Rudi Dutschke, die Symbolfigur der 68er-Bewegung, verstand sich als Revolutionär, dem alles Politik war. Ihn zu vergleichen mit einem Entertainer der 2020er Jahre, der überwiegend Musik- und Spaßvideos im Netz veröffentlicht, ist eigentlich nicht möglich. Oder doch?
Dutschke zitierte oft den Satz von Karl Marx aus dessen Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie: „Es reicht nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen.“
Die Dualität von Idee und Notwendigkeit braucht, um Praxis zu werden, als drittes Element aber auch besondere Akteure, die einen solchen Prozess vorantreiben. Diese Menschen müssen zur Analyse der auf Veränderung drängenden Verhältnisse in der Lage sein, sie müssen fähig sein, notwendige Konsequenzen zu formulieren, und sie müssen Reichweite erzielen, weit über das eigene Lager hinaus.
Es ist diese dritte Eigenschaft, die Analytiker und Strategen unterscheidet von Symbolfiguren, die Hoffnungsträger und Projektionsflächen gleichermaßen sind, denen Menschen zuhören und sich auch emotional einlassen. Das muss nicht zwangsläufig Zustimmung bedeuten, auch heftige Ablehnung kann Berührtheit zum Ausdruck bringen.
Rudi Dutschke, der wortgewaltige Studentenführer, hat in seiner Zeit gesellschaftlich polarisiert wie kaum ein anderer. Von glühender Verehrung bis zu abgrundtiefem Hass reichte die Bandbreite – bis hin zum Attentat 1968, das Dutschke knapp überlebte, an dessen Spätfolgen er aber 1979 verstarb.
In der „zum Gedanken drängenden Wirklichkeit“ jener Zeit kumulierten nationale wie internationale Probleme: das Ende des Kolonialismus in Afrika, der Vietnamkrieg, die Große Koalition in der Bundesrepublik. Dabei sahen sich nur 50 FDP-Abgeordnete im Deutschen Bundestag einer überwältigenden Mehrheit von fast 500 Mandatsträgern der Regierungsparteien Union und SPD gegenüber.
Keine Sperrminorität, die Notstandsgesetze wurden mit großer Mehrheit beschlossen. Wo parlamentarische Opposition kaum existierte, wurde außerparlamentarische Opposition (APO) proklamiert, Dutschke war ihre Symbolfigur.
Und: 20 Jahre nach dem Ende Hitler-Deutschlands wurde thematisiert, dass im Staatsapparat der Bundesrepublik eine große Zahl hoher Amtsträger saß, deren Berufsbiografien im NS-Staat begonnen hatten. Nicht nur von ihnen, sondern generell von der Generation der Eltern forderten die 68er Auseinandersetzung mit ihrer Rolle und Verantwortung im NS-Staat.
Ganz sicher eine Zumutung für die ältere Generation, die überwiegend vergessen und verdrängen wollte, und auf die Fragen der Jugend nach Verantwortung und Aufklärung mit heftigen Gegenvorwürfen reagierte, die solche Abwehrmechanismen kennzeichnen. Damals wie heute.
Die Zeit war aber reif für solche selbstreflexive Aufklärung, ebenso wie sie reif war, traditionelle Strukturen des gesellschaftlichen Lebens zu hinterfragen: Vom klassischen Frauenbild über Bildungsinhalte und Erziehungsfragen bis hin zur Frage von Lebensgemeinschaften reichte der kulturelle Spannungsbogen, der von den 68ern infrage gestellt und mit eigenem Deutungsanspruch belegt wurde.
Rudi Dutschke artikulierte sich wesentlich als politischer Revolutionär, aber als Symbolfigur der Bewegung war er auch Träger und Projektionsfläche derjenigen, die die gesamte Architektur der gesellschaftlichen Verhältnisse kritisierten. Besonders in der Befragung der älteren Generation über ihre Verantwortung für die Verhältnisse, die Jüngere als Realität vorfanden, ist eine deutliche Parallele zu Rezos Videoanalysen zu erkennen – Parallele auch deswegen, weil beide, Rudi wie Rezo, Reichweite und Wirkung in gesellschaftliche Lager erziel(t)en, weit über die originäre eigene Klientel hinaus. Das verbindet sie, und das macht sie vergleichbar.
