla­chen Erde, die soge­nannte Flat-Earth-Theory, eher abge­lehnt. So reagiert ein 14-jäh­ri­ger männ­li­cher Befrag­ter auf Aus­schnitte aus einem Video­in­ter­view von Leon Love­lock mit Kia­nush: „Ab dem Zeit­punkt ‚Erde flach‘, das glaube ich nicht rich­tig. Was er davor gesagt hat, fand ich schlau und rich­tig. Ich dachte aber dann, was labert er da.« Bemer­kens­wert ist hier, dass der Jugend­li­che sich dabei auf das Gespräch der bei­den über den isla­mis­ti­schen Anschlag auf das World Trade Cen­ter bezieht: 9/11, so die bei­den Rap­per, sei nicht das gewe­sen, wonach es offi­zi­ell aus­sieht. Viel­mehr wür­den Vor­fälle die­ser Art von Regie­run­gen insze­niert, zumin­dest hätte es so etwas schon vor­her gege­ben, bestä­ti­gen sich die bei­den wech­sel­sei­tig. „Die Leute, die das ver­ant­wor­ten, das sind für mich keine Men­schen mehr“, so Leon Love­lock, der hier wohl­ge­merkt nicht die isla­mis­ti­schen Atten­tä­ter meint, son­dern jene Ame­ri­ka­ner, die er als Draht­zie­her der Anschläge aus­macht. Es sind sol­che Erzäh­lun­gen, die der 14-Jäh­rige als „schlau“ und „rich­tig“ qualifiziert.

Hand­lungs­emp­feh­lun­gen
Mit Blick auf unsere For­schungs­er­geb­nisse zum Zusam­men­hang von anti­se­mi­ti­schen Ein­stel­lungs­mus­tern und Gangsta-Rap-Kon­sum muss davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass sinn­volle Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men dif­fe­ren­ziert Ziel­grup­pen adres­sie­ren. Dabei muss die tiefe Ver­an­ke­rung anti­se­mi­ti­scher Codie­run­gen im Lebens­all­tag berück­sich­tigt wer­den. Daher soll­ten Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men nicht nur auf die Ver­mitt­lung von Wis­sen set­zen, son­dern auch die häu­fig im Kon­text von Anti­se­mi­tis­mus mobi­li­sier­ten Emo­tio­nen reflek­tie­ren. Ein zen­tra­ler Aspekt erfolg­rei­cher Prä­ven­tion ist die För­de­rung von Medi­en­kom­pe­tenz – und ins­be­son­dere die Kom­pe­tenz im Umgang mit sozia­len Medien. Dies erfor­dert die Fort­bil­dung des Lehr­per­so­nals, das dazu befä­higt wer­den muss, die Funk­ti­ons­wei­sen von sozia­len Medien und deren lebens­welt­li­che Bedeu­tung für Kin­der und Jugend­li­che zu ken­nen. Dar­über hin­aus muss auf Ebene der Lehr­kräfte die Fähig­keit gestärkt wer­den, Anti­se­mi­tis­mus zu iden­ti­fi­zie­ren und ihm im Kon­text Schule in Form von Prä­ven­tion, Inter­ven­tion und not­falls Repres­sion adäquat begeg­nen zu kön­nen. Auf gesell­schaft­li­cher Ebene wäre vor allem eine Dis­kus­sion über die anti­se­mi­ti­schen, homo­pho­ben, frau­en­ver­ach­ten­den und gewalt­ver­herr­li­chen­den Texte und Social-Media-Inhalte not­wen­dig, die durch­aus mit den Künst­lern, aber auch deren Labels und den Strea­ming­platt­for­men zu füh­ren ist.

Mehr dazu: Wei­tere For­schungs­er­geb­nisse des Pro­jek­tes „Die Sus­zep­ti­bi­li­tät von Jugend­li­chen für Anti­se­mi­tis­mus im Gangsta-Rap“ fin­den Sie hier: bit.ly/3l3N9gF

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 12/2021-01/2022.

Von |2021-12-14T15:32:28+01:00Dezember 1st, 2021|Medien, Sprache|Kommentare deaktiviert für

Anti­se­mi­tis­mus im deutsch­spra­chi­gen Hip-Hop

81,4 Pro­zent anti­se­mi­ti­scher Jugend­li­cher hören Gangsta-Rap

Marc Grimm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter an der Universität Bielefeld. Jakob Baier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt "Die Suszeptibilität von Jugendlichen für Antisemitismus im Gangsta-Rap".