Ganz­heit­li­cher Ansatz

Die Ber­li­ni­sche Gale­rie stellt sich den Anfor­de­run­gen einer diver­si­täts­ori­en­tier­ten Kulturinstitution

Ber­lin ist gezeich­net von sei­ner Geschichte, von Erfol­gen und Nie­der­la­gen. Der Wan­del der Stadt und ihre Viel­sei­tig­keit wer­den in der Kunst sicht­bar, die die Ber­li­ni­sche Gale­rie als Lan­des­mu­seum sam­melt, erforscht und ver­mit­telt. Moderne und zeit­ge­nös­si­sche Kunst aus Ber­lin bil­den den Schwer­punkt der Dauer- und Son­der­aus­stel­lun­gen. Male­rei, Gra­fik, Foto­gra­fie und Archi­tek­tur machen das wech­sel­volle Zeit­ge­sche­hen ab 1870 für Besu­che­rin­nen und Besu­cher lebendig.

Die Ber­li­ni­sche Gale­rie gehört zu den jüngs­ten Museen der Stadt und ist ein inter­dis­zi­pli­nä­res Aus­stel­lungs­haus. Seit 2004 hat sie ihren Stand­ort inmit­ten eines Wohn­ge­bie­tes im Stadt­teil Kreuz­berg. Dort prä­sen­tiert sich die Insti­tu­tion mit einem umfas­sen­den Pro­gramm, das sich sowohl an die Nach­bar­schaft als auch die Gäste Ber­lins rich­tet. Die Umge­bung inspi­riert nicht nur die Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter, son­dern ver­pflich­tet glei­cher­ma­ßen, auf ver­schie­dene gesell­schaft­li­che Erwar­tungs­hal­tun­gen krea­tiv wie fle­xi­bel zu reagie­ren. Das Museum ver­steht sich als eine libe­rale und welt­of­fene Kul­tur­ein­rich­tung, die sich einem viel­schich­ti­gen Publi­kum zuwen­det. Von Beginn an erhebt es den Anspruch, ein Ort für alle zu sein. Spä­tes­tens nach­dem 2009 das Recht auf kul­tu­relle Teil­habe für Men­schen mit Behin­de­run­gen mit der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion gestärkt wurde, rück­ten Fra­gen nach Inklu­sion in den Fokus. Seit 2013 setzt sich die Ber­li­ni­sche Gale­rie für den Aus­bau eines bar­rie­re­freien Ange­bo­tes ein.

In Koope­ra­tion mit dem Deut­schen Blin­den- und Seh­be­hin­der­ten­ver­band und dem All­ge­mei­nen Blin­den- und Seh­be­hin­der­ten­ver­ein Ber­lin ist es 2017 gelun­gen, als ers­tes Kunst­mu­seum in Deutsch­land die Dau­er­aus­stel­lung für Men­schen mit Seh­be­ein­träch­ti­gun­gen umzu­ge­stal­ten. Über zwei Jahre wurde ein Rund­gang ent­wi­ckelt, bei dem die Kunst mit meh­re­ren Sin­nen ent­deckt wer­den kann. Tast­mo­delle und Hör­sta­tio­nen ver­mit­teln ein mul­ti­sen­so­ri­sches Erleb­nis der bis­lang visu­ell aus­ge­rich­te­ten Samm­lungs­prä­sen­ta­tion. Für einen eigen­stän­di­gen Aus­stel­lungs­be­such ste­hen Weg­be­schrei­bun­gen zum Museum, ein Tast­plan sowie ein tak­ti­les Boden­leit­sys­tem zur Ver­fü­gung, die in Kom­bi­na­tion mit einem Audio­guide den Besu­che­rin­nen und Besu­chern Ori­en­tie­rung geben. Mit­tels auto­ma­ti­scher Aus­lö­sung erhal­ten diese über ihr Smart­phone nütz­li­che Hin­weise zum Gebäude sowie Werk­in­for­ma­tio­nen und aus­führ­li­che Bild­be­schrei­bun­gen. Die Qua­li­tät des bereit­ge­stell­ten Ange­bots ist dem Enga­ge­ment blin­der und seh­be­hin­der­ter Akteu­rin­nen und Akteure zu ver­dan­ken, die das Pro­jekt von Anfang an mit ihren Exper­ti­sen beglei­tet haben. Damit kommt die Ber­li­ni­sche Gale­rie der For­de­rung der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion nach, Fokus­grup­pen in sämt­li­che Vor­gänge ein­zu­be­zie­hen, die sie betreffen.

