Seit mehr als 25 Jahren bringt DIN A 13 tanzcompany Tänzerinnen und Tänzer mit und ohne körperliche Behinderung zusammen und macht so kontinuierlich Tanz neu erfahrbar. Die Künstlerische Leiterin und Choreografin Gerda König gibt Einblick in ihre Pionierarbeit im Mixed-abled-Tanz.
Theresa Brüheim: Frau König, Sie haben 1995 DIN A 13 tanzcompany gegründet. Wie kam es dazu?
Gerda König: Das ist eine längere Geschichte. Ich hatte das große Glück, an einem Workshop mit Alito Alessi in Köln Anfang der 1990er Jahre teilzunehmen. Er war ein Pionier der Mixed-abled-Arbeit aus den USA. Später nahm ich an einem weiteren Workshop in Bregenz in Österreich teil. Das waren meine ersten Begegnungen mit Tanz.
Ich habe Psychologie studiert und bin auf diesem Weg in den Tanz reingerutscht. Die vielen Möglichkeiten haben mich fasziniert – und auch, dass es dabei nicht um Grenzen geht. So hat alles begonnen.
Dann bin ich an der Sporthochschule Köln bei dem bestehenden semiprofessionellen Ensemble Mobiaki als Tänzerin eingestiegen. Mobiaki war damals in ganz Europa tätig, aber immer nur im Kontext von Behinderung. Wir wurden nur eingeladen, wenn es um die Thematik Behinderung ging, aber nicht um Kunst. 1995 habe ich dann mit zwölf weiteren Leuten DIN A 13 tanzcompany gegründet. Das waren Musikerinnen und Tänzer ganz unterschiedlicher Art. Wir haben zusammen angefangen zu arbeiten und wussten noch nicht, wo es hingehen wird. Wir wollten nur Tanz und Kunst machen. Und haben sehr viel experimentiert. So ist DIN A 13 tanzcompany entstanden.
Der Fokus Ihrer künstlerischen Arbeit liegt auf der Erforschung und Sichtbarmachung der Bewegungsqualität „anderer Körper“. Inwieweit hat sich seit der Gründung 1995 dieser Fokus, diese Vision weiterentwickelt?
Der Fokus liegt immer noch auf der Diversität von Körpern, der unterschiedlichen Bewegungsqualität und der Potenziale von verschiedenen Körpern im Tanz. Das verstehe ich als Bereicherung und Weiterentwicklung des zeitgenössischen Tanzes.
2004 haben wir in Kooperation mit dem Goethe-Institut angefangen, international zu arbeiten. Mir ist es sehr wichtig, dass es noch mehr Mixed-abled-Ensembles weltweit gibt. Damals gab es sehr, sehr wenige in Europa. Wir waren die Pioniere. Ich wollte das weitertragen.
Deswegen haben wir als Erstes Projekte in São Paulo in Brasilien und in Nairobi in Kenia angestoßen. Dort haben wir sowohl Tänzerinnen und Tänzer mit und ohne körperliche Behinderung gesucht als auch Musikerinnen, Bühnenbildner und alle anderen Mitarbeitenden, die man eben für eine Produktion braucht. Wir haben jeweils zwei Monate im Land selbst gearbeitet – und dabei die Basis geschaffen. So wollten wir es den Leuten vor Ort ermöglichen, danach eigenständig weiterarbeiten zu können, um eine neue Company zu initiieren. Das war der Gedanke dahinter. Hierbei ist es für mich besonders wichtig, den kreativen Prozess im Dialog mit den Künstlerinnen und Künstlern vor Ort zu führen, um neue künstlerische Ansätze zu suchen.
Für mich ist das wie eine choreografische Forschung im Kontext mit den jeweiligen kulturellen Realitäten, Traditionen, politisch bedingten und sozial geprägten Gegebenheiten vor Ort.
DIN A 13 tanzcompany zählt heute zu den weltweit führenden Mixed-abled-Tanzensembles. Was macht Ihren Erfolg aus?
Als wir anfingen, gab es das Wort „Inklusion“ noch gar nicht. Es gab nur Integration – das war aber nicht unser Fokus. Für mich war wichtig, dass es nicht darum ging, Künstlerinnen und Künstler mit Behinderung auf der Bühne zu haben, sondern den Tanz mit unterschiedlichen Menschen zu erforschen und weiterzuentwickeln. Ich wollte keine pädagogische Arbeit leisten, sondern mich mit dem Tanz auseinandersetzen. Dieser Ansatz hat viel dazu beitragen, dass wir nicht vom Mainstream aufgefressen wurden. Wir haben gefordert, ein Teil des zeitgenössischen Tanzes zu sein. Wir haben uns nicht durch kulturelle Förderung, z. B. von Aktion Mensch, fördern lassen, sondern durch Kulturinstitutionen wie die Kunststiftung NRW sowie durch Bund und Länder. Wir haben DIN A 13 tanzcompany von Anfang an als gleichwertiges Tanzformat gesehen. Insofern war immer die künstlerische Auseinandersetzung im Vordergrund. Das hat viel zu unserer schnellen Entwicklung und zum Erfolg beigetragen.
