„Anti­se­mi­tis­mus ist keine Meinung!“

Aus­züge aus der Dan­kes­rede zur Ver­lei­hung des Deut­schen Kul­tur­po­li­tik­prei­ses 2021

Im Som­mer die­ses Jah­res bin ich an einem Sonn­tag nach Gleus­dorf gefah­ren. Die­ser Name wird den meis­ten von Ihnen nichts sagen. Gleus­dorf ist ein 200-See­len-Ort in Unter­fran­ken. Dort wurde die ehe­ma­lige Syn­agoge restau­riert und neu­ge­stal­tet als Lern- und Begeg­nungs­ort, was an jenem Sonn­tag im Juni mit einer Fei­er­stunde gewür­digt wurde.

Sie wer­den sich viel­leicht fra­gen, warum mir so ein klei­nes Dorf mit sei­ner alten Syn­agoge so wich­tig ist, dass ich dafür mei­nen freien Tag hergebe.

Mal abge­se­hen davon, dass Fran­ken meine Hei­mat ist, liegt mir der Erhalt sol­cher kul­tu­rel­len Spu­ren sehr am Her­zen. Im 18. und 19. Jahr­hun­dert hatte Unter­fran­ken die höchste Dichte an jüdi­schen Gemein­den in ganz Deutsch­land. Das frän­ki­sche Land­ju­den­tum spielt in der Geschichte Bay­erns eine wich­tige Rolle.

Und ich bin sehr froh, dass in sehr vie­len Orten die frü­he­ren Syn­ago­gen, jüdi­schen Schu­len und Mik­wen, also die Ritu­al­bä­der, restau­riert wor­den sind.

Das ist für mich auch Kul­tur­po­li­tik. Ich halte sie für ebenso wich­tig, wie die Kul­tur­po­li­tik auf Bun­des- oder auf inter­na­tio­na­ler Ebene. Denn ich bin über­zeugt, dass wir mit sol­chen loka­len Initia­ti­ven viele Bür­ger errei­chen kön­nen, die nicht regel­mä­ßig das Feuil­le­ton der „FAZ“ oder der „Zeit“ lesen und an denen geschichts­po­li­ti­sche Debat­ten völ­lig vorbeigehen.

Eine leben­dige Erin­ne­rungs­kul­tur und – was mir noch wich­ti­ger ist – ein gutes Zusam­men­le­ben von Juden und Nicht­ju­den wird uns nur gelin­gen, wenn Wis­sen über die deut­sche Geschichte und über das gegen­wär­tige jüdi­sche Leben auch bei Men­schen ohne aka­de­mi­sche Bil­dung vor­han­den ist. Und zwar in jeder Generation!

Das der­zeit lau­fende Fest­jahr zu „1700 Jahre jüdi­sches Leben in Deutsch­land“ leis­tet dazu einen wich­ti­gen Bei­trag. Es ist nicht nur so, dass im Rah­men die­ses Fest­jah­res sehr viele Ver­an­stal­tun­gen statt­fin­den. Son­dern es zieht auch eine inten­sive Bericht­erstat­tung in den Medien nach sich. Gerade im öffent­lich-recht­li­chen Rund­funk wird eine Fülle von Sen­dun­gen zum jüdi­schen Leben angeboten.

Die Medien wer­den jedoch seit eini­gen Jah­ren sys­te­ma­tisch schlecht gere­det und ange­grif­fen. Das Rechts­au­ßen­la­ger bezich­tigt sie der Lüge oder for­dert eine Gesin­nungs­über­prü­fung von „Tagesschau“-Redakteuren. Repor­ter wer­den auf Quer­den­ker-Demos ange­grif­fen. Diese Ent­wick­lung finde ich sehr besorg­nis­er­re­gend. Und daher möchte ich an die­ser Stelle ein­mal aus­drück­lich die Medien loben. Es gibt sehr viel ver­ant­wor­tungs­volle und auf­klä­re­ri­sche Arbeit. Es muss unser aller Anlie­gen sein, die unab­hän­gige Presse zu stär­ken und sie vor fal­schen Anschul­di­gun­gen zu schüt­zen! Wir dür­fen nicht zulas­sen, dass die Pres­se­frei­heit von den Geg­nern der Demo­kra­tie unter­gra­ben wird!

