Das Kul­tur­ra­dio

Zur Bedeu­tung und Geschichte in Deutschland

Die Wur­zeln der heu­ti­gen „Kul­tur­ra­dios“ der ARD lie­gen in den soge­nann­ten „Drit­ten Pro­gram­men“, die der öffent­lich-recht­li­che Rund­funk in den spä­te­ren 1950er Jah­ren nach dem Vor­bild von BBC 3 aus der Taufe hob. Man nannte sie „geho­bene“ Pro­gramme und benutzte sie anfäng­lich als Expe­ri­men­tier­flä­chen, die zunächst nur stun­den­weise auf Sen­dung gingen.

Nach einem 14-tägi­gen Pro­be­be­trieb im Dezem­ber 1956 wurde WDR 3 – das ich am bes­ten kenne – ab dem 12. Januar 1957 regel­mä­ßig gesen­det, aller­dings zunächst nur am Wochen­ende. Erst vier Jahre spä­ter, 1961, kam ein drit­ter Tag hinzu, der Frei­tag. Von da an hieß es „Das Dritte Pro­gramm“ und führte schon in die­ser Früh­phase zu hete­ro­ge­nen Reak­tio­nen: „Unser III. Pro­gramm“, schrieb WDR-Hör­funk­di­rek­tor Fritz Brühl 1961, soll „ein Ärger­nis sein für alle, die dem Kli­schee ver­haf­tet sind, aber auch eine Hilfe für alle, die sich gern zu neuen Ufern vor­wa­gen“. WDR 3 war ein „Kon­trast­pro­gramm“, ein „Pro­gramm für Anspruchsvolle“.

Mit die­sem Auf­trag, ein „Pro­gramm für Anspruchs­volle“ zu sein, lässt sich per se nur ein klei­ner Anteil der Bevöl­ke­rung errei­chen. Das war damals schon so und das gilt noch heute. WDR 3 star­tete sein täg­li­ches Pro­gramm am 29. März 1964 mit der Sen­dung des „Rosen­ka­va­liers“ von Hugo von Hof­manns­thal! Knapp zwölf Jahre spä­ter, 1976, erreichte WDR 3 laut WDR-Jah­res­be­richt eine Reich­weite von 2 bis 3 Pro­zent. Wesent­lich mehr seien bei die­ser Aus­rich­tung „aber weder mög­lich noch unbe­dingt erwünscht“, hieß es damals.

Kul­tur­ra­dio als Vermittler

Die Ent­wick­lung der Kul­tur­pro­gramme der ARD ist in den ver­gan­ge­nen 20 Jah­ren in fast allen Sen­dern gleich ver­lau­fen: Aus ursprüng­lich wenig aktu­el­len, oft „boden­fer­nen“ und mehr­heit­lich fach­spe­zi­fi­schen Pro­gramm­an­ge­bo­ten für wech­selnde Ziel­grup­pen mit gerin­ger Zugäng­lich­keit für die All­ge­mein­be­völ­ke­rung, sind heute tages­ak­tu­elle Kul­tur­ra­dios gewor­den, die mit regio­na­ler Bericht­erstat­tung und kul­tur­po­li­ti­schen Bei­trä­gen direk­ten Bezug auf das kul­tu­relle und poli­ti­sche Leben in ihren Sen­de­ge­bie­ten neh­men. Sie haben für all die­je­ni­gen, die in und mit der Kul­tur leben oder sich für sie inter­es­sie­ren einen direk­ten Lebens­be­zug und mit­un­ter sogar exis­ten­zi­elle Bedeu­tung. Ohne sie würde sowohl der Kul­tur­land­schaft als auch den Kul­tur­in­ter­es­sier­ten nach­weis­bar etwas fehlen.

Die föde­rale Struk­tur der ARD hat es mög­lich gemacht, dass die Kul­tur­pro­gramme der ARD spe­zi­fi­sche Bericht­erstat­tungs­for­men über die kul­tu­rel­len Akti­vi­tä­ten ihrer Sen­de­ge­biete ent­wi­ckeln konn­ten. Eine sol­che regio­nale Nähe der Kul­tur­be­richt­erstat­tung ist durch ein natio­na­les Kul­tur­pro­gramm zwei­fels­frei nicht zu errei­chen. Das weiß die Poli­tik und das weiß auch die Pro­gramm­di­rek­tion des Deutsch­land­funks. Hier gilt es, auf Dauer effi­zi­ente For­men der Abstim­mung zwi­schen lan­des­be­zo­ge­ner und natio­na­ler Bericht­erstat­tung zu fin­den und sich gegen­sei­tig zu ergän­zen, ohne die ein­zig­ar­tige und von den Bür­ge­rin­nen und Bür­gern gewünschte regio­nale Bericht­erstat­tung zu gefährden.