DIN A 13 tanzcompany steht für die Zusammenarbeit von Tänzerinnen und Tänzern mit und ohne körperliche Besonderheiten. Wie werden die daraus entstehenden Synergien genutzt?
Unsere Arbeit hat zu einer Veränderung der Sehgewohnheiten geführt. Der klassische Tanz, den die Mehrheit der Zuschauenden gewöhnt ist und der in Deutschland insbesondere durch das Ballett geprägt ist, wurde in dem Moment gebrochen, indem wir ein anderes Bild von Tanz und Körpern auf die Bühne brachten. Das gab es bis dato nicht. Es war alles sehr kontrovers. Unsere Inszenierungen waren anfangs auch sehr provokant. Zum Teil wollte das Publikum dies überhaupt nicht billigen. Es gab scharfe Ausgrenzungen. Aber es gab auch Zuschauende, die vollkommen begeistert waren und uns gepusht haben.
Heute ist das Bewusstsein im Publikum für unsere Arbeit ein anderes – Gott sei Dank. Die Zuschauer sind sensibilisiert. Aber der Tanz ist leider immer noch nicht da, wo er sein sollte.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft? Und was fordern Sie von Politik und Gesellschaft?
Es wäre wünschenswert, wenn die großen Festivals, Tanz- und Theaterhäuser, Kompanien wie DIN A 13 tanzcompany ins ganz normale Programm einladen würden – das sollte zum Selbstverständnis vom Kulturbetrieb gehören und nicht als besonderes Programm gesehen werden. Aber da sind wir noch nicht.
Ich wünsche mir vielmehr Sichtbarkeit und auch, dass Mixed-abled-Tanz mitgedacht wird – gerade an den großen Häusern. Außerdem wünsche ich mir, dass man mehr Möglichkeiten für ein Publikum schafft, das seh- oder hörbehindert ist. Wir brauchen mehr Access, mehr Zugänge: Auch z. B. ein blinder Mensch muss ein Tanzstück erfahren können. Dazu müssen die Voraussetzungen geschaffen werden. Das ist natürlich mit finanziellen Mitteln verbunden, die dafür bereitgestellt werden müssen. Deshalb ist es wichtig, dass der Deutsche Kulturrat sowie die Ministerien daran arbeiten, dies voranzutreiben und zu unterstützen.
Noch viel wichtiger ist es, die Ausbildung zu fördern. Tänzerinnen und Schauspieler mit Behinderung müssen besseren Zugang zu den Universitäten erhalten. Die Wege dahin wurden bisher leider überhaupt nicht geöffnet.
Im Tanz gibt es deutschlandweit immer noch keine Bildungseinrichtung, die Menschen mit körperlichen Besonderheiten die Perspektive auf eine künstlerische Tanzausbildung oder eine Laufbahn in Tanz in Aussicht stellt. Deshalb haben Sie mit DIN A 13 tanzcompany das Pilotprojekt M.A.D.E. entwickelt. Was steht dahinter?
M.A.D.E. heißt „Mixed-abled Education“ und ist, wie Sie schon sagten, ein Pilotprojekt. Es ist ein dreijähriges Ausbildungs- bzw. Weiterbildungsprogramm für Tänzerinnen und Tänzer mit und ohne Behinderung. Dreimal im Jahr werden dabei internationale Dozentinnen und Dozenten eingeladen, die intensiv mit den Teilnehmenden zusammenarbeiten. Wir sind im ersten Durchgang. Unser Ziel ist es, dass der Mixed-abled-Tanz langfristig ins Curriculum der Hochschulen für Tanz aufgenommen wird, sodass Tänzerinnen und Tänzer mit einer körperlichen Besonderheit dort Zugang erhalten.
Gleichzeitig bringt M.A.D.E. nicht nur für Tänzerinnen und Tänzer mit Behinderung Vorteile, sondern auch für Tänzerinnen und Tänzer ohne Behinderung. Sie erhalten so sehr viel Input zur Auseinandersetzung mit Körpern und Diversität, sodass künstlerisch ein anderer Zugang und physisch eine wertvolle Erfahrung erzeugt wird.
Wie kann über Projekte wie M.A.D.E. hinaus mehr Inklusion an Tanzhochschulen gelingen?
Die Hochschulen müssen sich öffnen. Tänzerinnen und Tänzer mit Behinderung müssen eine ganz normale Ausbildung erhalten. Dozentinnen und Dozenten an den Hochschulen müssen geschult werden, um sich auf die Diversität einzustellen. Von den Ministerien muss auch Druck entstehen, dass das wirklich umgesetzt wird. Es darf nicht nur beim Reden bleiben.
Innerhalb der universitären Ausbildung für alle Tänzerinnen und Tänzer mit und ohne Behinderung stellt die Arbeit in Mixed-abled-Ensembles eine Weiterentwicklung und Bereicherung dar, von der jeder im künstlerischen, ästhetischen und physischen Sinne profitieren kann.
Vielen Dank.
Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.