Josef Schuster 5. November 2021 Logo_Initiative_print.png

„Anti­se­mi­tis­mus ist keine Meinung!“

Aus­züge aus der Dan­kes­rede zur Ver­lei­hung des Deut­schen Kul­tur­po­li­tik­prei­ses 2021

Im Sommer dieses Jahres bin ich an einem Sonntag nach Gleusdorf gefahren. Dieser Name wird den meisten von Ihnen nichts sagen. Gleusdorf ist ein 200-Seelen-Ort in Unterfranken. Dort wurde die ehemalige Synagoge restauriert und neugestaltet als Lern- und Begegnungsort, was an jenem Sonntag im Juni mit einer Feierstunde gewürdigt wurde.

Sie werden sich vielleicht fragen, warum mir so ein kleines Dorf mit seiner alten Synagoge so wichtig ist, dass ich dafür meinen freien Tag hergebe.

Mal abgesehen davon, dass Franken meine Heimat ist, liegt mir der Erhalt solcher kulturellen Spuren sehr am Herzen. Im 18. und 19. Jahrhundert hatte Unterfranken die höchste Dichte an jüdischen Gemeinden in ganz Deutschland. Das fränkische Landjudentum spielt in der Geschichte Bayerns eine wichtige Rolle.

Und ich bin sehr froh, dass in sehr vielen Orten die früheren Synagogen, jüdischen Schulen und Mikwen, also die Ritualbäder, restauriert worden sind.

Das ist für mich auch Kulturpolitik. Ich halte sie für ebenso wichtig, wie die Kulturpolitik auf Bundes- oder auf internationaler Ebene. Denn ich bin überzeugt, dass wir mit solchen lokalen Initiativen viele Bürger erreichen können, die nicht regelmäßig das Feuilleton der „FAZ“ oder der „Zeit“ lesen und an denen geschichtspolitische Debatten völlig vorbeigehen.

Eine lebendige Erinnerungskultur und – was mir noch wichtiger ist – ein gutes Zusammenleben von Juden und Nichtjuden wird uns nur gelingen, wenn Wissen über die deutsche Geschichte und über das gegenwärtige jüdische Leben auch bei Menschen ohne akademische Bildung vorhanden ist. Und zwar in jeder Generation!

Das derzeit laufende Festjahr zu „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Es ist nicht nur so, dass im Rahmen dieses Festjahres sehr viele Veranstaltungen stattfinden. Sondern es zieht auch eine intensive Berichterstattung in den Medien nach sich. Gerade im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wird eine Fülle von Sendungen zum jüdischen Leben angeboten.

Die Medien werden jedoch seit einigen Jahren systematisch schlecht geredet und angegriffen. Das Rechtsaußenlager bezichtigt sie der Lüge oder fordert eine Gesinnungsüberprüfung von „Tagesschau“-Redakteuren. Reporter werden auf Querdenker-Demos angegriffen. Diese Entwicklung finde ich sehr besorgniserregend. Und daher möchte ich an dieser Stelle einmal ausdrücklich die Medien loben. Es gibt sehr viel verantwortungsvolle und aufklärerische Arbeit. Es muss unser aller Anliegen sein, die unabhängige Presse zu stärken und sie vor falschen Anschuldigungen zu schützen! Wir dürfen nicht zulassen, dass die Pressefreiheit von den Gegnern der Demokratie untergraben wird!

Nach meinem kurzen gedanklichen Ausflug ins kleine Gleusdorf möchte ich noch auf zwei sozusagen große kulturpolitische Debatten eingehen.

Wenige Meter von hier entfernt steht in seiner ganzen wilhelminischen Pracht das neu eröffnete Humboldt Forum. Ich bin weder Ethnologe noch Experte für Postkolonialismus. Daher möchte ich es mir auch nicht anmaßen, über die Ausstellung oder über einzelne Exponate im Humboldt Forum zu urteilen. Generell halte ich es für gut, dass in Deutschland seit einiger Zeit intensiver und selbstkritisch über die Kolonialzeit und deren Folgen debattiert wird. Denn in unserem Land gibt es bis heute Rassismus in vielen Formen. Und es ist wichtig, die historischen Bezüge zu kennen, wenn wir ihn bekämpfen wollen.

