Dora ist kein typischer Großstadtflüchtling. Sie ist nicht hergekommen, um sich mithilfe von Biotomaten zu entschleunigen.« – So führt Juli Zeh die Protagonistin ihres neuen Romans „Über Menschen“ ein. Mit nur einem Satz zeichnet die Autorin ein klischeebeladenes Porträt nah an der Karikatur und gerade deshalb so treffend.
Eben ist Dora allein und nur mit ihrer Hündin, genannt Jochen der Rochen, in das fiktive Dorf Bracken in der brandenburgischen Prignitz gezogen: „Ein typisches ostdeutsches Straßendorf. In der Mitte eine Kirche mit Dorfplatz. Bushaltestelle, Feuerwehr, Briefkasten. 284 Einwohner. Mit Dora 285 … “ Zuvor lebte sie in Berlin-Kreuzberg, arbeitete in einer Kommunikationsagentur, die sich nachhaltigen Themen verschrieben hatte, und wohnte in einer 2-Zimmer-Wohnung gemeinsam mit ihrem Aktivistenfreund, der zuerst Greta-Thunberg-Jünger war und dann zum Corona-Apokalyptiker mutierte – Corona bildet die Kulisse des Buches, ohne selbst handlungstreibend zu sein.
Schon lange war Dora das alles zu viel, nicht erst seit dem Lockdown. Also nimmt sie all ihr Erspartes und kauft ein Haus in Bracken – nicht wissend, dass dieses direkt neben dem Anwesen des selbst ernannten Dorf-Nazis liegt. Über die Zeit entwickelt sich trotz aller Abneigungen und Unterschiede eine Freundschaft zwischen Dora und ihrem ungleichen Nachbarn: Er hilft ihr in Haus und Garten; sie begleitet ihn auf seinen letzten Wegen, da er todkrank ist.
Denn wie gleich zu Beginn der Dorfbewohner Tom erklärt: „In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über Menschen erheben.« Tom betreibt im Übrigen zusammen mit seinem Freund, einem Kleinkünstler, einen Blumengroßhandel, beschäftigt portugiesische Saisonarbeiter und wählt aus Mangel an Alternativen die AfD.
„Über Menschen“ ist voller Klischees, die ins Mark treffen und so gewisse Wahrheiten offenbaren. Juli Zeh beschreibt hier weder schwarz noch weiß, sondern widmet sich dem Grau dazwischen. Vorurteile werden eingerissen, denn unter Leuten kann man sich nicht so einfach über Menschen erheben.
Theresa Brüheim