Die föde­rale Struk­tur der Kul­tur­pro­gramme hat eben­falls dazu bei­getra­gen, dass die Iden­ti­tät der Kul­tur­schaf­fen­den und der Kul­tur­ein­rich­tun­gen in ihren Län­dern gestärkt wurde. Das lässt sich zumin­dest in NRW deut­lich erken­nen. Was kei­nem Feuil­le­ton der Presse und bis­lang auch kei­nem Online­an­ge­bot gelun­gen ist, konnte durch die Ver­net­zungs­kraft der im Jahr 2000 gegrün­de­ten „WDR 3 Kul­tur­part­ner­schaf­ten“ erreicht wer­den. Das Lan­des­kul­tur­ra­dio hat das Selbst­wert­ge­fühl der Lan­des­kul­tur gefes­tigt, indem es sich als Kul­tur­platt­form eta­bliert und in den Dienst der Kul­tur gestellt hat.

Kul­tur­ra­dio als Vernetzer

Die Kul­tur­part­ner­schaf­ten von WDR 3 wären ohne ein neues Ver­ständ­nis von Part­ner­schaft nicht denk­bar gewe­sen. Dafür bedurfte es der Auf­he­bung über­kom­me­ner Radio-Theo­reme: Rund­funk nicht mehr nur als ein­ka­na­lige lineare Aus­strah­lung und Ver­laut­ba­rung einer Zen­tral­re­dak­tion an viele, son­dern – fast im viel­zi­tier­ten Sinne Brechts – als wech­sel­sei­tige, mehr­ka­na­lige Interaktion.

Aller­dings durfte diese Inter­ak­tion nicht zur Beein­träch­ti­gung der Unab­hän­gig­keit bei­der Instan­zen füh­ren. Bei­der­sei­tige Sou­ve­rä­ni­tät war und ist der Garant für die Qua­li­tät der Kul­tur­part­ner­schaf­ten. Bei der Grün­dung der WDR 3 Kul­tur­part­ner­schaf­ten habe ich des­halb sehr früh fest­ge­hal­ten: „Es kann durch­aus vor­kom­men, dass wir eine Ver­an­stal­tung, auf die wir in unse­ren Spots hin­ge­wie­sen haben, in einer Rezen­sion stark kri­ti­sie­ren“. Und der dama­lige WDR-Inten­dant Fritz Pleit­gen noch schär­fer: „Part­ner­schaft bedeu­tet für den WDR nicht Pro­pa­ganda, son­dern erhöhte  Auf­merk­sam­keit … Wenn es not­wen­dig ist, wer­den Ver­an­stal­tun­gen von WDR 3 Kul­tur­part­nern auch kräf­tig verrissen“.

Heute sind lan­des­be­zo­gene „Kul­tur­part­ner­schaf­ten“ nahezu ein Stan­dard bei den Kul­tur­ra­dios der ARD. Fast alle deut­schen Kul­tur­ra­dios haben den Begriff „Kul­tur­part­ner“ über­nom­men und sind Bezie­hun­gen mit diver­sen Kul­tur­ein­rich­tun­gen ihres Sen­de­ge­biets ein­ge­gan­gen. Kein ande­res Medium, so habe ich immer für die­ses Prin­zip gewor­ben, erreicht das Publi­kum der Kul­tur­in­ter­es­sier­ten brei­ter und zugleich ziel­ge­nauer als das Kul­tur­ra­dio. Es ist im bes­ten Falle ein lan­des­wei­tes Feuil­le­ton und wird diese Funk­tion umso mehr ein­neh­men, je weni­ger Presse und Netz die regio­nale Kul­tur in den Fokus nehmen.

Kul­tur­ra­dio als Produzent

Neben ihrer Funk­tion als Kul­tur­ver­mitt­ler (Bericht­erstat­tung) und als Kul­tur­ver­net­zer (Part­ner­schaft) haben die Kul­tur­ra­dios der ARD eine erheb­li­che Bedeu­tung als Kul­tur­trä­ger ihrer Län­der. Je nach Größe ihrer Etats pro­du­zie­ren sie ein enor­mes Quan­tum an anspruchs­vol­len Musik- und Wortsendungen.

In NRW ist die Kul­tur­ab­tei­lung des WDR der größte Auf­trag­ge­ber für die Kul­tur­wirt­schaft des Lan­des. Gleich­zei­tig ist der WDR der aktivste Kon­zert­ver­an­stal­ter in NRW. Addiert man die Kon­zert­mit­schnitte des Kul­tur­ra­dios WDR 3 und die Eigen­kon­zerte der WDR Klang­kör­per, deren Sen­de­platt­form das Kul­tur­ra­dio ist, kom­men 250 bis 300 Kon­zert­aus­strah­lun­gen jähr­lich zusam­men. Ori­gi­nal­mit­schnitte wohl­ge­merkt! Keine Kon­ser­ven oder CD-Produktionen!

Noch sin­gu­lä­rer ist die Leis­tung der Kul­tur­ra­dios im Bereich des anspruchs­vol­len Worts, z. B. der Hör­spiel- und der Fea­ture-Pro­duk­tio­nen. Hier gibt es kein Äqui­va­lent auf dem deut­schen Markt. Zwar hat die Zahl der Eigen­pro­duk­tio­nen der Hör­buch-Ver­lage zuge­nom­men, aber die Mehr­heit der anspruchs­vol­len Hör­spiel­pro­duk­tio­nen und vor allem der doku­men­ta­ri­schen Fea­ture-Pro­duk­tio­nen stammt nach wie vor aus den Stu­dios der ARD.