In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Kolonialzeit wird allerdings verstärkt der Vergleich gezogen zur Aufarbeitung und Bedeutung der Shoah. Dies halte ich zum Teil für problematisch und gefährlich. Problematisch und nicht akzeptabel wird es für mich, wenn bei Postkolonialisten zwischen den Zeilen die Forderung nach einem Schlussstrich unter die NS-Zeit mitschwingt. Das scheint mir mitunter der Fall zu sein, wenn der Vorwurf erhoben wird, die Deutschen beschäftigten sich viel zu viel mit der Shoah und diese habe so etwas wie einen Alleinvertretungsanspruch in unserer Erinnerungskultur.

Es fehlt dann eigentlich nur, dass der Begriff des „Schuldkultes“ fiele, der unter Rechtsextremisten seit Jahren etabliert ist. Auf jeden Fall rückt die Debatte dann in gefährliche Nähe zum sekundären Antisemitismus, bei dem uns Juden vorgeworfen wird, wir zögen Vorteile aus den Schuldgefühlen und dem schlechten Gewissen der Deutschen.

Auch die polemische These des australischen Historikers Dirk A. Moses, die Annahme von der Singularität oder der Präzedenzlosigkeit des Holocausts sei zum „Katechismus“ der Deutschen geworden, sehe ich problematisch. Ausgerechnet einen solch christlich geprägten Begriff wählt der Historiker für seinen Frontalangriff. Ebenso beklagt er vorgegebene „Sprachcodes“.

Gerade die Postkolonialisten fordern kulturelle Sensibilität und Respekt ein. Dann darf ich das umgekehrt aber auch von ihnen erwarten! Vor allem aber erwarte ich von Wissenschaftlern ein hohes Verantwortungsbewusstsein. Wenn sie sich berufen fühlen, von außen über die deutsche Erinnerungskultur und unseren Umgang mit der NS-Zeit zu urteilen – und das sollen sie ruhig tun – dann sollten sie auch beachten, in welchen aktuellen Kontext ihre Aussagen fallen. Bei uns sitzen Abgeordnete im Deutschen Bundestag, die daraus sofort einen Freibrief zur Relativierung der NS-Verbrechen lesen. Sie betrachten den Nationalsozialismus ohnehin nur als „Vogelschiss“. Sehr gerne wird von diesen Politikern von Rechtsaußen auch behauptet, es gebe Sprechverbote in Deutschland.

Ich möchte – um das ganz klar zu stellen – keinem Wissenschaftler in dieser Debatte unterstellen, Rechtsextremisten nahe zu stehen. Das wäre völlig absurd. Doch alle, die Aufsätze verbreiten und die Feuilletons füllen mit der Infragestellung unseres Umgangs mit der Shoah und der Nazi-Zeit sollten sich auch darüber Gedanken machen, wie ihre Thesen gelesen werden können, wie die aktuelle politische Lage in Deutschland ist.

In Wahrheit können wir doch gar nicht mehr davon sprechen, dass die Erinnerung an die Shoah über die Generationen hinweg gepflegt wird oder die Frage der Singularität des Holocausts im allgemeinen Bewusstsein ist.

Vielmehr stehen wir vor der Herausforderung, eine Erinnerungskultur zu entwickeln, die junge Menschen erreicht, für die das Geschehen inzwischen sehr weit weg ist. Es gibt immer weniger Zeitzeugen, in den Familien ist die Verstrickung der Urgroßeltern in die NS-Zeit kein Thema mehr, und jungen Menschen mit Migrationshintergrund müssen wir ohnehin einen neuen Zugang zu diesem Teil der deutschen Geschichte eröffnen.

Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit muss in jeder Generation neu geleistet werden. Einen Schlussstrich zu ziehen oder die Bedeutung der Shoah zu relativieren, weil sonst angeblich andere Geschichtsepochen zu wenig reflektiert würden – das wäre fatal!