Nach mei­nem kur­zen gedank­li­chen Aus­flug ins kleine Gleus­dorf möchte ich noch auf zwei sozu­sa­gen große kul­tur­po­li­ti­sche Debat­ten eingehen.

Wenige Meter von hier ent­fernt steht in sei­ner gan­zen wil­hel­mi­ni­schen Pracht das neu eröff­nete Hum­boldt Forum. Ich bin weder Eth­no­loge noch Experte für Post­ko­lo­nia­lis­mus. Daher möchte ich es mir auch nicht anma­ßen, über die Aus­stel­lung oder über ein­zelne Expo­nate im Hum­boldt Forum zu urtei­len. Gene­rell halte ich es für gut, dass in Deutsch­land seit eini­ger Zeit inten­si­ver und selbst­kri­tisch über die Kolo­ni­al­zeit und deren Fol­gen debat­tiert wird. Denn in unse­rem Land gibt es bis heute Ras­sis­mus in vie­len For­men. Und es ist wich­tig, die his­to­ri­schen Bezüge zu ken­nen, wenn wir ihn bekämp­fen wollen.

In der wis­sen­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung mit den Ver­bre­chen der Kolo­ni­al­zeit wird aller­dings ver­stärkt der Ver­gleich gezo­gen zur Auf­ar­bei­tung und Bedeu­tung der Shoah. Dies halte ich zum Teil für pro­ble­ma­tisch und gefähr­lich. Pro­ble­ma­tisch und nicht akzep­ta­bel wird es für mich, wenn bei Post­ko­lo­nia­lis­ten zwi­schen den Zei­len die For­de­rung nach einem Schluss­strich unter die NS-Zeit mit­schwingt. Das scheint mir mit­un­ter der Fall zu sein, wenn der Vor­wurf erho­ben wird, die Deut­schen beschäf­tig­ten sich viel zu viel mit der Shoah und diese habe so etwas wie einen Allein­ver­tre­tungs­an­spruch in unse­rer Erinnerungskultur.

Es fehlt dann eigent­lich nur, dass der Begriff des „Schuld­kul­tes“ fiele, der unter Rechts­extre­mis­ten seit Jah­ren eta­bliert ist. Auf jeden Fall rückt die Debatte dann in gefähr­li­che Nähe zum sekun­dä­ren Anti­se­mi­tis­mus, bei dem uns Juden vor­ge­wor­fen wird, wir zögen Vor­teile aus den Schuld­ge­füh­len und dem schlech­ten Gewis­sen der Deutschen.

Auch die pole­mi­sche These des aus­tra­li­schen His­to­ri­kers Dirk A. Moses, die Annahme von der Sin­gu­la­ri­tät oder der Prä­ze­denz­lo­sig­keit des Holo­causts sei zum „Kate­chis­mus“ der Deut­schen gewor­den, sehe ich pro­ble­ma­tisch. Aus­ge­rech­net einen solch christ­lich gepräg­ten Begriff wählt der His­to­ri­ker für sei­nen Fron­tal­an­griff. Ebenso beklagt er vor­ge­ge­bene „Sprach­codes“.

Gerade die Post­ko­lo­nia­lis­ten for­dern kul­tu­relle Sen­si­bi­li­tät und Respekt ein. Dann darf ich das umge­kehrt aber auch von ihnen erwar­ten! Vor allem aber erwarte ich von Wis­sen­schaft­lern ein hohes Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein. Wenn sie sich beru­fen füh­len, von außen über die deut­sche Erin­ne­rungs­kul­tur und unse­ren Umgang mit der NS-Zeit zu urtei­len – und das sol­len sie ruhig tun – dann soll­ten sie auch beach­ten, in wel­chen aktu­el­len Kon­text ihre Aus­sa­gen fal­len. Bei uns sit­zen Abge­ord­nete im Deut­schen Bun­des­tag, die dar­aus sofort einen Frei­brief zur Rela­ti­vie­rung der NS-Ver­bre­chen lesen. Sie betrach­ten den Natio­nal­so­zia­lis­mus ohne­hin nur als „Vogel­schiss“. Sehr gerne wird von die­sen Poli­ti­kern von Rechts­au­ßen auch behaup­tet, es gebe Sprech­ver­bote in Deutschland.

