„Menschen mit besonderen Fähigkeiten“ hat die Lebenshilfe Salzburg vor vielen Jahren die von ihr betreuten Menschen mit geistiger Behinderung genannt. Diese Umkehrung der bis heute zumeist verwendeten Begrifflichkeiten von „behinderten Menschen“ oder „Menschen mit Behinderungen“ hat entscheidenden Anlass dazu gegeben, eine damals geplante neue Selbstdarstellung nicht mit den Bildern eines Fotografen auszustatten. Sondern die betreuten Menschen zu bitten, selbst Fotos zu erstellen. Das Ergebnis war derart überraschend wie beeindruckend, dass nicht nur die Drucksache selbst entstand, sondern dieser gänzlich ungewohnte, eigenwillige Blick auf die Menschen in den Einrichtungen der Lebenshilfe und in ihre Umwelt zu einer viel beachteten und ausgezeichneten Ausstellung im Salzburger Rathaus wurde.
Noch heute schreibt die Lebenshilfe Salzburg in ihrem Leitbild über Normalisierung als Prinzip: „Es ist normal, behindert zu sein. Es ist aber nicht normal, von der Umwelt, von gesellschaftlichen Vorurteilen behindert zu werden.“ Und weiter: „Angebote an Unterstützung haben die Normalisierung der Lebenssituation und der Lebensbedingungen zum Ziel und tragen dazu bei, Teilnahme und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen und zu erweitern. Normalisierung bedeutet nicht Standardisierung, sondern Individualisierung. Die Angebote orientieren sich an den alltäglichen individuellen Lebenssituationen der einzelnen Menschen, deren Beteiligung, Mitbestimmung und Selbstbestimmung auf allen Ebenen sichergestellt werden muss. Mit- und Selbstbestimmung wird als Chance und als Fähigkeit gesehen, zwischen Entscheidungs- und Handlungsalternativen wählen zu können.“
Es sind komplexe Zusammenhänge, die hier verhandelt werden: Zwischen „Normalität und Abweichung, Unversehrtheit und Dysfunktion, Vollkommenheit und Fehlerbehaftung, Gesundheit und Krankheit“ – Einordnungen, die die fundamentalen Unterschiede zwischen einem rein medizinischen – oder aber einem sozialen Aspekt verdeutlichen. „Dem sozialen Modell zufolge ist nicht die Ebene der gesundheitlichen ‚Schädigung‘ entscheidend, sondern der soziale Prozess der Benachteiligung“, schreibt Tom Bieling dazu in seinem Buch „Inklusion als Entwurf“. Bieling, der am Zentrum für Designforschung der HAW Hamburg lehrt und forscht, hat sich intensiv mit dem Zusammenhang von Design und Inklusion auseinandergesetzt: Ein Rollstuhlfahrer – und mit ihm vielleicht umstehende Personen – wird sich seiner „Behinderung insbesondere meist dann bewusst, wenn sich ihm Treppen oder Bürgersteige entgegenstellen. Dinge also, die von Menschenhand geschaffen und gestaltet sind und die durch eine andere Beschaffenheit und Gestaltung den wahrgenommenen Grad einer ‚Behinderung‘ modifizieren können – etwa durch Einbau einer Rampe. Die Frage, wie Außenstehende und ‚Betroffene‘ Behinderung wahrnehmen oder definieren, ist somit zwangsläufig an Gestaltungsfragen gekoppelt.“
Design hat wesentlichen „Einfluss auf das Gesamtkonstrukt Behinderung“. Die „Körper und die zahlreichen und (nicht) zur Verfügung stehenden Artefakte ergeben gemeinsam ein System, welches uns entweder ermöglicht oder aber erschwert bzw. verweigert (behindert), gewünschte Handlungen zu vollziehen. Manifestiert in ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Konzepten, individuellen Wünschen, Vorstellungen und Interessen“ ist Design mitsamt seinen Konsequenzen, dem Gebrauch und seinen Bedeutungen ein entscheidender Faktor für eine inklusive Gesellschaft.
Drei Kompetenzfelder des Designs sind es, die nach Bieling ganz besonders dazu beitragen können, eine Kultur der Inklusion zu befördern:
Design von Inklusion
Die Gestaltung gesellschaftlicher und infrastruktureller Rahmenbedingungen, bei der es insbesondere auch darum geht, nicht einfach fassbare soziale Gruppen genauso wie Organisationen, Institutionen und natürlich Unternehmen mit den konkretisierenden, kommunikativen und prozessualen Fähigkeiten des Designs zu unterstützen. Gerade in den letzten Jahren hat „Social Design“ an Bedeutung gewonnen: die Anwendung von Designmethoden zur Lösung komplexer gesellschaftlicher Herausforderungen, wobei die sozialen Fragen im Vordergrund stehen. Dabei ist Social Design von seinen Ursprüngen auf die Rolle und die Verantwortung des Designs in der Gesellschaft und auf die Nutzung des Designprozesses zur Herbeiführung eines sozialen Wandels ausgerichtet.
Design für Inklusion
Mit der inklusiven Gestaltung von Werkzeugen, Gegenständen, Informationen, Objekten, Plattformen, Netzwerken und Systemen, also von alltagspraktischen Anwendungen, unterwirft oder entwirft Design, schafft Möglichkeiten oder engt sie ein. Das Potenzial liegt in einer möglichst universellen Verwendbarkeit von Design-
ergebnissen … genauso wie in superpragmatischen Lösungen für die Unterstützung bei einer spezifischen Behinderung. „Universal Design“ und „Service Design“ zielen auf Barrierefreiheit und Teilhabe ab … und zwar für alle Menschen!
Design durch Inklusion
In der Art, wie Gestaltungsergebnisse ganz grundsätzlich entstehen, liegt eine bis heute deutlich unterschätzte Chance für Inklusion! Die zwischenzeitliche Idee der Designerin oder des Designers als allmächtige, ausschließlich dem Markt und dem Auftraggeber verpflichtete Institution hat längst abgedankt … zugunsten einer Grundhaltung, die das Gegenüber auf Augenhöhe verortet und dem demokratischen Grundverständnis von Gleichheit und Gerechtigkeit dient. Das Design von Partizipation und Co-Creation-Prozessen, wie sie z. B. im „Design Thinking“ systemimmanent festgeschrieben sind, ermöglichen eine akzeptierte Zugänglichkeit, verdeutlichen das Potenzial der inklusiven (wie auch der exklusiven) Wirksamkeit von Design.
Diese drei Kompetenzfelder ermöglichen, beeinflussen und bedingen sich natürlich gegenseitig. Oder, um es noch einmal ganz pragmatisch zu machen: Um einen Text für Menschen mit eingeschränkten Lese- und Verständnisschwierigkeiten in Leichter Sprache zu gestalten, bedarf es nicht nur des typografischen Know-hows eines Designers bzw. einer Designerin, sondern auch der methodischen, konkretisierenden und kommunikativen Fähigkeiten von professionellen Gestaltern. Arial 14 Punkt als optimale Schriftart und -größe, wie von wohlmeinenden Linguisten zwischenzeitlich mal festgeschrieben wurde, ist die Idee eines untauglichen Universaldübels.
Es geht um die „besonderen Fähigkeiten“ jedes einzelnen Individuums oder, um mit dem Münchner Sonderling und Komiker Karl Valentin zu sprechen: „Gar nicht krank ist auch nicht gesund.“
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.