Das fehlende historische Wissen ist ein Grund, warum wir – gerade im Zuge der Coronapandemie – mit einem wachsenden Antisemitismus zu kämpfen haben. Und das mangelnde historische Wissen ist meines Erachtens auch einer der Gründe, warum die Politik Israels hierzulande häufig falsch bewertet wird.

Zum Schluss möchte ich noch ein Thema kurz anschneiden: die israelfeindliche Boykottbewegung BDS und die Haltung von Teilen des Kulturbetriebs zu dieser Bewegung. Denn auch hier fehlt mir bei einigen Kulturschaffenden und Vertretern von Kultur-Institutionen ein angemessenes Verantwortungsbewusstsein.

Der Bundestag hat 2020 fraktionsübergreifend einen Beschluss gefasst, in dem die Boykottbewegung kritisch beleuchtet wird. Ihre Methoden und Argumentationsmuster werden zu Recht als antisemitisch eingestuft. Zudem forderte der Bundestag, der BDS-Bewegung keine Räume oder finanzielle Unterstützung zu gewährleisten. Rechtlich bindend ist dieser Beschluss für Länder und Kommunen nicht. Dennoch nahmen Ende vergangenen Jahres Vertreter von großen deutschen Kultureinrichtungen den Beschluss zum Anlass, um eine Einschränkung der Meinungsfreiheit zu beklagen. Die „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ warnte vor einer Einschränkung der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit durch eine missbräuchliche Verwendung des Antisemitismusvorwurfs. Sie versäumte es allerdings zu beschreiben, wie häufig bereits israelische Künstler benachteiligt sind durch das Agieren der BDS-Bewegung. Auch der wirklich empörende Vorfall, als BDS-Aktivisten eine Veranstaltung mit einer Shoah-Überlebenden in der Humboldt-Universität zu Berlin störten, floss in die Gedanken der Erklärung offenbar nicht ein.

Wenn sich Künstler, Wissenschaftler oder andere Intellektuelle der BDS-Bewegung anschließen oder dafür plädieren, dass Israelis irgendwo ausgeladen werden, nur weil sie jüdische Israelis sind – dann müssen sie es auch ertragen, dass ihre Haltung als das benannt wird, was sie ist: antisemitisch. Das hat mit einer Einschränkung der Meinungsfreiheit nichts zu tun, denn Antisemitismus ist keine Meinung!

Der Duktus der Erklärung suggerierte jedoch, dass in Deutschland
die Meinungsfreiheit eingeschränkt werde und ein Tabu bestehe, Israels Politik zu kritisieren. Das Plädoyer spielte damit – vermutlich ungewollt – radikalen Kräften in die Hände, die die Mär einer vermeintlichen „Meinungsdiktatur“ seit Langem verbreiten. Es ist daher geeignet, ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem antisemitische Positionen als legitim betrachtet werden.

Wenn Leiter renommierter Kulturinstitutionen solche Erklärungen verfassen, werden sie meiner Meinung nach damit ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht. Sie sollten vielmehr den antidemokratischen Kräften in unserem Land entgegenwirken. Denn es geht darum, wie es um unsere politische Kultur in Deutschland bestellt ist. Und so wie die Aufarbeitung der NS-Zeit immer wieder neu geleistet werden muss, und so wie wir unsere Erinnerungskultur immer wieder neu erarbeiten müssen, so gilt es auch, die demokratischen Grundrechte immer wieder neu zu verteidigen.

Eines ist jedoch ein Fakt: Dass wir so intensiv solche Debatten, wie die von mir erwähnten, öffentlich führen können, zeigt ja gerade, wie gut es um unsere Meinungs- und Pressefreiheit bestellt ist. Daher konnte auch ich mir heute Abend die Freiheit nehmen, meine Gedanken diesen Debatten hinzuzufügen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2021.

Copyright: Alle Rechte bei Initiative kulturelle Integration

Adresse: https://www.kulturelle-integration.de/2021/11/05/antisemitismus-ist-keine-meinung/