Diese Pro­du­zen­ten­rolle steht in direk­ter Abhän­gig­keit von der Etat­aus­stat­tung der Lan­des­rund­funk­an­stal­ten. Je stär­ker die Gebüh­ren­schraube ange­zo­gen wird, desto gerin­ger wer­den die Mit­tel, die nach Abzug der nicht beein­fluss­ba­ren Kos­ten für Pro­gramm und Pro­duk­tion übrig blei­ben. Sta­gniert das Gesamt­bud­get, redu­zie­ren sich bei stei­gen­den Fix­kos­ten auto­ma­tisch die fle­xi­blen Pro­gramm­mit­tel. Und damit auch die Ange­bote für die Kultur.

Kul­tur­ra­dio und Kulturpolitik

Der Begriff „Kul­tur­ra­dio“ war noch nicht als Mar­ken­name gebräuch­lich, als ich 1999 das „Kul­tur­er­eig­nis“ WDR 3
zu lei­ten begann. Im Gegen­teil: Es gab erheb­li­che Berüh­rungs­ängste vie­ler Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, die ihr Pro­gramm nicht auf „Kul­tur“ redu­zie­ren las­sen woll­ten. Zu Recht! Wir haben in WDR 3 inten­sive Dis­kus­sio­nen über den Kul­tur­be­griff geführt und immer wie­der über die not­wen­dige Aus­wei­tung des Kul­tur­be­griffs debat­tiert: Selbst­ver­ständ­lich ist Poli­tik ein wesent­li­cher Bestand­teil der Kul­tur. Und umge­kehrt sollte Kul­tur ein zen­tra­ler Bestand­teil der Poli­tik sein! Aber auf bei­den Sei­ten fehlt(e) es deut­lich an „Inte­gra­tion“.

2003 haben wir für WDR 3 erst­mals einen aus­führ­li­chen Leit­fa­den für das Pro­gramm ent­wi­ckelt. Darin hieß es unter anderem:

  • WDR 3 reflek­tiert das Zeit­ge­sche­hen aus der Sicht der Kultur.
  • WDR 3 spie­gelt das kul­tu­relle Leben in Nordrhein-Westfalen.
  • WDR 3 ist Mit­ge­stal­ter des kul­tu­rel­len Lebens in Nordrhein-Westfalen.

Im glei­chen Jahr ent­stand das „Kul­tur­po­li­ti­sche Forum WDR 3“, eine Koope­ra­tion des Lan­des­sen­ders mit sei­nen Kul­tur­part­nern. Die Kul­tur­part­ner stel­len die Ver­an­stal­tungs­orte, WDR 3 lie­fert Mode­ra­tion und Tech­nik. Anfäng­lich wur­den zwölf Foren pro Jahr ver­an­stal­tet. Spä­ter wur­den es über 40 jähr­lich. Bis heute sind ins­ge­samt mehr als 700 kul­tur­po­li­ti­sche Dis­kus­si­ons­sen­dun­gen entstanden.

Kul­tur­ra­dio­funk­tio­nen heute

Das „Kul­tur­ra­dio“ ist heute eine feste Marke in Deutsch­land, ebenso wie die „Kul­tur­part­ner­schaf­ten“. Zusätz­lich gehört es zu den wesent­li­chen Merk­ma­len heu­ti­ger Kul­tur­ra­dios, große Flä­chen für die Kul­tur­be­richt­erstat­tung bereit­zu­hal­ten und hoch­qua­li­ta­tive Eigen­pro­duk­tio­nen her­zu­stel­len und aus­zu­strah­len. Inso­fern kön­nen wir aktu­ell drei grund­le­gende Funk­tio­nen der ARD-Kul­tur­ra­dios in Deutsch­land festhalten:

  • Die Funk­tion als Kul­tur­ver­mitt­ler durch regio­nale und natio­nale Berichterstattung,
  • die Funk­tion als Kul­tur­trä­ger durch Pro­duk­tion und Kopro­duk­tion anspruchs­vol­ler Musik- und Wort­sen­dun­gen und
  • die Funk­tion als Kul­tur­ver­net­zer durch Her­stel­lung von Part­ner­schaf­ten und Bereit­stel­lung von Platt­for­men für die Kul­tur­ein­rich­tun­gen der jewei­li­gen Länder.

Wenn es dem Kul­tur­ra­dio gelingt, diese Funk­tio­nen sinn­ge­recht zu erhal­ten, wird es ihm auch in Zukunft nicht an Unter­stüt­zung und Zuspruch feh­len. Vor­aus­set­zung dafür ist die Öff­nung und Nut­zung aller Aus­spiel­wege in der linea­ren und der non-linea­ren Medienwelt.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 11/2021.

Von |2021-11-05T13:02:32+01:00November 5th, 2021|Medien|Kommentare deaktiviert für

Das Kul­tur­ra­dio

Zur Bedeu­tung und Geschichte in Deutschland

Karl Karst ist Kulturbeauftragter des WDR-Intendanten und Vertreter der ARD im Deutschen Kulturrat.