Dass Dutschke in seiner Erscheinung, mit wild-störrischen schwarzen Haaren, im selbstgestrickten Pullover dem Klischee eines „Revoluzzers“ ganz gewiss ebenso entsprach wie der meist gutgelaunte Musikproduzent Rezo mit blaugetönten Haaren dies nicht tut, spielt keine Rolle.
Entscheidend ist die Reichweite ihrer Analyse und Forderungen, die beide sorgfältig begründet und hochpolitisch waren bzw. sind: bei Dutschke die Frage an die Elterngeneration nach ihrer Verantwortung für das Jahrhundertverbrechen des deutschen Faschismus, bei Rezo die Frage an die Elterngeneration nach ihrer Verantwortung für Produktions- und Konsumformen, die die Ressourcen des Planeten in brutaler Weise überstrapazieren.
So wie Dutschke die Frage der Verantwortlichkeit verband mit der Kritik an den Strukturen und Organisationen derer, die in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Machtpositionen innehatten, richtet Rezo seine jüngste Video-Trilogie auf eben dieselben Felder: Verantwortlichkeit für die Klimakrise, politische (In)Kompetenz, Korruption – eine zeitgemäße Formulierung inhaltlich ähnlicher Kritik.
Dutschke erzielte seine Reichweite über direkte Aktionen auf der Straße, in Universitäten, auch vermittelt über klassische Medien. Rezo nutzt die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation: Die drei Videos, produziert knapp vor der Bundestagswahl, wurden in kurzer Zeit jeweils vier bis fünf Millionen Mal angesehen. Ein gewisses „Stammpublikum“ vorausgesetzt, lässt sich vermuten, dass insgesamt an die sechs Millionen Menschen erreicht wurden. Sekundäre Berichterstattung nicht berücksichtigt. Enorme Reichweite – weit über eine enge jugendkulturelle Szene hinaus.
Jenes Video, dass sich mit der Klimakrise befasste, adressierte Rezo explizit an die Generation der Eltern und Großeltern. Wissend, dass diese Generation die Bundestagswahlen entscheiden würde – knapp 40 Prozent der Wahlberechtigten sind 60 Jahre und älter. Bezeichnend, dass aus dieser Generation sowohl begeistertes Lob als auch aggressive Ablehnung folgten.
Diese Generation, das gilt 2021 so, wie es 1968 galt, ist in ihrer Gesamtheit am wenigsten zu gravierenden Veränderungen bereit. Das zeigte sich auch am Wahlabend: Die Zugewinne der SPD stammten zum größten Teil von früheren Unionswählern. Eingedenk der Schwerpunktsetzung in der letzten Phase des Wahlkampfs, in der die Scholz-SPD klimapolitische Notwendigkeit mit dem Versprechen sozialer Stabilität verband, dabei aber trotz ihrer Zugewinne im Saldo Stimmen an die Grünen abgab, ließe sich die These aufstellen: Die Generation der Älteren zu adressieren und sie in die Verantwortung zu nehmen für zukünftige Politik gegen den Klimawandel war ein politisch-mediales Kalkül, das sich im Ergebnis zwar nicht verbindlich quantifizieren lässt, aber: Falls die zukünftige Bundesregierung tatsächlich eine energischere Klimapolitik zum Programm macht, dann ist das auch das Ergebnis eines kritischen Diskurses, den der Mann mit den blauen Haaren lanciert und befördert hat.
So wie Willy Brandts programmatischer Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, ausgesprochen zu Beginn seiner Kanzlerschaft 1969, auch Ausdruck des Diskurses war, den die 68er und ihre Symbolfigur in die Gesellschaft getragen hatten. Insofern – vielleicht doch ein wenig: Rezo Dutschke.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2021.