Nicht wei­ter auf die lange Bank schieben

Inklu­sive Kul­tur­po­li­tik – alle Men­schen haben das glei­che Recht auf Kunst und Kultur

Laut Sta­tis­ti­schem Bun­des­amt gel­ten 9,5 Pro­zent der Gesamt­be­völ­ke­rung als schwer­be­hin­dert. Unter die­ser Kate­go­rie wer­den die­je­ni­gen nicht erfasst, die zwar eine Behin­de­rung haben, deren Schwe­re­grad aber nicht so groß ist, dass sie als schwer­be­hin­dert gel­ten. Der Begriff der Behin­de­rung ist in Sozi­al­ge­setz­buch IX defi­niert. Men­schen sind danach behin­dert, wenn sie eine kör­per­li­che, see­li­sche, geis­tige oder Sin­nes­be­ein­träch­ti­gung haben, die sie in Wech­sel­wir­kung mit ein­stel­lungs- und umwelt­be­ding­ten Bar­rie­ren an der gleich­be­rech­tig­ten Teil­habe an der Gesell­schaft mit hoher Wahr­schein­lich­keit län­ger als sechs Monate hin­dern kön­nen. Eine Beein­träch­ti­gung liegt dann vor, wenn der Kör­per- und Gesund­heits­zu­stand von dem für das Lebens­al­ter typi­schen Zustand abwei­chen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die genann­ten Beein­träch­ti­gun­gen ange­bo­ren, Fol­gen eines Unfalls oder einer Krank­heit sind. Eine Schwer­be­hin­de­rung liegt vor, wenn der Grad der Behin­de­rung über 50 liegt. Die Mehr­zahl der erwerbs­tä­ti­gen Schwer­be­hin­der­ten, fast 90 Pro­zent, hat die Behin­de­rung im Laufe des Berufs­le­bens erfahren.

Behin­de­rung oder auch Schwer­be­hin­de­rung gehen also jeden an. Eine Behin­de­rung ist kein bedau­er­li­cher Ein­zel­fall, son­dern kann jeden oder jede betreffen.

Umso erstaun­li­cher ist es, dass auch im Kul­tur- und Medi­en­be­reich Behin­de­rung immer noch eine rela­tiv geringe Rolle spielt. Natür­lich, es gibt die Pio­niere, die bereits vor Jahr­zehn­ten begon­nen haben, sich für die Belange von Men­schen mit Beein­träch­ti­gun­gen, so der viel­fach ver­wandte Begriff aus die­sem Kon­text, und deren Inklu­sion ein­zu­set­zen. Deren Arbeit kann nicht hoch genug ein­ge­schätzt wer­den. Viele Impulse zur Inklu­sion gin­gen ins­be­son­dere von­sei­ten der kul­tu­rel­len Bil­dung aus. Hier ging und geht es vor allem darum, Zugänge zu Kunst und Kul­tur und eige­nes Schaf­fen vor allem als Ama­teur zu ermöglichen.

Durch­gän­gig ange­kom­men ist das Thema aber noch nicht und vor allem man­gelt es an der beruf­li­chen Inte­gra­tion von Men­schen mit Beein­träch­ti­gun­gen. Die Bun­des­agen­tur für Arbeit berich­tet anhand der gesetz­li­chen Vor­ga­ben über die beruf­li­che Inte­gra­tion von Schwer­be­hin­der­ten. Der Anteil der Erwerbs­tä­ti­gen mit Schwer­be­hin­de­rung an der Gesamt­be­völ­ke­rung beträgt 4,5 Pro­zent. Die Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion hat in einer Befra­gung von vom Bund geför­der­ten Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen zur Diver­si­tät, die im Sep­tem­ber die­ses Jah­res erschei­nen wird, unter ande­rem auch danach gefragt, wie viele Mit­ar­bei­tende mit Beein­träch­ti­gun­gen in die­sen Ein­rich­tun­gen arbei­ten. Im Durch­schnitt beschäf­tig­ten die vom Bund geför­der­ten Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen vier Pro­zent Mit­ar­bei­tende mit Behin­de­run­gen. Damit errei­chen sie fast den oben genann­ten Durch­schnitts­wert. Die Werte unter­schei­den sich aller­dings je nach Größe der Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen beträcht­lich. Wäh­rend Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen mit einem klei­ne­ren Mit­ar­bei­ter­stab oft­mals keine Behin­der­ten beschäf­tig­ten, liegt der Wert bei den grö­ße­ren Kul­tur­ein­rich­tun­gen mit mehr als 100 Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­tern mit sechs bis zehn Pro­zent über dem Durch­schnitts­wert, was sehr posi­tiv ist. Von den befrag­ten Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen haben 27 Pro­zent einen Behin­der­ten­be­auf­trag­ten. Dar­über hin­aus haben 47 Pro­zent ange­ge­ben, dass sie eine unglei­che Ver­tei­lung mit Blick auf die Diver­si­tät von Men­schen mit Behin­de­run­gen in der Mit­ar­bei­ter­schaft sehen. Hier besteht offen­bar ein Bewusst­sein dafür, dass noch Luft nach oben ist.