Es gibt dar­über hin­aus ver­schie­dene Pro­jekte, die das Ziel ver­fol­gen, einen Per­spek­tiv­wech­sel inner­halb der Insti­tu­tion anzu­re­gen: Inklu­siv ange­legte Work­shops, Tast­füh­run­gen sowie Ange­bote mit Deut­scher Gebär­den­spra­che laden dazu ein, sich auf unter­schied­li­chen Ebe­nen der Kunst anzu­nä­hern. Gleich­zei­tig ermög­li­chen Tast­mo­delle, Texte in Groß­druck oder digi­tale Anwen­dun­gen eine gleich­be­rech­tigte Teil­habe von Men­schen mit und ohne Behin­de­run­gen im Museum. Die For­mate wer­den – mit Unter­stüt­zung durch die Ber­li­ni­sche Gale­rie – von Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­tern unter­schied­li­cher Com­mu­ni­ties ent­wi­ckelt und regel­mä­ßig durch­ge­führt. Die Koope­ra­tio­nen bewir­ken, dass Per­so­nen von außen ihre Ideen ein­brin­gen, Mecha­nis­men des Muse­ums­be­triebs hin­ter­fra­gen und aktiv das Gesche­hen beein­flus­sen. Im Vor­der­grund ste­hen hier­bei die Zusam­men­ar­beit mit und die Selbst­er­mäch­ti­gung von mar­gi­na­li­sier­ten Grup­pen, deren Belange sel­ten in grö­ße­ren Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen Beach­tung fin­den. Im Rah­men des Resi­denz-Pro­gramms „Stand­ort­wech­sel“ wur­den bei­spiels­weise 2019 Künst­le­rin­nen und Künst­ler der Kunst­werk­statt Kreuz­berg der Lebens­hilfe Ber­lin ein­ge­la­den, über ein Jahr hin­weg im Museum künst­le­risch tätig zu sein. Es ent­stan­den Arbei­ten, die in einer mit den Teil­neh­men­den kura­tier­ten Aus­stel­lung in der Ber­li­ni­schen Gale­rie zu sehen waren. In die­ser Zeit konn­ten Bezie­hun­gen ein­zel­ner Per­so­nen zum Museum geknüpft und mit den Mit­ar­bei­ten­den aus­ge­baut wer­den. Bereits seit 2017 koope­rie­ren die Künst­le­rin­nen und Künst­ler mit dem Lan­des­mu­seum. Den Aus­gangs­punkt bil­det eine gemein­sam kon­zi­pierte Tan­dem­füh­rung in ein­fa­cher Spra­che, die vier­tel­jähr­lich in der Dau­er­aus­stel­lung statt­fin­det. Dar­über hin­aus setzt die Gruppe ihre künst­le­ri­sche Tätig­keit im Museum fort und ist damit ein anschau­li­ches Bei­spiel für eine lang­fris­tig, inklu­siv aus­ge­rich­tete Kollaboration.