Ich möchte – um das ganz klar zu stel­len – kei­nem Wis­sen­schaft­ler in die­ser Debatte unter­stel­len, Rechts­extre­mis­ten nahe zu ste­hen. Das wäre völ­lig absurd. Doch alle, die Auf­sätze ver­brei­ten und die Feuil­le­tons fül­len mit der Infra­ge­stel­lung unse­res Umgangs mit der Shoah und der Nazi-Zeit soll­ten sich auch dar­über Gedan­ken machen, wie ihre The­sen gele­sen wer­den kön­nen, wie die aktu­elle poli­ti­sche Lage in Deutsch­land ist.

In Wahr­heit kön­nen wir doch gar nicht mehr davon spre­chen, dass die Erin­ne­rung an die Shoah über die Gene­ra­tio­nen hin­weg gepflegt wird oder die Frage der Sin­gu­la­ri­tät des Holo­causts im all­ge­mei­nen Bewusst­sein ist.

Viel­mehr ste­hen wir vor der Her­aus­for­de­rung, eine Erin­ne­rungs­kul­tur zu ent­wi­ckeln, die junge Men­schen erreicht, für die das Gesche­hen inzwi­schen sehr weit weg ist. Es gibt immer weni­ger Zeit­zeu­gen, in den Fami­lien ist die Ver­stri­ckung der Urgroß­el­tern in die NS-Zeit kein Thema mehr, und jun­gen Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund müs­sen wir ohne­hin einen neuen Zugang zu die­sem Teil der deut­schen Geschichte eröffnen.

Die Auf­ar­bei­tung der NS-Ver­gan­gen­heit muss in jeder Gene­ra­tion neu geleis­tet wer­den. Einen Schluss­strich zu zie­hen oder die Bedeu­tung der Shoah zu rela­ti­vie­ren, weil sonst angeb­lich andere Geschichts­epo­chen zu wenig reflek­tiert wür­den – das wäre fatal!

Das feh­lende his­to­ri­sche Wis­sen ist ein Grund, warum wir – gerade im Zuge der Coro­na­pan­de­mie – mit einem wach­sen­den Anti­se­mi­tis­mus zu kämp­fen haben. Und das man­gelnde his­to­ri­sche Wis­sen ist mei­nes Erach­tens auch einer der Gründe, warum die Poli­tik Isra­els hier­zu­lande häu­fig falsch bewer­tet wird.

Zum Schluss möchte ich noch ein Thema kurz anschnei­den: die isra­el­feind­li­che Boy­kott­be­we­gung BDS und die Hal­tung von Tei­len des Kul­tur­be­triebs zu die­ser Bewe­gung. Denn auch hier fehlt mir bei eini­gen Kul­tur­schaf­fen­den und Ver­tre­tern von Kul­tur-Insti­tu­tio­nen ein ange­mes­se­nes Verantwortungsbewusstsein.

Der Bun­des­tag hat 2020 frak­ti­ons­über­grei­fend einen Beschluss gefasst, in dem die Boy­kott­be­we­gung kri­tisch beleuch­tet wird. Ihre Metho­den und Argu­men­ta­ti­ons­mus­ter wer­den zu Recht als anti­se­mi­tisch ein­ge­stuft. Zudem for­derte der Bun­des­tag, der BDS-Bewe­gung keine Räume oder finan­zi­elle Unter­stüt­zung zu gewähr­leis­ten. Recht­lich bin­dend ist die­ser Beschluss für Län­der und Kom­mu­nen nicht. Den­noch nah­men Ende ver­gan­ge­nen Jah­res Ver­tre­ter von gro­ßen deut­schen Kul­tur­ein­rich­tun­gen den Beschluss zum Anlass, um eine Ein­schrän­kung der Mei­nungs­frei­heit zu bekla­gen. Die „Initia­tive GG 5.3 Welt­of­fen­heit“ warnte vor einer Ein­schrän­kung der Kunst- und Wis­sen­schafts­frei­heit durch eine miss­bräuch­li­che Ver­wen­dung des Anti­se­mi­tis­mus­vor­wurfs. Sie ver­säumte es aller­dings zu beschrei­ben, wie häu­fig bereits israe­li­sche Künst­ler benach­tei­ligt sind durch das Agie­ren der BDS-Bewe­gung. Auch der wirk­lich empö­rende Vor­fall, als BDS-Akti­vis­ten eine Ver­an­stal­tung mit einer Shoah-Über­le­ben­den in der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Ber­lin stör­ten, floss in die Gedan­ken der Erklä­rung offen­bar nicht ein.

Wenn sich Künst­ler, Wis­sen­schaft­ler oder andere Intel­lek­tu­elle der BDS-Bewe­gung anschlie­ßen oder dafür plä­die­ren, dass Israe­lis irgendwo aus­ge­la­den wer­den, nur weil sie jüdi­sche Israe­lis sind – dann müs­sen sie es auch ertra­gen, dass ihre Hal­tung als das benannt wird, was sie ist: anti­se­mi­tisch. Das hat mit einer Ein­schrän­kung der Mei­nungs­frei­heit nichts zu tun, denn Anti­se­mi­tis­mus ist keine Meinung!

Der Duk­tus der Erklä­rung sug­ge­rierte jedoch, dass in Deutschland
die Mei­nungs­frei­heit ein­ge­schränkt werde und ein Tabu bestehe, Isra­els Poli­tik zu kri­ti­sie­ren. Das Plä­doyer spielte damit – ver­mut­lich unge­wollt – radi­ka­len Kräf­ten in die Hände, die die Mär einer ver­meint­li­chen „Mei­nungs­dik­ta­tur“ seit Lan­gem ver­brei­ten. Es ist daher geeig­net, ein gesell­schaft­li­ches Klima zu schaf­fen, in dem anti­se­mi­ti­sche Posi­tio­nen als legi­tim betrach­tet werden.

Wenn Lei­ter renom­mier­ter Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen sol­che Erklä­run­gen ver­fas­sen, wer­den sie mei­ner Mei­nung nach damit ihrer gesell­schaft­li­chen Ver­ant­wor­tung nicht gerecht. Sie soll­ten viel­mehr den anti­de­mo­kra­ti­schen Kräf­ten in unse­rem Land ent­ge­gen­wir­ken. Denn es geht darum, wie es um unsere poli­ti­sche Kul­tur in Deutsch­land bestellt ist. Und so wie die Auf­ar­bei­tung der NS-Zeit immer wie­der neu geleis­tet wer­den muss, und so wie wir unsere Erin­ne­rungs­kul­tur immer wie­der neu erar­bei­ten müs­sen, so gilt es auch, die demo­kra­ti­schen Grund­rechte immer wie­der neu zu verteidigen.

Eines ist jedoch ein Fakt: Dass wir so inten­siv sol­che Debat­ten, wie die von mir erwähn­ten, öffent­lich füh­ren kön­nen, zeigt ja gerade, wie gut es um unsere Mei­nungs- und Pres­se­frei­heit bestellt ist. Daher konnte auch ich mir heute Abend die Frei­heit neh­men, meine Gedan­ken die­sen Debat­ten hinzuzufügen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 11/2021.

Von |2021-11-05T16:02:17+01:00November 5th, 2021|Religiöse Vielfalt|Kommentare deaktiviert für

„Anti­se­mi­tis­mus ist keine Meinung!“

Aus­züge aus der Dan­kes­rede zur Ver­lei­hung des Deut­schen Kul­tur­po­li­tik­prei­ses 2021

Josef Schuster ist Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland und Preisträger des Deutschen Kulturpolitikpreises 2021 des Deutschen Kulturrates.