In den nach­fol­gen­den Bei­trä­gen wird deut­lich, dass vor allem im Thea­ter-, Film- und Kon­zert­be­reich große Defi­zite bestehen. Men­schen mit offen­sicht­li­chen Ein­schrän­kun­gen sind nur äußerst sel­ten auf den Bret­tern, die die Welt bedeu­ten, oder vor der Kamera zu sehen. Allzu oft wer­den Rol­len, in denen es um Men­schen mit Ein­schrän­kun­gen geht, von Dar­stel­le­rin­nen und Dar­stel­lern über­nom­men, die keine Ein­schrän­kun­gen haben. Noch sel­te­ner gibt es Enga­ge­ments für Behin­derte, bei denen die Behin­de­rung keine Rolle spielt. Hier für mehr Sicht­bar­keit für die künst­le­ri­sche Qua­li­tät der Arbeit von Men­schen zu sor­gen, die auf den ers­ten Blick anders als gewohnt aus­se­hen oder sich bewe­gen, ist eine wesent­li­che kul­tur­po­li­ti­sche Aufgabe.

Das gilt auch für die künst­le­ri­sche Aus­bil­dung an Hoch­schu­len. Noch viel zu oft kön­nen Behin­derte kein Stu­dium an einer Kunst- oder Musik­hoch­schule auf­neh­men, weil die räum­li­chen Gege­ben­hei­ten oder die for­ma­len Anfor­de­run­gen es nicht zulas­sen. Auch hier ist mehr Offen­heit gefragt, um das künst­le­ri­sche Poten­zial in unse­rem Land tat­säch­lich zu heben. Ent­schei­dend ist aus mei­ner Sicht, dabei die Exper­tise von Betrof­fe­nen stär­ker ein­zu­be­zie­hen und zu nut­zen. Sie wis­sen am aller­bes­ten, wel­che Maß­nah­men und mög­li­cher­weise wel­che Unter­stüt­zung sie brau­chen, um ihr Poten­zial ent­fal­ten zu können.

Inklu­sion betrifft aber nicht nur die Mit­ar­bei­ten­den von Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen, son­dern ebenso die Nut­ze­rin­nen und Nut­zer. Hier gibt es bereits beein­dru­ckende Pro­jekte, in denen eine weite inklu­sive Öff­nung von Kul­tur­ein­rich­tun­gen erprobt wird. Doch es darf nicht bei tem­po­rä­ren Pro­jek­ten blei­ben. Der Anspruch einer Kul­tur­ein­rich­tung, für alle dazu zu sein, schließt ein, sich Gedan­ken dar­über zu machen, wie wirk­lich alle Men­schen – egal ob mit oder ohne Ein­schrän­kung – als Besu­che­rin­nen und Besu­cher will­kom­men gehei­ßen wer­den kön­nen. Diese Auf­gabe ist kei­nes­wegs tri­vial. Geht es doch auch um den Umgang mit fra­gi­len oder wert­vol­len Objek­ten, die nicht so ein­fach z. B. als Tast­ob­jekte für seh­be­hin­derte Men­schen zugäng­lich gemacht wer­den kön­nen. Geht es doch auch um bau­li­che Anpas­sun­gen, die gerade in denk­mal­ge­schütz­ten Gebäu­den gar nicht so ein­fach umzu­set­zen sind. Geht es doch auch um ein ande­res Ver­ständ­nis des Hörens, wenn schwer­hö­rige oder taube Men­schen Musik hören und vie­les andere mehr. Auch hier muss es das Ziel sein, mit den­je­ni­gen, die als Betrof­fene die Exper­tise aus eige­ner täg­li­cher Erfah­rung haben, in das Gespräch zu kom­men und gemein­sam Lösun­gen zu entwickeln.

Inklu­sive Kul­tur­po­li­tik ist nicht von heute auf mor­gen zu errei­chen, das ist mir bewusst. Sie darf aber auch nicht wei­ter auf die lange Bank gescho­ben oder aber als Nischen­thema behan­delt wer­den, denn alle Men­schen haben das glei­che Recht, Kunst und Kul­tur zu machen oder zu genießen.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2021.

Von |2021-09-02T17:17:22+02:00September 2nd, 2021|lnklusion|Kommentare deaktiviert für

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Inklu­sive Kul­tur­po­li­tik – alle Men­schen haben das glei­che Recht auf Kunst und Kultur

Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates und Herausgeber von Politik & Kultur.