Die Ber­li­ni­sche Gale­rie muss sich den gestie­ge­nen Anfor­de­run­gen einer diver­si­täts­ori­en­tier­ten Kul­tur­in­sti­tu­tion stel­len. Hier­für bedarf es eines ganz­heit­li­chen Ansat­zes, der sich über alle Berei­che der Insti­tu­tion erstreckt. Seit 2018 gibt es eine Kura­to­rin für Out­reach und einen Refe­ren­ten für Bar­rie­re­frei­heit und Inklu­sion. Ihre Auf­ga­ben sind es, sowohl Netz­werke auf­zu­bauen als auch die Zugäng­lich­keit zum Museum und sei­nem Pro­gramm zu beför­dern. Ihre Bemü­hun­gen einer Erwei­te­rung des Publi­kums setzt die Aus­ein­an­der­set­zung des Hau­ses mit den eige­nen Struk­tu­ren, Abläu­fen und Aus­schlüs­sen vor­aus. Alle Ver­än­de­run­gen hin­sicht­lich eines gleich­be­rech­tig­ten Kul­tur­er­leb­nis­ses lie­gen einem lang­wie­ri­gen und klein­tei­li­gen Pro­zess zugrunde, dem sich die Ber­li­ni­sche Gale­rie unterzieht.

Wenn Museen sich selbst eine inklu­sive Arbeits­weise und einen inklu­si­ven Ethos auf­er­le­gen, stellt es diese vor große Her­aus­for­de­run­gen. Das ist auch in der Ber­li­ni­schen Gale­rie zu beob­ach­ten, wenn es darum geht, ver­traute Abläufe und bis­he­rige Dar­stel­lungs­wei­sen zu über­den­ken. Die Berück­sich­ti­gung einer kon­trast­rei­chen Farb­ge­stal­tung, die Bereit­stel­lung roll­stuhl­ge­rech­ter Vitri­nen oder Tast­mo­delle in direk­ter Nähe zum Ori­gi­nal inmit­ten von Aus­stel­lungs­räu­men wer­den inzwi­schen zuneh­mend als not­wen­dige Maß­nah­men aner­kannt. Dabei müs­sen jedoch kon­ser­va­to­ri­sche Aspekte zum Erhalt der Kunst bedacht und abge­wo­gen wer­den: Kunst­ob­jekte kön­nen Scha­den neh­men, wenn diese berührt wer­den. Eine dau­er­hafte und gleich­mä­ßige Aus­leuch­tung stellt ein Risiko für Arbei­ten auf Papier dar. Die Bereit­stel­lung von Infor­ma­tio­nen auf unter­schied­li­chen Sprach­ni­veaus gleich­be­rech­tigt neben den übli­chen Aus­stel­lungs­tex­ten ist für viele unge­wohnt und sorgt für Befrem­den. Wie las­sen sich wider­spre­chende Bedürf­nisse in Ein­klang brin­gen, wenn in etwa für Roll­stuhl­nut­ze­rin­nen und – nut­zer eine gewisse Vitri­nen­höhe erfor­der­lich ist, aber diese so für kleine Per­so­nen nicht mehr erreich­bar sind?

Anhand die­ser weni­gen Bei­spiele wird deut­lich, wie kom­plex die Abstim­mungs- und Aus­hand­lungs­ver­fah­ren zwi­schen allen Betei­lig­ten sind. Hier­für braucht es viel Zeit sowie per­so­nelle und finan­zi­elle Res­sour­cen, um sich gemein­sam sol­chen detail­lier­ten Fra­gen zu stel­len. Dabei lohnt es sich, das Museum für Zugangs- und Ver­mitt­lungs­for­men im Design für alle zu öff­nen. Diese haben grund­le­gende Aus­wir­kun­gen auf die Begeg­nung ver­schie­de­ner Grup­pen und Bedarfe sowie die sinn­li­che Erfahr­bar­keit von Kunst.

Die­ser Text ist zuerst erschie­nen in Poli­tik & Kul­tur 09/2021.

Von |2021-09-02T17:03:07+02:00September 2nd, 2021|lnklusion|Kommentare deaktiviert für

Ganz­heit­li­cher Ansatz

Die Ber­li­ni­sche Gale­rie stellt sich den Anfor­de­run­gen einer diver­si­täts­ori­en­tier­ten Kulturinstitution

Andreas Krüger ist Referent für Barrierefreiheit und Inklusion an der Berlinischen Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur.